Das Evangelium Ost nach Lukas

21. Januar 2024. Lukas Rietzschel, viel beachteter Romanautor und Dramatiker, hat für das Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau ein neues Stück geschrieben. Einmal mehr vermisst er ostdeutsche Erfahrungen, Haltungen, Stimmungen. Ingo Putz arrangiert das Drama in Unschuldsweiß.

Von Michael Bartsch

"Das beispielhafte Leben des Samuel W." von Lukas Rietzschel in Zittau © Pawel Sosnowski

21. Januar 2024. Das Reinweiß der Ausstattung alarmiert die Zuschauer, so unglaubwürdig wirkt es. Im besten Fall noch deutbar als die Besiedlung, Eroberung eines jungfräulichen Ortes, einer terra incognita, eines weißen Flecks auf der Landkarte. "Wir bauen eine neue Stadt", heißt es, und wenn dann noch das Stichwort "Kohle" beim Hochziehen eines weißen Hauses fällt, denkt man spontan an Hoyerswerda-Neustadt.

Wer ist Samuel W.?

Die Gewöhnlichkeiten, die das Ensemble vorführt – Hausbau, Pooleinrichtung, Kinderkriegen, Zaunstreichen, Würstchengrillen – haben etwas steril Spießiges, so dass man der gleichfalls assoziierten Unschuld der Szene misstrauen muss. Ein Krankenhausweiß. Was diese Post-Kohl-Weißlinge an Erinnerungen austauschen, kollidiert denn auch erwartungsgemäß mit der demonstrativen Makellosigkeit. Ihre Berichte formen nicht nur das Bild des Bürgermeisterkandidaten Samuel W., sie skizzieren mit dessen Werdegang auch rund vierzig schmutzbehaftete deutsch-deutsche Jahre. Die schimmern eher rötlich-bräunlich-bläulich als klinikweiß.

Ein alltägliches Leben ganz im Unschuldsweiß © Pawel Sosnowski

Auch in diesem Auftragswerk des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau bleibt sich der kaum dreißigjährige Lukas Rietzschel treu. Wie schon in seinen Romanen und vor allem im Leipziger Theaterfilm sowie der Bautzener Inszenierung von "Widerstand" geht er den Wurzeln der heutigen nihilistischen "Alles Scheiße"-Mentalität und der destruktiven Meckersucht auf den Grund. Anhand von Einzelschicksalen spürt er eingebrannten Prägungen und deren unbewältigten Kollisionen mit galoppierenden gesellschaftlichen Veränderungen nach. Vor allem im Transformationsgebiet Ost. Seine Erklärungsansätze für den von rechts anrollenden Tsunami, der momentan eine unerwartet hohe Zahl von Dammbauern alarmiert, rechtfertigen diesen aber keinesfalls.

Die Beispielfigur nennt Rietzschel in seinem Stück "Samuel W.", Bürgermeisterkandidat einer lange nicht genannten Partei in einem ungenannten Ort. Wer 2019 den Wahlkampf um das Oberbürgermeisteramt in Görlitz verfolgt hat, wo der Autor seit Jahren lebt, weiß, dass das Original Sebastian Wippel heißt, in Görlitz geboren und in Niedersachsen zum Polizeikommissar ausgebildet wurde und heute für die AfD im Sächsischen Landtag sitzt. Im ersten Wahlgang lag er damals vorn, im zweiten konnte ihn der breit unterstützte CDU-Kandidat Octavian Ursu abfangen.

Volkes Stimme über einen AfD-Bürgermeisterkandidaten

Der Autor nähert sich dieser eigentlich intellektuell und rhetorisch blassen Wippel-Figur indirekt mit Methoden der Oral History, also mittels einer opulenten Sammlung von rund hundert Interviews mit Görlitzern, die Wippel kennen. "Samuel W." taucht nie persönlich auf, wird nur von Elise de Heer permanent auf einem zentralen Podest stehend wie ein Heros im Ausprobieren kämpferischer Gesten imaginiert. Die erinnern in manchen Momenten an Lenin.

Ob er sich angesichts häufiger persönlicher Anfeindungen hinter solchen quasijournalistischen Volksrecherchen verstecke? Nein, antwortet Lukas Rietzschel und legt Wert auf die künstlerische Bearbeitung dieser oft mehrstündigen Gespräche. Gleichwohl entsteht der Eindruck, dass er seine persönliche Haltung noch mehr zugunsten von Authentizität zurückgenommen hat als zuvor. Seine Erkenntnisse findet man in einem Interview von Dramaturg Martin Stefke mit dem Autor im Programmheft, das jedem Besucher und Rezensenten vorab zur Lektüre empfohlen sei. Beispielsweise die These, dass der auf den darwinistischen Existenzkampf des Einzelnen setzende Neoliberalismus auch das Vertrauen in den Staat aufgelöst habe.

DDR-Kult und Entzauberung

Das Stück löst sich allmählich von seiner biografisch-chronologischen Anlage. Der DDR-Prägungen des Kandidaten und viele seinesgleichen betreffende erste Teil verdient Kritik. Rietzschel lässt seine Informanden manches Klischee kolportieren, um den erneut auflebenden DDR-Mythos zu entzaubern. Etwa die konsequente Entnazifizierung oder die Rolle der ach so geschundenen Ostfrauen im Multitasking betreffend. Ähnliches gilt für den West-Kolonialismus 1990 bis 2024, wobei vieles an Bestsellerautor Dirk Oschmann erinnert. Was ist hier Einzelerfahrung, was kollektivierbar?

