Oxytocin Baby - Schauspielhaus Wien
Das wird jetzt ein bisschen kalt
von Andrea Heinz
Wien, 15. Oktober 2021. Im Theater hat man ja wirklich alles schon gesehen. Die gespreizten Beine einer Frau zum Beispiel, alter Hut. Aber die gespreizten Beine einer Frau, die beim Frauenarzt ist? Das ist neu.
Schwangerschaft, und so viele Frauen?
Rieke Süßkow hat am Wiener Schauspielhaus (zu Gast im Theater Odeon, weil das Schauspielhaus selbst derzeit ein Hotel ist) Anna Neatas "Oxytocin Baby" zur Uraufführung gebracht, einen Text, der von Schwangerschaft erzählt, von Kuschelhormonen, Abtreibungen, Engelmacherinnen, Fehlgeburten. Susanna Margaretha Brandt kommt darin vor, aber nicht als blondes Gretchen, sondern als Frau, die geschwängert und allein gelassen wurde. Marilyn Monroe kommt darin vor, aber nicht als blondes Sex Symbol, sondern als Frau, die sich Kinder wünscht und mehrere Fehlgeburten erleidet.
Wieso bekommen wir eigentlich solche Geschichten so selten erzählt am Theater, obwohl sie doch mindestens die Hälfte der Menschheit in der einen oder anderen Form beschäftigen und betreffen? Weil selten am Theater fast das komplette Regieteam und Ensemble aus Frauen besteht, so wie es bei Süßkows Inszenierung der Fall ist. Auf der Bühne steht neben Aleksandra Corovic, Sophia Löffler, Til Schindler und Sarah Zelt ein Chor bestehend aus Studierenden des Musikalischen Unterhaltungstheaters der MUK Wien (Marlene Fröhlich, Lea Gordin, Rebecca Katharina Lorenz, Victoria Sedlacek). Natürlich folgt da gleich die bange Frage: So viele Frauen, das stört uns ja gar nicht – aber was ist mit der Qualität?! Es geht ja um Qualität, nur um Qualität, das Geschlecht, das spielt doch gar keine Rolle.
Kasperletheater mit Guckkasten
Keine Sorge, an Qualität mangelt es diesem Abend nicht. Süßkow zeigt, dass sie nicht nur Fantasie und ein feines Gespür für Dramaturgie (Lucie Ortmann) und Dynamik hat, sondern auch einen guten Humor. Sie macht aus Neatas Text, der ganz ohne Regieanweisungen auskommt und nur durch Überschriften gegliedert wird, die oft aus Songtiteln bestehen (Ice Ice Baby, Bang Bang (My Baby shot me down)), eine Mischung aus Kasperletheater, Groteske und Nummernrevue. Die Spieler*innen stecken in einem Guckkasten, nur der Oberkörper schaut oben raus, oder eben manchmal, etwa wenn die Protagonistin Baby (Es war im Sommer '63. Alle nannten mich Baby...) beim Frauenarzt ist, ein gespreiztes Paar Frauenbeine.
Alle Spieler*innen tragen Babymasken, nur die Münder liegen frei, und Baby und der Chor der lebens- und abtreibungsweisen Hexen tragen, klar, Babydolls. Zugegeben, die Sache mit den Masken wird langsam etwas öde, aber in dieser Inszenierung, zu diesem Text sind sie eben auch sehr stimmig und treffsicher eingesetzt. Die Arme der Frauen sind in einer starren Pose schräg nach oben abgewinkelt, die Hände stecken in Strumpfhosen, damit ja kein Zweifel aufkommt: Handlungsfähigkeit ist für diese Hände nicht vorgesehen. Niedlich soll es halt ausschauen.
Ungeborene aufknacken
Süßkow hat einen Teil des Textes vertont (Musik: Belush Korenyi), die Hexen fungieren als Showsängerinnen und der Guckkasten bietet mannigfache Möglichkeiten des Auftritts: Mal tauchen die Sängerinnen einzeln aus dem für das Publikum nicht sichtbaren Boden auf, mal springen sie hervor. Baby lernt nun einen schluffigen jungen Mann kennen, Kosename Schleim, sie tanzen ständig miteinander (Es war der Sommer '63...), aber leider belassen sie es dabei nicht, sie wird schwanger, sie will abtreiben, nur wie?
Der Frauenarzt mit Brille über der Babymaske packt, in einer großartigen Szene, sein monströses Gynäkologen-Werkzeug aus ("das wird jetzt ein bisschen kalt"), wenn Baby nicht schnell genug mit ihrer Entscheidung ist, dann ist es zu spät für die Tabletten, dann muss er sie "aufknacken". Die gespreizten Beine verknoten sich jedes Mal, wenn er "aufknacken" sagt, und er sagt es oft.
Baby fängt an zu rechnen, so eine Abtreibung, sagt das Internet, ist teuer und Papi gibt ihr nur einen Zehner. Die Hexen öffnen ihr Archiv der Frauengeschichte, lassen nicht nur die Geburtshelfer Semmelweis und Boër auftreten, sondern auch die Engelmacherinnen Marie Baschtarz und Marie Bernhuber, die für ihre Tätigkeit beide im Kerker landeten und sich auf der Bühne, durch ihr Kleid zu siamesischen Zwillingen gemacht, in mehr oder weniger geschmeidigem Wienerisch ankeppeln ("hauch mir nicht so ins Genack").
Am Ende läuft es natürlich auf Selbstermächtigung und Utopie hinaus, es fallen Sätze wie: "Ich mag Kinder und Abtreibungen ich träume von einer großen Gebärmutter für alle, ich träum von einer schönen Abtreibung", Markus Lanz kriegt Schnappatmung, die Wände des Guckkastens fallen. Ein höchst unterhaltsamer, ein lustiger und ernster und längst überfälliger Abend. Mehr davon!
Oxytocin Baby
von Anna Neata
Regie: Rieke Süßkow, Bühne: Mirjam Stängl, Kostüme: Sabrina Bosshard, Musik: Belush Korenyi, Licht: Christoph Pichler, Oliver Mathias Kratochwill, Ton: Benjamin Bauer, Max Windisch-Spoerk, Dramaturgie: Lucie Ortmann.
Mit: Aleksandra Corovic, Sophia Löffler, Til Schindler, Sarah Zelt, Chor: Marlene Fröhlich, Lea Gordin, Rebecca Katharina Lorenz, Victoria Sedlacek.
Premiere am 15. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.at
"Eine freshe Mixtur aus Musical und Kasperltheater" hat Margarete Affenzeller gesehen und schreibt in Der Standard (online am 17.10.2021): "Regisseurin Rieke Süßkow hat für den strophig gebauten, lyrischen Text ein formalisiertes Pastelltheater errichtet, dessen strenge Form, straffe Choreografie und Maskenhaftigkeit zwangsläufig auch ein wenig eindimensional wirkt. Das alles aber auf hohem Niveau – etwa so, wie die knallbunten Kunststoffabende von Herbert Fritsch, nur kleiner." "Hier ist eine neue Generation von Theatermacherinnen am Werk, die sich neuen, eigenen Themen widmet und diese mit entschlossenem wie gewagtem ästhetischen Zugriff präsentiert. Originell!"
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