Iphigenie auf Tauris - Akademietheater Wien
Beschönige nicht die Gewalt!
24. Februar 2024. Selbst einer Opferung entkommen, erreicht Iphigenie das Land der Taurer, bringt sie vom Menschopfer ab und entflammt das Licht der Aufklärung. Bei Chortheatermacher Ulrich Rasche dunkelt sich das Ringen ein. Während Iphigenie gegen die Männerwelt anrennt.
Von Andrea Heinz
24. Februar 2024. Das Schicksal ist eine unaufhörlich sich bewegende Drehbühne. Zumindest ist das so im Theaterkosmos des Ulrich Rasche, oder zumindest in den Stücken, die er dafür auswählt. Während draußen in der realen Welt gerade der ehemalige Bundeskanzler dieses eigenartigen Landes erstinstanzlich der Falschaussage in der Ibiza-Affäre schuldig gesprochen wird, geht es drinnen im Akademietheater um die Kraft der Wahrhaftigkeit und humanistischen Ideale in einer männlichen, von Macht und Gesetz geprägten Welt.
Nachdem er in den letzten Jahren mit Sophokles' "Oedipus", Euripides' "Bakchen" und Aischylos' "Persern" ein gewisses Faible für antike Dramen und die griechische Mythologie zeigte, hat sich Rasche für seine aktuelle Inszenierung den "verteufelt humanen" Schulstoff "Iphigenie auf Tauris" ausgesucht – und auch hier wird wieder tapfer gegen die ewig kreisende Drehbühne angewandert.
Verfluchte Familie
Denn: Vom Schicksal gestraft sind hier alle. Wer gut aufgepasst hat im humanistischen Deutschunterricht, kann sich sicher noch an den Tantalidenfluch erinnern. Vom Vorfahr Tantalus abwärts, der es sich mit den Göttern verscherzt hat, ist die Familie dazu verdammt, sich gegenseitig umbringen zu müssen – am prominentesten wohl Klytämnestra ihren Mann Agamemnon, worauf sie selbst vom gemeinsamen Sohn Orest gerichtet wird.
Wie es immer so schön heißt. Ausgelöst hatte all das Agamemnon selbst, der zuvor, um günstige Winde für den Kriegszug gegen Troja zu erreichen, seine Tochter Iphigenie geopfert hatte. Zumindest glauben das alle. Denn in einigen Versionen der Geschichte, und eben auch bei Goethe, wird Iphigenie gerettet und nach Tauris verbracht, wo sie Artemis als Priesterin dient.
Es ist wenig glaubhaft, dass es auf Tauris ausschließlich Männer gab, Goethes Figurenpersonal besteht aber, bis auf Iphigenie selbst, ausschließlich aus solchen. Und auch auf Rasches oft düsterer, manchmal in farbigen Nebel gehüllter Bühne steht, ganz in weiß, Iphigenie (Julia Windischbauer) einer Gruppe schwarz gekleideter Männern gegenüber; Rasche hat das Personal sogar noch um einen (ebenfalls rein männlichen) Chor erweitert. Die Symbolik macht keine Gefangenen, das hier ist schnödester, binärer Geschlechterkampf.
Der erstaunlich zeitgemäße, auf Gleichberechtigung pochende Ansatz Goethes ("Beschönige nicht die Gewalt, die sich der Schwachheit eines Weibes freut. Ich bin so frei geboren als ein Mann.") zeigt sich in der selbstbewussten, bisweilen von der Kraft der Wut angetriebenen Figur der Iphigenie, die keinen Zentimeter zurückweicht vor der oft bedrohlichen Masse der Männer, die auf sich und ihren Idealen besteht. Es ist eine starke Vorstellung von Julia Windischbauer, präsent bis zum (etwas zähen) Ende des Abends.
Iphigenie mit klarem Kompass im Ränkespiel
Bis dahin muss Iphigenie sich den Avancen des Herrschers Thoas erwehren, der sich bei Daniel Jesch als erbärmliches Würstchen entpuppt, sobald ihn seine symbolische Macht verlässt, und dem dann, wie jedem x-beliebigen Diktator, nur noch rohe Gewalt bleibt. Zum Beispiel den beiden Fremden gegenüber, die nach altem Brauch geopfert werden sollen. Hätte nicht Iphigenie Thoas das mit den Menschenopfern ausgeredet, und wären die beiden Fremden nicht ihr Bruder Orest (Ole Lagerpusch) und sein Gefährte Pylades (Maximilian Pulst). Jetzt kommt Fahrt in die Geschichte, es werden allerlei Ränke geschmiedet, Geheimnisse enthüllt, Göttersprüche endlich richtig gedeutet, aber Iphigenie verliert nicht die Orientierung, sie hat einen untrüglichen moralischen Kompass, riskiert viel und gewinnt alles. Sie sagt die Wahrheit.
Da erstrahlt dann auch die Bühne in hellem, um nicht zu sagen aufklärerischem Licht, und die Säule aus LED-Stäben, die bis dahin mal drohend über der Bühne schwebte, mal bis auf den Boden kam und die Spieler*innen in ihrem unaufhörlichem Gehen antrieb, verschwindet. Der Fluch der Tantaliden ist gebrochen, und auch Ole Lagerpuschs Orest, bis dahin in seltsam verdrehter, verklemmter Haltung, findet, befreit von den ihn verfolgenden Rachegöttinnen, endlich zu einer etwas entspannteren Körperlichkeit. Überhaupt gibt Lagerpusch der Figur feine Nuancen, zeichnet Orest als herrisches, egozentrisches Kind.
Wut auf die Männerherrschaft
Die Rasche-Ästhetik mit ihren gesetzten Schritten auf den ewig sich drehenden Drehbühnen, der suggestiven Musik, den Chören und dem bedeutungsschwangeren, unnatürlichen Sprechen: Sie nutzt sich auf Dauer doch ein wenig ab. Nichtsdestoweniger gibt es sie an diesem Abend, die starken Momente, in denen man das Gefühl hat, es würden sich neue Sichtweisen auf den Text eröffnen. Und vor allem ist es der Abend einer starken Schauspielerin, die dieser unwahrscheinlichen Figur sogar in diesem Setting etwas Nahbares, Heutiges gibt. Nicht zuletzt in ihrer manchmal aufflackernden, still lodernden Wut auf eine von Männern beherrschte Welt.
Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Kostüme: Sara Schwartz, Komposition und musikalische Leitung: Nico van Wersch, Chorleitung: Jürgen Lehmann, Licht: Marcus Loran, Dramaturgie: Andreas Karlaganis, Victor Schlothauer.
Mit: Julia Windischbauer, Daniel Jesch, Ole Lagerpusch, Maximilian Pulst, Enno Trebs; Chor: Sören Kneidl, Julian von Hansemann, Nils Hausotte, Yannik Stöbener; Schlagwerk: Katelyn King, Keyboards: Benjamin Omerzell.
Premiere am 23. Februar 2024 im Akademietheater Wien
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
Rasche inszeniere diesmal im kleinen Haus, mit reduziertem Aufwand und viel subtiler in der Wahl der Mittel, schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (26.2.2024). Die Schauspieler sind "permanent in Bewegung; ihre Schritte sind, wie die Verse, exakt getaktet". "Leuchtender Mittelpunkt ist die einzige Frau des Abends, Julia Windischbauer als Iphigenie (...) seelenruhig und glasklar intoniert sie die Verse, nur ihr immer wieder deutlich hörbares Atmen zeigt an, wie physisch dieses Theater auch ist." Für die prekäre Beziehung zu Orest finde die Inszenierung überraschend zarte Szenen. "Während dieser ganzen Zeit bewegt sich die Drehscheibe. Und manchmal bewegt sie dann auch uns."
"Sie sprechen keine Sätze, sondern stoßen Versfüße hervor. Dazu heben sie die eigenen Füße rhythmisch, pro Jambus ein Schrit", so Jürgen Kaube in der FAZ (26.2.2024). "Wie kommt Rasche zu diesem ermüdenden Umgang mit Goethes Schauspiel? Die Frage ist falsch gestellt, denn Rasche macht nie etwas anderes." Für Kaube reantikisiere Rasche das Stück. "Dazu etabliert er einen Chor, den es bei Goethe bewusst nicht gibt, weil dort die Individuen die Last des Fluches tragen." Rede und Widerrede seien unverbunden, besonders deutlich zeige sich das in der Schlussszene.
"Ulrich Rasches Inszenierung schafft ein der strengen klassischen Form gemäßes rigides Korsett", so
Mit dieser Inszenierung "lässt es sich prächtig leben", schließt sich Ronald Pohl vom Standard (24.2.2024) dem jubelnden Wiener Publikum an. "Im Wiener Akademietheater besinnt sich Regisseur Ulrich Rasche, ein großer Formalist, mit ganzer Kraft auf die Bestimmung unseres Fortschritts. In seiner trefflich geglückten Inszenierung von Iphigenie auf Tauris tritt alles auf der Stelle. Unaufhörlich rotiert die Drehbühne. Die hohe, ebenmäßige Gestalt der Priesterin (Julia Windischbauer) setzt ihre Schritte gegenläufig, streng, im Uhrzeigersinn. Ihr Antlitz hält sie mit dem Ausdruck stummer Verzückung ins Nichts gerichtet."
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