Sonne / Luft - Schauspielhaus Graz
Wenn wir schon aufstehen
14. Oktober 2023. Die Sonne seufzt melancholisch über ihr Ende, die Luft beklagt, dass sie knapp wird auf Erden. Elfriede Jelineks Klimakrisen-Text-Doppel steht in dieser Saison oft auf den Spielplänen. In Graz hat Emre Akal jetzt die Österreichische Erstaufführung inszeniert.
Von Reinhard Kriechbaum
14. Oktober 2023. "Guten Morgen, Sonnenschein!" Nana Mouskouri hat diesen Schlager in den 1970er Jahren geträllert, aber da waren die sieben Leute, die Emre Akal uns im Grazer Schauspielhaus in einer Orbit-Station vorführt, wohl schon mindestens zehn Jahre im All unterwegs. Währenddessen reflektiert die Sonne ihr eigenes Dasein und damit natürlich jenes der Erdlinge. Zwei Mal kurz on screen, eine gute Stunde lang aber als KI-Stimme aus dem Hintergrund. Mit dieser Raumstation hat sie einen weiteren Trabanten bekommen. Dort sollte es besser sein als auf der Erde, ist aber auch nicht alles eitel Butterschmarrn...
Taugt Hundefutter-Werbung als Role model?
Das Ding, von dem aus man durch ein riesiges herzförmiges Fenster in der Österreichischen Erstaufführung von Elfriede Jelineks "Sonne / Luft" allerlei Gesteinsbrocken durchs All fliegen sieht, dreht sich erdengleich. Langsam, aber unerbittlich. Auf der Bühne fahren immer die gleichen Zimmerchen vorbei und die Menschen bringen sich mit den immer gleichen Tätigkeiten über die Runden. Auf vielen Bildschirmen werden ihnen eine Natur und ein Leben vorgeführt, die sich die KI ausgedacht hat. Alles schaut dort einigermaßen lebensecht aus und ist doch ein bisserl anders. Taugt Hundefutter-Werbung als Role model für ein glückliches Leben auf einem künstlichen Erdtrabanten?
Man fühlt sich mit dem Bühnenbild von Mehmet & Kazim in "Raumschiff-Enterprise"-Zeiten zurückversetzt. Alles herrlich altmodisch, Nierentisch neben dem Fernsehsofa. Das deutsche Künstlerduo bedient sich auch bei der Hiphop- und Graffitiszene. Viel Gymnastik gibt's im All, wo man sich federnden Schrittes vom privaten Zimmer in öffentliche Räume mehr schleppt als bewegt. Der Würstelstand mutiert in eine DADAShake-Mensa. Das ist der Sozialraum für die Bewohner. Im Schlafzimmer geht's nicht gar so anregend zu, auch die Erotik scheint auf der Erde zurückgeblieben zu sein. Drei Männer pinkeln gemeinsam, das ist schon ziemlich das Heftigste, was es zu berichten gibt. Ach ja, eine der Frauen ist schwanger, eine Gebärstation ist glücklicherweise auch an Bord. Aber keine Krabbelstube. Das Neugeborene wird in einer Zeremonie dem Feuer überantwortet. Am Authentischsten ist noch der beleibte Essensausgeber, der mit Hingabe in der Orbit-Mensa staubsaugt.
Leben auf Autopilot
Über all dem also die Sonne mit einer Jelinek-Suada, die altersmilde ausgefallen ist. Unser Zentralgestirn ist als Göttin sehr mit sich selbst und der eigenen Identität beschäftigt. "Wenn ich will, kann ich auch Frau sein und die Männer verbrennen." Ja eh, aber "bin ich sicher, dass ich ein Mann bin?" Einerlei, denn "darauf kommt es an: ich, ich ich!" Das mit dem "Ich", das man einer hell strahlenden, feurigen Göttin gerne zugestehen möchte, hat aber auch einen Haken, wenn man als Sonne an die ex- und implodierende eigene Zukunft denkt, fern, aber gewiss. Trübe Aussicht auf eine Existenz als erkalteter Gesteinsbrocken, wenig Genugtuung, dabei auch die Erde versengt zu haben.
