Die letzten Tage der Republik

8. März 2024. Der Dramatiker Thomas Arzt präsentiert ein Gesellschaftspanorama im Vorfeld der austrofaschistischen Diktatur. Theaterdirektor Herbert Föttinger bringt den Stoff mit großem Ensemble im Theater in der Josefstadt zur Uraufführung. Eine Geschichsstunde, die ihre Wirkung nicht verfehlt.

Von Martin Thomas Pesl

"Leben und Sterben in Wien" von Thomas Arzt am Theater in der Josefstadt © Moritz Schell

8. März 2024. Es läuft für Thomas Arzt, und Thomas Arzt läuft überall. Jüngst postete der oberösterreichische Autor erfreut, an einem Tag würden alle drei seiner neuen Auftragsarbeiten gleichzeitig zu sehen sein: in Bozen, in Linz und im Theater in der Josefstadt. "Leben und Sterben in Wien" ist das älteste der Werke, es stand schon 2021 auf dem Plan des Hauses, wurde dann aber im Corona-Chaos verschoben. Regie führt der Direktor des Hauses selbst, Herbert Föttinger. Es soll die letzte Inszenierung des gelernten Schauspielers sein, bevor er 2026 nach unglaublichen 20 Jahren abtritt. In den verbleibenden Spielzeiten will Föttinger andere zum Zug kommen lassen. Jetzt aber fährt er noch einmal alle Geschütze auf und bringt Arzts Historiendrama groß raus.

Gesellschaftliches Panorama

Im Juli 1927 brannte in Wien der Justizpalast, am 12. Februar 1934 begann der Aufstand des "roten" Schutzbundes gegen das faschistische Regime des Kanzlers Engelbert Dollfuß. Unterdessen gediehen im Untergrund die Nazis. Arzt schildert diese komplizierte Phase in Österreichs Geschichte – man hat keine Mühe, heutige Gefahren für die Demokratie wiederzuerkennen – anhand zahlreicher symbolischer Figuren: Da ist der Sozi, der aus enttäuschter Liebe zum Nazi wird (Nils Arztmann), die frustrierte Kommunistin (Alma Hasun), die ihren gutmütigen Kleinkriminellen (Thomas Frank) verlässt, sich dem Heimwehrler (Jakob Elsenwenger) an den Hals wirft und den Kanzler dann eh ganz gut findet. Da ist der brutal folternde Oberinspektor (Joseph Lorenz), der dem Theaterdirektor (Günter Franzmeier) aus alter Kameradschaft im Ersten Weltkrieg dennoch den Tipp gibt, das illegale Waffenlager zu räumen, bevor es ganz schlimm wird. Und etliche mehr.

Leben und Sterben in Wien3 1200 Moritz SchellIhr Glück währt nicht lange: Johanna Mahaffy als Sara und Katharina Klar als Fanni © Moritz Schell

Hauptfigur jedoch ist die Magd Fanni, von Katharina Klar ohne Ironie, dafür mit viel Empathie als Unschuld vom Lande porträtiert, die eine große, verwirrende Liebesaffäre mit ihrer mysteriösen Kollegin Sara erlebt (Johanna Mahaffy). Die gibt ihr einen Brief, bevor sie in einem Tumult ums Leben kommt. Fanni bringt das Schreiben ins Rote Wien, wo sie erfährt, dass Sara die Tochter des Theaterdirektors und aktive Schutzbund-Kämpferin war. Sie bleibt in der Stadt, studiert, bringt ein Kind zur Welt, das sie Sara nennt. Ihr Ende wird, allen historischen Wirren zum Trotz, ein glückliches sein.

Tanz den Mussolini!

Das Herzstück von Herbert Föttingers Inszenierung ist ein so genannter Bewegungschor: zahlreiche Damen und Herren, die mal ländliche Tänze tanzen, mal als Trauergesellschaft oder die "Arbeiter von Wien" gekleidet aufmarschieren, singen, beten, sich prügeln und schnell eine kesse Revue aufführen (Hitler und Mussolini in Glitzer). Von Anfang an dicht bevölkert ist der ohnedies schon knappe Raum vor dem schief hängenden Aquarellhintergrund des Bühnenbildduos Die Schichtarbeiter.

Gut vorstellbar, dass Föttinger mit der präzisen Orchestrierung dieser Massenszenen so beschäftigt war, dass das Stellprobenhafte auch auf einige Sprechrollen übersprang. Besonders den ersten Teil dominiert eine gewisse Steife beim Vorbringen der Dialoge, deren Rhythmus dafür einwandfrei sitzt. Arzts elliptische Kunstsprache verzichtet oft wahlweise auf Satzanfänge oder -enden, und der Versuch, sie in einem natürlichen Sprechfluss aufgehen zu lassen, glückt nicht immer.

