Antigone - Wojtek Klemm zeigt einen ruppig-klugen Sophokles in einem Flüchtlingsbunker am Theater Luzern
Kriegszitterer ohne Krieg
von Christoph Fellmann
Luzern, 13. Dezember 2014. Wir befinden uns in einem jener Bunker, welche die Schweiz ab den Sechzigerjahren gebaut hat, damit ihre Bevölkerung darin einen Atomunfall oder den Dritten Weltkrieg überleben kann. Betonwände, Metallrohre, Maschendraht. Heute werden diese Bunker zwar gelegentlich noch beübt, vor allem aber bringt die Schweiz hier, metertief unter der Erde, die Asylsuchenden unter. Neun von ihnen, alle aus Afrika und derzeit wohnhaft in einer Unterkunft im Kanton Zug, stehen hier nun auf der Bühne des Luzerner Theaters im Nachbau eines solchen Bunkers. Man versteht nicht, was sie reden, nur einmal eine Frage: "Das ist ein Bunker?" – Und die Antwort: "Nein, das ist ein Theater."
Asylsuchende als Zaungäste des Rechts-Dramas
Stimmt. Und gegeben wird ein Klassiker. Ein hehres Stück um das Dilemma, welchem Recht man folgen soll. Dem des Gesetzes oder dem der Moral. Gespielt wird also die "Antigone" von Sophokles, dies in einer neuen Übersetzung von Kurt Steinmann. Sie klingt flüssig und modern, aber nicht modisch. Dass Wojtek Klemm nun neun Flüchtlinge auf die Bühne holt und als Zaungäste auf das Stück blicken lässt, ist ein sehr kluger Zug. Denn so wird seine "Antigone" auch zum Stück über eine Gesellschaft, die komplizierte Fragen der Moral an das Theater und an den hohen Ton seiner Klassiker delegiert hat; nur, um sich noch eine Weile länger einreden zu können, auf freier Bühne zu leben und nicht etwa in jener Festung, in die sich Europa zurückzieht.
Wojtek Klemm zeigt uns das Theater also als das, was es ist – als jenen besonders gut ausgebunkerten Teil der Festung, in dem die Moral aufbewahrt ist und mit ihr unsere ach so verletzlichen Grundwerte. Als das tragische Ende naht, sprechen Antigone und Ismene miteinander, als befänden sie sich in einer kulinarisch-ironischen Aufführung eines alten Schinkens. Man kennt das. Bis Antigone realisiert, dass hier und heute tatsächlich jemand sterben wird, nämlich sie. Ihr stiller Heulkrampf ist ein erschütternder Höhepunkt dieses Abends, an dem Juliane Lang eine sehr überzeugende Hauptfigur ist. Ernst, aber nicht heilig, schmerzhaft um ihre Haltung ringend im Nahkampf der Worte, in dem hier immer wieder auch die Körper aufeinander prallen.
Die Flüchtlinge sehen sich das alles als Unbeteiligte an, die sich leicht verscheuchen lassen. Sie scheinen interessiert, manchmal verwundert, mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Sie sind als Faktotum hier, abgesondert und fremd. Doch das genügt, um Theben in Angst zu versetzen. Die Macht im Bunker organisiert sich in Durchsagen, Drill und Disziplin. Technoide Tänze machen Spaß im Gleichschritt. Doch manchmal lässt sich die Angst nicht mehr kontrollieren, und dann werden die Thebaner durchgeschüttelt, Kriegszitterer ohne Krieg. Dass Antigone sterben muss, weil sie gegen den Befehl von König Kreon ihren Bruder begraben hat, ist auch die Folge dieser Angst, die im lärmenden politischen Tonfall übertönt wird.
Kreons Ideologie: Theben soll "rein" bleiben
Wie er diesen würgenden Rechtsstaat schildert, forciert nun aber auch Klemm gelegentlich den Ton, und der steigert sich ins Schrille oder überschlägt sich in den Klamauk. Dann setzt Haimon, Verlobter der Antigone, zur rassistischen Suada an, oder Kreon widmet sich seinem Putzfimmel, der etwas gar augenfällig das Bemühen illustriert, Theben "rein" zu halten. Aber dann zeigt Jörg Dathe in der Königsrolle halt doch sehr genau, wie Druck in Despotie übersetzt wird. Sein Dozieren über den richtigen Charakter, die richtige Denkart und das geltende Gesetz: Das ist aschgraue politische Rhetorik, aber auch voller panischer Untertöne. Fast hätte man sie nicht bemerkt ob der Cheerleaderinnen, die sich hinter ihm aufgebaut haben.