DasbeispielhafteLeben2 PawelSosnowskiBau auf, bau auf. Oder ist's die Abrisstruppe der Demokratie? © Pawel Sosnowski

Schauspielleiter und Regisseur Ingo Putz hebt einen drohenden Historikerstreit und den Berichtcharakter vieler Äußerungen geschickt in unterhaltsamer Aktion auf. Die Akteure, getrost AfD-nahen Kreisen zuzuordnen, bewegen sich im Zirkel der Normalitäten. Trinken Bier, schieben Kinderwagen, streichen Zäune, schmusen mit einem etwas kitschig dem Pool entsprungenen weißen Delphin.

Menetekel für drei Ost-Schicksalswahlen

Im letzten Drittel nehmen Text und Inszenierung Fahrt auf, entsteht aktuelle politische Brisanz. Zweifel am Fortschrittsglauben, Sehnsucht nach der "alten Ordnung". Blieb lange vieles codiert, gar metaphorisch, tauchen nun Klarnamen auf. Sorge um die Demokratie. Ein Seitenhieb der Genugtuung, dass dies kein Stück von Ferdinand von Schirach sei, in dem "das Volk" abstimmen könne.

Der gerade wegen seiner Klugheit bescheidene Lukas Rietzschel zog einmal mehr das deutsche Feuilleton nach Zittau. Bemüht um die Erkenntnis des Ossis, des unbekannten Wesens, hat das Evangelium nach Lukas Gewicht. Umso mehr, als sein unaufgeregtes Stück als paradigmatisch für die anstehenden Schicksalswahlen in der "Zone" gelten kann.

Das beispielhafte Leben des Samuel W.
von Lukas Rietzschel
Uraufführung
Regie: Ingo Putz, Ausstattung und Videos: Sven Hansen, Dramaturgie: Martin Stefke.
Mit: Martha Pohla, Sabine Krug, Paul-Antoine Nörpel, David Thomas Pawlak, Marc Schützenhofer und Elise de Heer.
Premiere am 20. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.g-h-t.de

 

Kritikenrundschau

Kurz, aber vor allem kurzweilig sei der Abend, so Matthias Schmidt bei MDR Kultur (22.1.2024). Auf der Bühne sei ein "dichtes, erstaunlich reichhaltiges Kondensat der jüngsten Geschichte" zu erleben, das von den "Verwundungen" erzähle, die diese Zeit vielen zugefügt habe. Es gelinge dem Autor, die Erinnerungen "abzuklopfen auf die Folgen, die sie bis heute haben könnten – auch politisch". Nichts an Stück und Inszenierung sei "vordergründig so etwas wie politische Bildung oder gar Agitation", sondern hier werde zum Dialog angeregt. "Man spürt regelrecht, wie einzelne Sätze im Publikum ankommen, wenn Leute sich wiedererkennen." Ingo Putz' Inszenierungsidee sei simpel und wirkungsvoll. Im abstrakten Weiß werde jede*r "woanders dunkle Flecke auf der weißen Weste sehen – das ist das Prinzip". Gesehen hat Schmidt "eine überzeugende Inszenierung", die auch "von den großen und den kleinen Fragen unserer Demokratie" handle.

"Ein reizvolles Puzzle" sei die Zusammenstellung von Meinungen über und Erinnerungen an Samuel W., schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (22.1.2024). Man erfahre von Samuels früher Dominanz, seinen politischen Anfängen im "Ausbildungsbetrieb" FDP und – "brandaktuell diese Volte" – vom Rückzug seiner Kandidatur, um Innenminister zu werden. In seiner Inszenierung lockere Ingo Putz die Szenen auf und zeige ein "Wunschbild oder gar erträumtes Bürgerideal" – "eitel Sonnenschein. Ein harter Kontrast zur zerrissenen Gesellschaft", so Kasselt. Ein Problem habe der Abend: Als Zuschauer*in könne man sich weder mit einer Figur identifizieren noch sich von ihr distanzieren, denn auf der Bühne "agieren keine Charaktere, sondern Ideenträger". Aber die Meinungen stünden zur Debatte und regten zum Mit- und Nachdenken an. "Und das ist nicht wenig. Der starke Beifall des Publikums beweist es."

"Der Text ist bewusst als Collage gehalten, seine Umsetzung durch Schauspieldirektor Ingo Putz wechselt zwischen kabarettistischem Klamauk und berührenden Szenen", so Michael Ernst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.1.2024). "Was Lukas Rietzschel in seinen vielen Gesprächen eingefangen hat, wird auf der Bühne von einem äußerst agilen Quintett wiedergegeben, das ohne feste Rollenzuweisung agiert, sich aber als biederes Ehepaar, feiste Nachbarin und bodenständig grummelnde Arbeiter zu erkennen gibt." Die Uraufführung scheine perfekt auf das Wahljahr 2024 einzustimmen.

 

 

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