Penthesilea - Cihan Inans Kleist-Inszenierung um Kampfes- und Liebeslust eröffnet die Saison in Bern
Schläge in die Magengrube
von Geneva Moser
Bern, 14. September 2017. Endlich kommen sich die beiden näher. Eine zögerliche Berührung, zaghafte Zärtlichkeit. Ein Versuch von Intimität. Und dann ein Schlag. Ein weiterer. Ein Knall. Kinnhaken, ein Kuss, Knie in die Magengrube. Bei Penthesilea und Achilles geraten sie gehörig durcheinander: Kampf und Lust, Liebe und Krieg. Cihan Inans Inszenierung von Kleists Penthesilea am Theater Bern wird nicht müde, diese Grenze verstörend zu verwischen.
Dass es für diese Liebe keinen Ort gibt, ist von Beginn an klar. Die Amazone Penthesilea (Milva Stark) widersetzt sich dem Gesetz ihres Volkes und wählt ihren Mann selbst. Der Auserwählte ist ihr Gegner im Krieg, Achilles (Alexander Maria Schmidt). Zunächst vom Siegeswillen angetrieben, stürzt sich die Amazone in blinde Raserei und kippt von Kriegs- zu Liebeswahn. Annäherung und Beziehung zu einem Mann, beide ihr bisher nur als Kampf und Gewalt bekannt, ist unter diesen Vorzeichen nicht möglich.
Kampfplatz und Gefängnis zugleich
Die Sehnsucht nach erfüllter Liebe lässt sie Achilles grausam töten und ihm sein Herz aus der Brust reißen (Blut. Viel Blut.) und schließlich erschüttert vor der eigenen Tat stehen und fragen: Wer war es? "Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andere greifen." Eine fatale Verwechslung. Und Penthesilea eine "Maschine ihrer von Gewalt pervertierten Gelüste", wie das Programmheft beschreibt.
Dieses blutrünstige Kriegsepos benötigt bei Inan keine kämpfenden Heerscharen, sondern nur sehr reduziertes Personal (Chantal Le Moign, Alexandra Lukas, Gabriel Schneider), und ist zudem drastisch gekürzt (70 Minuten). Und auch wenn der Ausgang feststeht und auch wenn dieser Klassiker schon hundertfach erzählt ist, gelingt es der Inszenierung, einen Sog aufzubauen, das Publikum in diese doch etwas fremde Welt der Amazonen mitzunehmen.
Ja, sie macht uns viele Angebote, diese Inszenierung. Sie nimmt sich zum einen dem getriebenen und sehnsüchtigen Kleist an, der als quasi aktualisierte Autorfigur ("Der Mann": Michael Neuenschwander) am Schreibtisch mit Thermoskanne und Heft, notierend und lesend das Stück lenkt, es manipuliert, inszeniert und dem Publikum präsentiert. Und der letztlich völlig von seinem Werk und seinen Figuren vereinnahmt und unterwandert wird. Diese dem Stück hinzugefügte, bisweilen auch rätselhafte Metaebene gibt Regisseur Cihan Inan die Möglichkeit, den Text mit Zitaten von beispielsweise Susan Sontag zu befragen, ihn philosophisch zu reflektieren (tatsächlich: "Was ist der Mensch?"). Er versucht auch, den Dichtungswahn und Lebenskampf von Kleist auf diese Weise wenigstens ein bisschen verständlich zu machen. Großartig ist das, wenn die größten Pathosmomente zwischen Achilles und Penthesilea durch einen Popkonzert-artigen Auftritt dieses "sonderbaren Fremdlings" persifliert werden. Weniger großartig sind die zahlreichen Momente, in denen das Zusammenspiel zwischen beiden Ebenen eher knarzig als flirrend bleibt.
Kampf, Lust und Kampfeslust
Wie ein roter Faden zieht sich die Frage nach der Darstellung von Gewalt und Leid durch das Kriegsepos. Auch hier ein Angebot: Die über eine Mauer hängenden blutigen Leichen, zuckende Glieder, das Blut an Achilles Händen und in Penthesileas Mund, kriegerische Sprachbilder – suchen sie uns noch heim oder sind sie schon dermaßen abgenutzt? Wenn die Nebelmaschine vor unseren Augen effektvoll über die Bühne getragen wird, ist die entstandene Stimmung dann "real" oder ist ohnehin alles nur "fake", was da vorne geschrien, gebrüllt und beteuert wird? Für jede Emotion ein Knöpfchen am Schaltpult des Erzählers. Wie pornografisch ist es, hier zu sitzen und den Krieg so hautnah vermittelt zu bekommen? Fragen, die es problemlos schaffen, dem im Schatten von Krieg geschriebenen Stück eine Aktualität abzugewinnen.
