Ein Neunundzwanzigster Februar - Mit einer begehbaren Installation startet die Leipziger Schaubühne Lindenfels in eine neue Ära
Ein Abend absoluter Anwesenheit
von Tobias Prüwer
29. Februar 2012. "Ein Neunundzwanzigster Februar": Der Titel der Inszenierung ist reichlich assoziationsfrei. Auch wenn die Fetzen einer gesummten Hank-Williams-Melodie nach einer Stunde verklungen sind, fragen sich die vier Zuschauer, welchem faszinierend stillen Spektakel sie eigentlich beigewohnt haben. Dezentral auf verschiedene Boxen verteilt, besitzen die vereinzelten Besucher aktiven Teilnehmerstatus, müssen partizipieren, ehe sie zum Finale zusammenkommen. Dass das nicht öde, gewollt oder blamabel wird, ist die große Überraschung des Abends, der als programmatischer Auftakt eine neue Zeit an der Schaubühne Lindenfels in Leipzig einleiten soll.
Die Schaubühne Lindenfels ist ein 1876 eröffneter Vergnügungsbetrieb, der nach etlichen Zwischennutzungen seit 1993 zu einem Hort der Kultur ausgebaut wurde. Theater war von Anfang an dabei, konnte sich hier aber von Gastspielen abgesehen nicht dauerhaft etablieren. Das soll sich ändern: Seit Januar ist Frank Heuel, Regisseur des Bonner Fringe Ensembles, als Mitglied der künstlerischen Leitung dafür verantwortlich, das Thema Theater in der Schaubühne ins Zentrum zu rücken. Das einstige Jugendstilballhaus, das überwiegend mit Konzerten und Filmen bespielt wird, will selbst zum Produktionsort werden. Ein freies, lose am Haus verankertes Ensemble soll zwei bis drei Eigenproduktionen jährlich stemmen. Besondere Raumsituationen und die Einbeziehung des Publikums sind dabei laut Ankündigung konzeptionell anleitende Elemente.
Bei Wein, Käse und Brot
Konsequenterweise gestaltet sich die Ouvertüre "Ein Neunundzwanzigster Februar" unter Heuels Regie als begehbare Installation. Mit Schildern als fiktive Personen Peter, Paul, Andreas und Claudia gekennzeichnet, betreten die Zuschauer – nur vier pro Durchlauf sind zugelassen – nacheinander jeweils allein den stillen Saal. Nur fünf aufgereihte Boxen mit geschlossenen Türen sind zu sehen. Nach einigem Warten in der Leere geht an einer Box ein grünes Licht an, der Gast darf eintreten. Auf ihn wartet eine auf einem Bett sitzende junge Frau. Edward Hoppers Gemälde "Hotel Room" hängt an der Wand und in genau solch blass-pastellener Schwere ist das Interieur der Box gehalten. Das sei ein Raum der Stille, erklärt die Frau. Sie berichtet von sich, stellt dann dem Besucher Fragen. Dieser wird an Nullpunkt des Theaters versetzt: das Geschichtenerzählen.
Daraus entspinnt sich ein Dialog über die Stille, der jäh unterbrochen und in einer anderen Box mit einem anderen Schauspieler und einer anderen Geschichte fortgesetzt wird. Über William Faulkners Roman "Als ich im Sterben lag" nimmt der Performer an einer Beinschiene fummelnd den Wortwechsel wieder auf, der nun von Schicksalsschlägen handelt. Auch dieser endet abrupt. Das Zuschauerquartett wird in die Kellerräume geleitet und tauscht sich bei Wasser und Wein, Käse und Brot über die erlebten Fragmente aus. So setzt erneut das Geschichtenerzählen ein, dieses Mal zwischen Peter, Paul, Andreas und Claudia. Wir alle spielen Theater? In den anderen, unbesuchten Boxen wartet, so erfährt man nun, der Film "Pierrot le fou" (Jean-Luc Godard) darauf, mit eigenen Erfahrungen angereichert zu werden; eingerahmt von intimem Licht würde eine Dame beim Tee gern über psychische Abgründe plaudern.
Ereignisloses Ereignis
Noch ehe sich das Zuschauerkollektiv in seiner neuen Rolle des Alleinunterhalter-Quartetts eingerichtet hat, wird es zu einer kleinen Bühne geführt, auf der alle Schauspieler als Chor auftreten. Dieser bleibt in seiner losen Formierung ebenso dezentral wie die szenischen Häppchen zuvor. Die Darsteller, mit denen man zuvor noch Zeit in intimer Situation verbrachte, sind nun in den Theaterrollen zu sehen, auf die sie sich in den Boxen offenbar vorbereitet haben. Mascha (Tschechow: "Drei Schwestern") und Medea, Godards Ferdinand und Cash aus Faulkners Roman sinnieren über Liebesunglück, beklagen Unwuchten im Leben und fordern das Schwert.
Kurz stimmt der zerfaserte Chor Hank Williams an, dann endet dieser Abend absoluter Anwesenheit. In einer knappen Stunde erlebt der Zuschauer eine aufs Höchstmaß verdichtete Theatersituation fern vom Mitmachtheater und seinem Gruppendruck. Die Fallhöhe eines solchen Ansatzes ist hoch, doch er gelingt. So auf den Punkt gebracht, fällt die intime Beziehung zu den Darstellern aus, nichts Peinliches oder Zwanghaftes haftet ihr an. Natürlich ist diese zwischenmenschliche Ebene eine vorgespielte. Allerdings sind Setting und Timing so gut abgestimmt, agieren die Darsteller derart behutsam, dass man sich als Zuschauer dieser Situation ob der niedrigschwelligen Manipulation öffnet. So entsteht ein stoffarmes Gebilde, das in seiner berührenden Unmittelbarkeit trotz des Widerspruchs treffend als ereignisloses Ereignis bezeichnet werden muss.
Ein Neunundzwanzigster Februar
Konzeption: René Reinhardt, Frank Heuel, Elisabeth Schiller-Witzmann
Regie: Frank Heuel
Mit: Laila Nielsen, Sophie Lutz, Johannes Gabriel, David JekerRaum: Elisabeth Schiller-Witzmann
www.schaubuehne.com
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
- 11. September 2024 Saša Stanišić erhält Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >