Furzend die Zeit verformen

von Leopold Lippert

Graz, 24. Oktober 2014. Zu Beginn stottert die Technik gewaltig. Das Licht im Saal geht aus, dann wieder an. Nach ein paar Sekunden ist es erneut dunkel. Aus den Boxen tönt kratzige Musik, bricht ab, läuft ein paar Takte weiter. Wieder Licht im Saal. Verwunderte Blicke im Publikum. Die enorme Theatermaschine, die Viktor Bodó während der nächsten zwei Stunden zum Schnurren bringen wird, braucht eben eine Weile, bis sie warmläuft. Schließlich hebt sich der Vorhang und gibt den Blick auf eine Hotelrezeption frei, die Details freilich als Trompe-l'œil: Es kann losgehen.

Trashiges Thriller-Genretheater

Bodó hat während der Intendanz Anna Badoras Jahr für Jahr Stücke am Grazer Schauspielhaus inszeniert: Peter Handkes wortloses Die Stunde da wir nichts voneinander wussten etwa wurde 2010 zum Theatertreffen eingeladen; in der letzten Saison hat er in der Tanzrevue Das Ballhaus ein Jahrhundert österreichisch-ungarischer Geschichte musikalisch nachvollzogen. "Motel", das der Regisseur gemeinsam mit András Vinnai verfasst hat, basiert lose (sehr lose!) auf Harold Pinters Einakter "The Dumb Waiter". Das Stück wurde schon 2003 in Budapest uraufgeführt, für das Grazer Schauspielhaus aber erheblich umgeschrieben – wohl auch im Hinblick auf das üppigere Budget. Die Neuinszenierung ist eine Art Kontrastprogramm zu Wes Andersons jüngstem Film The Grand Budapest Hotel: Während Andersons Kamera sich am morbid-gemütlichen und höchst theatralen Charme des alten k.u.k. Gemäuers gar nicht sattsehen kann, ist "Motel" trashiges und augenzwinkernd gewalttätiges Thriller-Genrekino, als Theater verpackt.

hotel 560 lupispuma u  Schöne Sauerei? Trottel-Killer im "Motel"  © Lupi Spuma

Furz-Skandale

Man könnte Bodó einiges übel nehmen an dieser Inszenierung: Das Proseminarhafte, mit dem er Metaebene über Metaebene schiebt, und Autor, Figuren, den Autor als Figur, und schließlich sogar das Publikum in einen Kampf um die Deutungshoheit des Texts verwickelt. Die ungebrochene Lust am Klischee, die ihn am Ende seines Handlungswirrwarrs die meterhohen Kulissenteile in den Schnürboden heben lässt, nur um zu zeigen: Da ist wirklich nichts dahinter! Den immergleichen Slapstick, mit dem hier gestolpert, gefurzt, gekreischt, geschminkt, gefickt, und schließlich gemordet wird, dass das Blut nur so spritzt. Die Chuzpe, ein "Manifest!" auf die Zuschauerreihen herabregnen zu lassen, auf dem allen Ernstes verkündet wird: "Uns langweilt das lineare Geschichtenerzählen!" Und schließlich die Selbstverliebtheit, einen Schauspieler als Rentner mit Einkaufswagen über die Bühne zu hetzen, der sich – Achtung Ironie! – lauthals empört: "Unglaublich, was auf österreichischen Provinzbühnen alles passiert!"

Und es passiert ja auch tatsächlich einiges in diesem Motel im Nirgendwo, in dem plötzlich jede Menge Gäste erscheinen, weil der Direktor (Stefan Suske) ein Straßenschild geschickt umgedreht hat ("Jetzt sind wir die Hauptstadt!"): Da kommen zwei Auftragskiller vom Typ der Doofe und der Blöde (Jan Thümer und Sebastian Reiß), die immer die Falschen umlegen und dann selbst in Panik geraten (die Aufträge kommen in Gedichtform, da kann man sich schon mal irren); da sind ein Autor in beiger Wollweste (schon wieder Stefan Suske) und ein Rezeptionist im weißen Feinrippunterhemd (Thomas Frank), die auf der Schreibmaschine um die Wette tippen, und darüber streiten, wer von beiden die Handlung weitertreiben darf; ein sadistisches junges Schnöselpärchen (Pál Kárpáti und Kata Bach) im Dauerstreit; ein notgeiler Lastwagenfahrer (Franz Xaver Zach); und schließlich eine Gruppe Blödelungarisch sprechender Labormenschen in weißen Mänteln mit großen Spritzen, die versuchen, die so geheimnisvollen wie unverständlichen Sentenzen des an einen Stuhl geketteten "Doktor Handkes" (András Vinnai) zu dekodieren.

Die Zeit in Schleifen biegen

Der konkrete Handlungsverlauf ist dabei eher nebensächlich und nicht wirklich vollständig zu erschließen. Aber darum geht es Viktor Bodó auch nicht: In dem opulenten, mehrteiligen Drehbühnenbild (Hotelzimmer, Rezeption, Straße) von Hanna Penatzer will er hauptsächlich zeigen, was das Theater kann, und vor allem: wie schnell und wie gleichzeitig es das alles kann. Die Schauspieler spulen schier unendliche Bewegungsabläufe ab, schneiden stereotype Grimassen, wechseln blitzschnell Kostüme, und finden trotz stetig zunehmendem Tempo immer noch die Zeit, zwischendurch ein Liedchen zu trällern. Dazu kommen Videoprojektionen, Schattenspiele, Soundeffekte, Theaternebel, Schnee und jede Menge Blut, Windmaschinen, altmodische Täuschungseffekte (Hand absägen!), blitzschnelle Beleuchtungswechsel, Voice-over, und schließlich das Öffnen des Bühnenraums bis zur Feuermauer, bis zur Straße.

Man hat alles an diesem Abend irgendwo schon mal gesehen, aber wohl noch nie alles zugleich. Die rasante Körperlichkeit ist beeindruckend, und die Choreographie gewitzt und immer präzise. Bei all dem Tempo spielt Bodó sehr genau mit der Verformbarkeit der Zeit: Er zerdehnt sie, beschleunigt sie, biegt sie zu Schleifen, und dreht sie schließlich Chiasmus-artig gegen sich selbst. Letztlich leidet die Inszenierung aber an dem alten Problem der Überforderung: Erst packt sie einen, dann ermüdet sie. Denn wovor sich Bodó drückt, ist der Blick aufs größere Ganze, ist das In-Bezug-Setzen seiner grandiosen, aber dann eben doch nur aneinandergereihten szenischen Einfälle. Und so gilt auch für "Motel", was für das Serielle generell gilt: Bezaubernd und lähmend liegen sehr nahe beieinander.


Motel
von András Vinnai und Viktor Bodó
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Hanna Penatzer, Kostüme: Krisztina Berzsenyi, Komposition: Klaus von Heydenaber, Sound- und Tondesign: Gábor Keresztes, Videodesign: András Juhasz, Dramaturgie: Anna Veress und Veronika Maurer.
Mit: Thomas Frank, Stefan Suske, Evi Kehrstephan, Nóra Rainer-Micsinyei, Pál Kárpáti, Zoltán Szabó, Niké Kurta, Katharina Paul, Dániel Király, András Vinnai, Kata Bach, Franz Xaver Zach, Sebastian Reiß, Jan Thümer, Péter Tóth.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

Am Schluss gerät "das fantasievolle, rasant gespielte Stück" für Norbert Mayer von der Presse (26.10.2014) gar "außer Rand und Band". Der sich hier entspinnende Autorenschaftsstreit sei "der metalogische Höhepunkt eines von absurden Ideen sprühenden, in der Musik und der Bewegung ebenfalls stets variantenreichen Abends". Die Aufführung lasse "keine Fadesse aufkommen". Man könne kaum glauben, "dass nur 15 Schauspieler aus Graz und von der Szputnyik Shipping Company Budapest diese Fülle an Figuren verkörpern." Was uns das Ganze sage? "Die tiefere Bedeutung ist wohl: Theater darf ungeheurer Spaß sein." Die beiden Ensembles seien "gut aufeinander eingestellt, vor allem eben in der Komödie". Das Timing stimme von Anfang an, "allenfalls kann man Wiederholungszwang kritisieren, der dann zu einer Übertreibung der Übertreibung führt. Alles in allem aber spielt Bodó in dieser frechen Inszenierung seine Stärken aus. Dieses Schauspiel ist lebhaft, angstfrei und von angenehmer Leichtigkeit."

"Motel" unterlaufe "alle Erwartungen an das dramatische Erzählen, legt Handlungsfäden aus, die nie wieder aufgenommen werden, fängt vieles an, bringt nichts zu Ende", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (26.10.2014). Darüber hinaus sei es "Mitmachtheater. Es ist grauenvoll. Aber all das muss man sich erst einmal trauen: zwei Stunden purer Schabernack, eine fröhliche Übung in Sachen Publikumsenttäuschung, vollgeräumt mit Referenzen an Film Noir, Slapstick, Horror." Im Affentempo jage das Stück "durch 70 Jahre Popkultur, lustvoll geht man verloren in diesem Dickicht aus Anspielung, Hommage, Parodie. Das Theater, die große Illusionsmaschine, sie wird hier scheppernd demontiert, zugleich ist 'Motel' eine überdrehte Liebeserklärung an die alten Damen Thalia und Melpomene."

"Fix sind an diesem Abend nur dauernde Brüche: zwischen Genres, Musikstilen und Epochen", schreibt Colette M. Schmidt in Der Standard (online am 29.10.2014). Am Ende habe man "fast alles gesehen: Slapstick, Film Noir, Splatter und Horror". Man habe sich keine Sekunde gelangweilt. "Body und Vinnai haben in einem virtuosen Zitatereigen, in dem sie sogar Bodó zitierten, dem Theater eine liebevolle Kusshand hingeworfen."

Kommentare  
Motel, Graz: lieber Filme machen
Ja, ein weiterer Grund, so begabten Regisseuren wie Victor Bodo die Möglichkeit zu geben, Filme zu machen.... streicht diesen Häusern die Mittel, erhöht die Filmförderung....Theater ist das falsche Medium für solche Geschichten.... viel zu viel Aufwände für viel zuwenig Zuschauer. Theater muss eine andere Radikalität entwickeln. Eskapismus im Theater braucht nicht diesen Bühnenkram.
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