Das gegenwärtige Welt-Bescheinen ist auch nicht das Gelbe vom Ei, klar. Wir sind in einem Text der Jelinek, wenn sie sich in dem im Vorjahr in Zürich uraufgeführten Text-Paar "Sonne / Luft" auch mehr philosophisch und melancholisch als angriffig gibt.
Notfall im All, rotes Alarmlicht sogar im Zuschauerraum, ein Rütteln auf der Bühne und ein kurzzeitiges Erstarren. "Keine Sorge, der Autopilot weiß schon, wo es lang geht!" Gleiches Setting, aber jetzt ist die Luft dran, die Bewohner der Raumstation sind an den Wörtern. Die Luft weht als Lüftchen von Sentenzen durch die komfortable, aber logischerweise begrenzte Kunst-Wohnlandschaft im All. Kein Wunder, dass die Luft zuerst über den Raum und seine Grenzen reflektiert. Klar hat die Luft einiges zu sagen und zu klagen darüber, wie man auf der Erde mit Ihresgleichen, also mit der Natur umgeht. Mehr als eine Windbö von Pessimismus darob, was Mensch und Natur angeht."Jeder Höhenflug sollte überhaupt verboten werden."
"Nicht einmal ich kann meine Bahn bestimmen"
Der Abend lebt vom starken Bühnenbild und von der eindringlichen Musik-Kulisse, die der Münchner Multi-Instrumentalist Enik erdacht hat. Fein synchronisiert sind Bewegung und Musikakzente, technisch genau abgestimmt. Fein auch die Sprechtechnik der sieben Akteure. Regisseur Emre Akal spielt gefinkelt herum an den Grenzen zwischen Science Fiction und Nostalgie. Das hat seinen Reiz und steckt im Detail voller Ironie. Im klassizistischen Grazer Schauspielhaus gibt es rund um die Bühne einen Golddekor-Streifen mit den Namen der Leitsterne deutscher Kunst. Über Goethe haben die Witzbolde ein Schildchen geklebt: Jelinek.
"Nicht einmal ich kann meine Bahn bestimmen", hat die selbstverliebte Sonne geklagt. Jetzt die Luft, etwas trotzig angesichts der Option, sich als steife Brise erlebbar zu machen: "Wenn wir schon aufstehen, erheben wir uns gleich." Wie immer bei Elfriede Jelinek sollte man für die sprachspielerischen Bonmots einen gespitzten Bleistift und einen Notizblock dabeihaben. Aber "Sonne / Luft" ist gewiss nicht der Nobelpreisträgerin brillantester Text. Eher wollte man argwöhnen: Viel heiße Luft um die Sonne.
Sonne / Luft
von Elfriede Jelinek
Regie: Emre Akal, Bühnenbild & Videoanimation: Mehmet & Kazim, Kostüme und Mitarbeit Bühne: Lara Roßwag, Musik: Enik, Licht: Thomas Trummer, Dramaturgie: Anna-Sophia Güther.
Mit: Tim Breyvogel, Thomas Kramer, Luiza Monteiro, Anna Rausch, Sebastian Schindegger, Anke Stedingk, Mervan Ürkmez.
Premiere am 13. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Kritikenrundschau
"Bemerkenswert machte den Abend vor allem die visuelle Umsetzung dieser kosmischen Tour, ein Wunderwerk an KI-geschönten Illusionen vom Malerduo Mehmet & Kazim. Man könnte meinen, die legendäre Enterprise hat sich im Bühnenportal verhakt und zieht das Schauspielhaus nun hinter sich her", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (16.10.2023). Das Raumschiff-Motiv sei "schlüssig, die Umsetzung eindrucksvoll", und doch läuft die Inszenierung "im zweiten Teil des Abends, der sich dem vielstimmigeren und nur mehr in Rudimenten Platz findenden 'Luft'-Text widmet, allmählich ins Leere".
Für die Salzburger Nachrichten (16.10.2023) schreibt Martin Behr: "Die Grazer Aufführung rahmt die Monologe mit eindrücklichen Versatzstücken aus dem Genre Science-Fiction (Bühnenbild und Videoanimationen von Mehmet & Kazim). Emre Akal seziert die Paralleluniversen der Jelinek'schen Wortskulpturen mit einem akribisch agierenden Ensemble. In Kooperation mit dem steirischen herbst wird hier Illusionstheater im besten Sinne des Wortes geboten. Desillusionierend und doch beglückend."
Einige "schalkhafte Pointen komplementieren den melancholischen Grundton des Stücks, der hier streckenweise den galligen Witz anderer Jelinek-Texte ablöst – keineswegs dämpft das allerdings ihren typischen Wirbel an Anspielungen, Querverweisen, Wortkaskaden. Und wenn die Autorin dann auch noch die Luft zum Sprechen bringt, kippt der Abend, erst in durchaus strapaziöser Langsamkeit auszelebriert, ohnehin ins Burleske", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (16.10.2023) und lobt die Schauspieler, die "Gelegenheit zu präziser, lustvoller Textperformance" erhielten, "die sie mit viel Gusto auskosten".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. September 2024 Heidelberg: Intendant Holger Schultze hört 2026 auf
- 12. September 2024 Auswahl des "Augenblick mal"-Festivals 2025 in Berlin
- 12. September 2024 Freie Szene Hamburg: Protest-Aktion zur Spielzeiteröffnung
- 12. September 2024 Baden-Baden: Nicola May beendet Intendanz 2026
- 12. September 2024 Berlin: Aufruf der Komischen Oper zu Musikschulen-Problem
- 12. September 2024 Literaturpreis Ruhr für Necati Öziri
- 12. September 2024 Eggenfelden: Dreierteam leitet Theater an der Rott
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
neueste kommentare >
-
Buch Ideologiemaschinen Klarsichtigkeit
-
Tabori-Preis Danke für die Aufklärung
-
Buch Ideologiemaschinen Eine Bitte
-
Tabori-Preis Preisgeld ist Projektgeld
-
Tabori-Preis Produktionsgebundenes Geld?
-
Tabori Preis Mehr Abstand
-
Tabori Preis Einzelleistung, hervorgehoben
-
Tabori Preis Nur halb so viel wie...
-
Tabori Preis Höhe des Preisgelds
-
Theater Görlitz-Zittau Qual der Wahl
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
This work was a special ending for this festival and for me a highlight! I really liked the difference between the Voices and the Bodies moving on stage. I saw many hints to the art world but was also thinking about Robert Wilson. Somehow it opened up a world which was far away of being used "Theatre" we all know and on the other it wears a dress like a theater project! Very interesting for me, what i saw was not in the Text, but told a story within itself.
Thanks for this strange trip!
Der Detailreichtum in allen Aspekten und die mutigen Regieentscheidungen machten den Abend zu einem einzigartigen Erlebnis. Herzlichen Dank dafür!
Ein kurioser Punkt in der Kritik auf "nachtkritik" ist die Erwähnung von Hundefutter. Der Autor scheint nicht ganz bei der Sache gewesen zu sein, denn in der Werbung ging es sicherlich nicht um Hundefutter!
Ein großes Lob an das Team! Es war eine herausragende Kombination aus bildender und darstellender Kunst!
Woran machen Sie das fest?
Haben Sie da konkrete Anhaltspunkte, oder fabulieren Sie nur, weil Sie sich nicht vorstellen können, dass andere Menschen nicht Ihre Meinung teilen?
Ich war 2mal in der Aufführung weil ich beim ersten Mal etwas überfordert war. Nun gestern nochmal und da hat sich was sortiert. Sehr radikal (aber nicht um der Radikalität selbst wollen, sondern schlau!) die Trennung von Körpern und Stimmen. Fände Frau Jelinek bestimmt in ihrem Sinne