Den Datenstrom hinunter

4. November 2022. Jedermann ist verrückt geworden und wird also heimgesucht von einem Team, das ihn eleminieren soll. Das sind nicht Tod, Mamon und wie sie bei Hugo von Hofmannsthal alle heißen. Stattdessen bricht bei den Mash-up-Experten vom Wiener Bernhard Ensemble frei nach Francis Ford Coppola ein Gummiboot ins Herz der Finsternis auf.  

Von Martin Thomas Pesl

Bernhard Ensemble Wien, "Jede(r).Now" mit Hubsi Kramar © Günter Macho

4. November 2022. Es ist schwieriger geworden mit den Titeln beim Bernhard Ensemble. Ein Mash-up aus Nestroys "Lumpazivagabundus" und dem Coen-Brothers-Film "The Big Lebowski" hieß mal "The.Big.Lumpazi", Schnitzlers "Weites Land" mischte Prinzipal Ernst Kurt Weigel mit David Lynchs "Lost Highway" zu "Weit.Way.Land". Die Zusammenführung der Handlungsstränge gelang zudem so mühelos elegant, als läge sie seit jeher in der Natur der jeweiligen Originale.

Seither wollen die Leute Mash-ups sehen! Einige der Verquickungen eines Films mit einem deutschsprachigen, meist österreichischen Dramenklassiker brachten dem Bernhard Ensemble Nestroy-Preise und -Nominierungen ein. Das Besondere an den Abenden ist ihre seltsam poetische Verbindung aus improvisierten Dialogen, derbstem Trash mit Urwiener Einschlag und Tanz: gekonntes Scheißen auf die Hochkultur.

Non-binäre Buhlschaft

Nun sind in über zehn Jahren mit mindestens ebenso vielen Mash-ups zwar bei weitem nicht alle Kultfilme aufgebraucht, aber fast alle richtig bekannten österreichischen Stücke. Dieses Jahr mischt Weigel – der neben dem Ensemble auch die Spielstätte Das Off Theater leitet – Hugo von Hofmannsthals Salzburg-Evergreen "Jedermann" mit Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsepos "Apocalypse Now". Gegendert wird auch, die Stückentwicklung heißt also "Jede(r).Now". Da will Word dann immer so ein ®-Zeichen draus machen. Na ja.

Muss aber so sein, weil Hofmannsthals Jedermann, der den Tod fürchtet und sich im Leben nicht mehr auskennt, in dieser Version durch ein Kollektiv vertreten wird, durch "alle". Diesen Umstand bekommt seine Mutter in einer Einstiegsszene sogar erklärt – es sorgt bei ihr wie beim Publikum für Verwirrung. Passenderweise ist die Buhlschaft nonbinär (und selbst Teil des Kollektivs), ebenso wie der Surf-Star Lance, Teil der Sondermission zur Eliminierung des verrückt gewordenen, von Indigenen wie ein Gott verehrten Colonel Kurtz.

Eifriger Ernst 

Die Vermantschung ist total und diesmal leider gar nicht smooth, irgendwie ist der Rührstab außer Kontrolle geraten (obwohl Weigel darauf verzichtet hat, naheliegendes Kapital aus Kurtz' Namensähnlichkeit mit dem einst gottähnlichen Ex-Bundeskanzler zu schlagen, dem gerade ebenfalls eine Spezialmission an den Kragen geht). Im entstandenen Brei sind einzelne Zitatebrocken von hier wie da noch deutlich zu erkennen, insgesamt überdeckt der "Apocalypse Now"-Geschmack aber den Rest – und das nicht nur, weil sich das Ensemble die meiste Zeit zwischen gegenüber aufgestellten Publikumsstuhlreihen in ein Boot zwängt und behauptet, "den Primitiven" Zivilisation zu bringen.

Die Flussfahrt hat durchaus ihre grotesk-amüsanten Tanz- (immer, wenn der Tod naht, setzen exzellent choreografierte Bewegungsabläufe ein) und Schauspielmomente. Eine der Soldat:innen, Social-Media-Managerin, kennt etwa ausschließlich Internet-Sprech ("sieben Gründe für unreine Haut, die du unbedingt kennen musst"). Das ist zwar als Idee nicht neu, kommt in Sophie Reschs eifrigem Ernst dargebracht aber echt lustig rüber. Auch Gerald Walsberger sieht man gerne zu, wie sich der sowieso schon spärlich bekleidete Spieler jedes Mal, wenn ihn etwas in Rage bringt, manisch seiner Schuhe und Socken entledigt.

jeder guenter macho 1 Das Gummiboot des Grauens auf dem Weg ins Herz der Finsternis: Ensemblebild © Günter Macho

Ästhetisch gibt es ebenfalls nichts zu meckern: Der von Bernhard Fleischmann live gemixte Dauer-Soundtrack schwimmt kunstvoll auf den Wellen von Jakob Hütters Video-Fluss. Die auf die gesamte weiße Bühnenfläche projizierten Animationen zeigen erst einen "Datenstrom" aus Instagram-Screenshots, später wirklich so etwas Ähnliches wie Wasser. Im zweiten Teil verschwinden die Verweise auf die digitale Alltagsüberflutung in Bild und Text. Wie im Film gehen nach und nach immer mehr Besatzungsmitglieder drauf, bis der traurige Rest am Ende – nun ja, Kurtz halt findet und eliminiert, Mission accomplished.

Marlon Jedermann

Diese Antiklimax ist umso enttäuschender, als Weigel sich dafür seinen eigenen Marlon Brando ins Team geholt hat. Der 74-jährige Hubsi Kramar – eine Legende der Wiener Off-Szene – ist Colonel Kurtz. Kramar tritt live erst im letzten Sechstel auf, was die Erwartungen enorm steigert. Erst mimt Kramar in einer eher problematischen Maskierung einen Eingeborenen (was Gerald Walsberger erwartungsgemäß aus den Socken haut), wenig später spult er als Kurtz, bevor er ermordet zu Boden fällt, die kultig-irren Brando-Monologe denkbar unspektakulär ab.

Kurtz' berühmte letzte Worte "Das Grauen ..." als Fazit dieser Kritik zu verwenden, wäre übertrieben. Aber das Bernhard Ensemble hat schon überzeugendere Mash-ups gemixt.

 

Jede(r).Now
nach "Apocalypse Now" (Drehbuch: John Milius, Francis Ford Coppola)
und "Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal
Regie/Konzept: Ernst Kurt Weigel, Choreografie: Leonie Wahl, Bühne und Kostüme: Pia Stross, Video: Jakob Hütter, Hand mit Auge, Live-Mix: Bernhard Fleischmann, Lichtdesign: Julian Vogel.
Mit: Kristina Bangert, Yvonne Brandstetter, Sophie Resch, Kajetan Dick, Hubsi Kramar, Gerald Walsberger, Ernst Kurt Weigel.
Premiere am 4. November 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.bernhard-ensemble.at
www.off-theater.at

 

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