Kreon, das zeigt dieser ruppig-kluge Abend, hält sich in seiner Festung Theben selbst gefangen. Da ist sie wieder, die Schweiz als Gefängnis, wie sie Friedrich Dürrenmatt beschrieben hat, und in der die Insassen auch die Wärter sind. Antigone wird ins Loch gebracht, in dem sie sterben soll, und hat doch schon die ganze Zeit darin gesteckt. Und Kreon bleibt zurück mit dem Selbstmitleid eines Mannes, der realisiert, dass auch er in Schutzhaft sterben wird. Noch nicht gleich, irgendwann. Wenn die Flüchtlinge längst weg sind, tot vielleicht.
Antigone
von Sophokles
Neu übersetzt von Kurt Steinmann
Regie: Wojtek Klemm, Choreografie: Anna Krysiak, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Julia Kornacka, Licht: Mariella von Vequel-Westernach, Musik: Dominik Strycharski, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit: Juliane Lang, Dagmar Bock, Jörg Dathe, Hans-Caspar Gattiker, Bettina Riebesel, Clemens Maria Riegler, Alem Asrat, Dejen Habtemariam, Tesmesgen Haregot, Hana Debalke Heilemariam, Mersha Marye, Adam Isaac Mousssa, Robiel Tesfalem, Tesfalem Yemane, Bayih Melese Yirga.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.luzernertheater.ch
Wojtek Klemm interessiere "weniger das spannungsvolle und alles andere als lineare Prozedere, in dem sich die inkompatiblen Auffassungen von Gesetz und Gebot herausschälen (…) – ihn reizt vielmehr, die explizit festgelegten Positionen assoziativ – und auch mit Kalauern – weiter zu befrachten", schreibt Andreas Kläui in der Neuen Zürcher Zeitung (15.12.2014). "Das Schweizer Asylwesen, die Ausländerfeindlichkeit, die marode Bankenwelt, die naserümpfende Selbstgerechtigkeit im Wohlstand, das alles und noch viel mehr – es ist ein bisschen viel und nicht wirklich stimmig zusammengefügt, wogegen die arme Antigone in Luzern antreten muss." Am stärksten sei Klemms Inszenierung "in der Körpersprache, in den Bildern, die sie findet, um innere Motivationen sichtbar zu machen. (…) Dies gäbe dem Abend Kraft und Wucht – hätte der Regisseur das Fuder nicht dermassen überladen."
"Die Frage, wessen Recht höher zu bewerten sei, das königliche von Kreon oder das moralische von Antigone", beantworte Klemms Inszenierung eindeutig, meint Kurt Beck in der Neuen Luzerner Zeitung (15.12.2014). Antigones "fromme Freveltat" sei legitim. Allerdings mache Klemm "Antigone nicht zur strahlenden Heldin. Er zeigt sie als zweifelnde junge Frau, die als Einzige in der ganzen Stadt Widerstand leistet, leisten muss, weil ihr Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie keine andere Möglichkeit zulässt." Klemm habe "Sophokles' Tragödie mit viel Action, Musik und zweifelhaftem neuem Textmaterial auf die Bühne gebracht. Es wird getanzt, gesungen, geliebt, eine Kissenschlacht veranstaltet und mit einer Putzmaschine herumgekurvt, was unterhaltend sein mag, aber in dieser unvermittelten Form vom Eigentlichen ablenkt."
Auf SRF 1 (14.12.2014) befindet Beat Vogt, dass die Verbindung der Antigone mit der aktuellen Flüchtlingsgeschichte aufgehe, da sie ohne direkte Botschaft auskomme. "Sie funktioniert als ständiger Denkanstoss. Und schliesslich ist dies auch nur ein Teil der enormen Vielschichtigkeit dieser Inszenierung."
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