Das im Text fast schon aufgedrängte und damit omnipräsente Angebot, aktuelle Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen, wird hingegen nicht aufgegriffen – und das, obschon dieses ambivalente Amazonenvolk, die starke und gebrochene Figur der Penthesilea und die permanente idealisierende Anrufung eines auf Eroberung und Kolonialisierung getrimmten Liebesverständnisses förmlich danach rufen. Bei dieser Anlage keine Aussage zu treffen, ist fast schon als gekonnt zu bezeichnen – als hätte die Verwechslung von Kampf und Lust mit Patriarchat nichts zu tun.
Cleane Umgebung
Die Aussage des Abends bleibt seltsam unentschieden. Ungeklärt, was dem Publikum mit all den Verweisen und Ebenen gesagt werden soll. Entschieden ist die Inszenierung hingegen ästhetisch. Nüchtern und clean, dieser beige Fliesenboden und die Plastiklamellen im Hintergrund. Davor ein schlichter Balken mit Netzmuster, wie im Text beschrieben: "Die Welt als ausgespanntes Musternetz" liegt da mit einfachen Mitteln vor uns.
Ebenso ungekünstelt und stilistisch konsequent ist die Kleidung der Schauspieler*innen: Irgendwo zwischen hautfarbener Nacktheit, Alltag und kriegerischer Uniform – und das alles in einem. Sprachlich arbeitet die Inszenierung mit erstaunlicher Klarheit: Obschon mehrheitlich mit hohem Druck und ungebrochener Fallhöhe im Ton gesprochen, öffnet sich die sperrige Sprache Kleists doch da und dort überraschend als fast modern, einfach und zugänglich. Es ist ein sprachmächtiges Ensemble, das sich hier für uns durch so manche Wortbarriere gekämpft hat.
Die Spielkraft starker Darsteller*innen ist es denn auch, die von dem Abend in Erinnerung bleibt. Und ein erschreckendes Fazit: Am greifbarsten sind die Schreckensbilder doch immer dann, wenn es nicht um den abstrakten, aber nicht weniger schrecklichen Krieg zweier rätselhafter Völker geht, sondern um den Terror der Intimität der Liebenden, die Kampf und Lust zu verwechseln gelernt haben.
Penthesilea
von Heinrich von Kleist
Regie: Cihan Inan, Bühne: Manfred Loritz, Kostüme: Yvonne Forster, Musik: Daniel Stössel, Dramaturgie: Sophie-Thérèse Krempl.
Mit: Milva Stark, Alexander Maria Schmidt, Chantal Le Moign, Alexandra Lukas, Michael Neuenschwander, Gabriel Schneider.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.konzerttheaterbern.ch
"Schlackenlos" findet Beatrice Eichmann-Leutenegger in der NZZ (15.9.2017) die Spielfassung von Cihan Inan. Bühnennaturalismus meide Berns neuer Schauspielchef, strebe statt dessen eine Stilisierung der Körpersprache an. Dadurch gewinne der Text an Gewicht. Allerdings kündige sich am Ende "ein Stilbruch innerhalb des Inszenierungskonzepts" an, schreibt Eichmann-Leutenegger: "Es fliesst Theaterblut – der krude Schlachtenrealismus siegt."
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"Wenn Kleist nicht wäre, und auch nicht Milva Stark in der Titelrolle, dann müsste man sich von dieser Eröffnungspremiere, mit der sich der neue Berner Schauspielchef in Szene setzt, "mit einem grossen Schwunge" abwenden, "so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen". (Franz Kafka: Gibs auf!) Aber das Stück hat, wenn auch arg versehrt (um in der Sprache der Feldchirurgen zu reden), immer noch starke Seiten, und Milva Stark, wenn sie auch keine Figur aufbauen darf, am Schluss starke Momente. Aber sonst - "
Die vollständige Kritik findet sich unter https://p4-r5-04088.page4.com/728.html