Leben und Sterben in Wien4 1200 Moritz SchellAuf der Jagd mit der Staatspolizei © Moritz Schell

Der Chor selbst erfüllt seine vielfältigen Aufgaben vorbildlich, wirkt aber doch gar inflationär eingesetzt – und nicht gerade subtil: Mehrere der von Matthias Jakisic vertonten und von einer Loge neben der Bühne aus mit vollem Körpereinsatz auf der Geige begleiteten Liedtexte werden frontal ins Publikum gebrettert. Sind sie sozialistisch, kommt zu den roten Fahnen auch noch rotes Licht. Das ist ... viel.

Abrechnung im Beichtstuhl

Doch wie das so ist bei einem guten Melodram: Man kann sich seiner Wirkung nicht entziehen. Das Schicksal von Fanni, das sie vom unpolitischen Landei zur Antifaschistin macht, geht nahe. Starke Momente entstehen besonders, wenn die Bühne in chorfreien Zweier- und Dreierszenen zum Atmen kommt. Etwa wenn Fanni und Sara ihre Liebe ausleben. Wenn Fanni einem überforderten Pater (Robert Joseph Bartl) unter dem Vorwand einer Beichte so richtig die Meinung geigt. Und wenn die 81-jährige Lore Stefanek sich in der Rolle einer sehr, sehr bösen alten Frau im Schnee die Seele aus dem Leib schreit.

"Leben und Sterben in Wien" ist in dieser Uraufführungsinszenierung zwar mehr "Dreigroschenoper", als dem Text guttut, den Erfolg kann man dem Abend aber nicht absprechen. In einem "Demokratie!"-T-Shirt ließ sich der Autor beim Premierenapplaus beschwingt bejubeln.

 

Leben und Sterben in Wien
von Thomas Arzt
Uraufführung
Regie: Herbert Föttinger, Bühnenbild: Die Schichtarbeiter, Kostüme: Birgit Hutter, Musik: Matthias Jakisic, Choreografie: Daniela Mühlbauer, Licht: Manfred Grohs, Dramaturgie: Matthias Asboth.
Mit: Alexander Absenger, Nils Arztmann, Robert Joseph Bartl, Jakob Elsenwenger, Thomas Frank, Günter Franzmeier, Alma Hasun, Katharina Klar, Joseph Lorenz, Johanna Mahaffy, Ulli Maier, Lore Stefanek, dem Kind Clara Bruckmann/Dora Staudinger und dem Bewegungschor Katharina Maria Alram, Jan David Bower, Nicolaas Buitenhuis, Katharina Felling, Dagmar Goller, Jakob Haselhofer, Tamara Hollosy, Noemi Sophie James-Buttinger, Benjamin Kopp, Christoph Kostomiris, Matea Novak, Ortrun Obermann-Slupetzky, Filipp Peraus, Sophie Rabmer, Elisabeth Schmidt-Schmid, Matti Schuldt, Florian Bernhard Sendlhofer, Manuel Sonnleitner, Wolfgang Steiner, Selina Strommer.
Premiere am 7. März 2024
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause

www.josefstadt.org

Kritikenrundschau

"Es wird keineswegs Föttingers beste Arbeit gewesen sein", resümiert Margarete Affenzeller im Standard (9.3.2024) die letzte Inszenierung des langjährigen Josefstadt-Intendanten. "Die aufklärerisch gemeinte Rückschau in eine düstere Vergangenheit blieb ein museales Gebilde aus patinierten, klischeehaft zugespitzten Figuren und dramatischen Wendungen." Abend und Stoff fänden aus ihrer Historizität nicht hinaus. Gerade das Lehrhafte an Arzts "oft mit einer sachten, amputierten Kunstsprache operierenden Stücken steht einer szenischen Realisierung wohl am allermeisten entgegen".

Einen "echten Knaller" hat hingegen Norbert Mayer erlebt, wie er in der Presse (9.3.2024) schreibt. Arzt habe "ein bemerkenswert lebendiges Historiendrama" geschrieben, Föttinger "mit seinem gut abgestimmtem Ensemble eine tolle, bewegende Show" inszeniert und Katharina Klar brilliere in der Hauptrolle.

"Zum Schießen komisch" findet Thomas Trenkler im Kurier (9.3.2024) den Abend. Arzts Stück nennt er ein "B-Movie voller Versatzstücke", Föttingers Regie "kongenial": "Ohne Zwischentöne, in Schwarz-Weiß und mit sehr viel sozialistischem Herzblut. Da wehen die roten Fahnen! Da werden Freiheit und Demokratie besungen! Da skandiert der Chor! Große Oper im starren Bühnenbild-Schlachtfeld (von 'Die Schichtarbeiter') mit je einem windschiefen Telegrafen- und Laternenmasten!"

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