Die 120 Tage von Sodom - Mit Pier Paolo Pasolini klagen Milo Rau und das Theater Hora am Zürcher Schauspielhaus die pränatale Diagnostik an
Euthanasie 2.0
von Christoph Fellmann
Zürich, 10. Februar 2017. Fabienne Villiger und Gianni Blumer liegen auf weißem Bettzeug und liebkosen sich im Scheinwerferlicht. Sie trägt eine Unterhose, er ist nackt. Eine Kamera filmt sie und überträgt die Bilder live auf die Großleinwand, wo man die Haut von nahem sieht, die Haare, die Küsse. Was ist das? Porno? Pasolini? Die Performerin und der Performer sind geistig behindert. Was ändert das? Geht das zu weit? Oder ist es ergreifend? Und wenn ja, warum? Weil dazu die ergreifenden Leçons de ténèbres von François Couperin laufen?
Sensationslust, die weh tut
Na ja, es ist großartiges Theater. Freitagabends, gegen halb zehn, auf der Box-Bühne im Zürcher Schiffbau. Villiger und Blumer spielen die Szene aus Pier Paolo Pasolinis Film Salò oder die 120 Tage von Sodom, in der sich zwei der Sklaven beim Sex erwischen lassen und daraufhin erschossen werden. Es ist der Moment, in dem dieser neue Abend von Milo Rau zu sich kommt. "Die 120 Tage von Sodom", die der Schweizer nach Motiven von Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse de Sade eingerichtet hat, ist in diesen Minuten eine Zumutung, wie es 1975 der letzte Film von Pasolini war.
Denn es sind Minuten, die ganz einer Sensationslust gehören, die weh tut. Und die so die Frage stellen nach dem Wert und dem Verkaufswert des Lebens, des behinderten zumal. Und nach dem Ende der Kunst, der bewanderten: Der Szene vorausgegangen ist ein Tutorial darüber, wie im Theater vergewaltigt wird. Michael Neuenschwander, eines von vier Ensemblemitgliedern in dieser Produktion, demonstriert es den Mitspielern des Theaters Hora auf einer schmalen Guckkastenbühne, die er den "Pfauen" nennt, nach der altehrwürdigen Hauptadresse des Schauspielhauses.
Die letzten Menschen
Milo Rau lässt in Zürich, erstens, also Pasolini spielen, dessen infernalische Saga über eine Handvoll von Faschisten, die zum Ende des Krieges in Salò junge Frauen und Männer als Sklaven halten, die sie vergewaltigen, die sie Scheiße fressen lassen, die sie foltern und töten. Er räsoniert, zweitens, aber auch über die Darstellbarkeit von Gewalt. Und er übersetzt, drittens, den im Film gezeigten, mikrokosmologischen Genozid (den sich Pasolini bei deutschen KZ-Betreibern in Polen abguckte) in unsere Zeit. Die These, die Rau im Vorfeld der Uraufführung in den Medien referierte, leuchtet durchaus ein: Die pränatale Diagnostik führt dazu, dass neun von zehn ungeborenen Kindern mit Trisomie 21 abgetrieben und oft erst kurz vor der Geburt totgespritzt werden. Darum spielt das Theater Hora nun "die letzten Menschen", die späten Überlebenden eines Massenmords an ungeborenem Leben, der sich still und heimlich in den Abtreibungskliniken abspielt, während die abendländische Hochkultur weiterbrummt: Kunst und Klaviermusik waren es bei Pasolini. Rau bietet Couperin, Carl Orff, das Glenn Miller Orchestra, Michael Jackson und das Abendmahl auf – sowie, wie schon erwähnt, einen kleinen Guckkasten, auf der die Profis zeigen, wie man mit Aplomb vergewaltigt.
Das Konzept überzeugt und wird bis ins Detail fachgerecht vollzogen. Der Ensemblespieler Robert Hunger-Bühler erzählt im Prolog, wie er mit 22 Jahren zum ersten Mal den Film von Pasolini gesehen habe und frappiert gewesen sei, wie diese "schönen jungen Leute", wie diese "sehr hübsche Blondine" darin missbraucht und gequält worden seien. Knapper kann man das Problem, das dieser Film hat, nicht formulieren: Bedauern wir die Naziopfer nicht zuletzt auch darum, weil sie so jung und "schön" sind? Mit der gängigen Schönheitsidealen nicht entsprechenden Körperlichkeit seiner behinderten Spielerinnen und Spieler stellt Milo Rau diese Frage sehr direkt in den Raum, etwa im baren Arschvergleich. Julia Häusermann, die preisgekrönte Hora-Akteurin, zeigt den breitesten Twerk der Geschichte.
Milo Rau weiß, dass es möglich, aber ungehörig wäre, beim Theater Hora das abzuholen, was man "unverstellt" oder "anarchisch" nennt; und also verwischt er die Grenze zwischen Authentizität und Spiel. Auch das ist ebenso einleuchtend wie der Verweis auf den "Missbrauch", den das Theater unausweichlich mit sich bringt – und der dazu führt, dass hier nun ein Missbrauchter den "Regisseur" spielt, der auf der Bühne eine Neuverfilmung von Pasolini in Szene setzt.
Stark wattiert
So sammeln sich um die zwei Monologe, die vom stillen Euthanasieprogramm an ungeborenen Behinderten handeln, die selbstreferenziellen Zugriffe. Das Resultat ist ein Theater mit Sicherheitsabstand. Zum Thema, zu den Protagonisten, zu sich selbst. Es ist ein Theater, das so sehr alles sorgfältig, korrekt und richtig macht, dass es die Unmittelbarkeit verpasst. Der Abend kommt nie richtig in Gang. Er hangelt sich komplettistisch entlang der Patschpatsch-, Peitsch- und Pinkelszenen des Films und referiert sich laufend selbst. Zum Schluss, wenn die Sklaven getötet werden, sind die Gewaltdarstellungen in so viel Metawatte gepackt, dass für sie das vermutlich Schlimmste zutrifft, das man über Gewaltdarstellungen sagen kann – dass sie langweilig sind.
Dabei ist der Abend doch perfekt, wenigstens zehn Minuten lang. In dieser einen Sexszene nämlich, in der sich zwei Menschen lieben, die heute mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr geboren würden. Die Livecam überträgt sie in den Emotionshaushalt der Hochkulturzielgruppe, und die reagiert wie immer: mit kräftigem Applaus.
Dieser Text wurde am 13. Februar 2017 um 16:48 verändert.
Die 120 Tage von Sodom
von Milo Rau, nach Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse de Sade
Text und Regie: Milo Rau; Ausstattung: Anton Lukas; Video: Kevin Graber; Dramaturgie: Stefan Bläske, Gwendolyne Melchinger.
Mit: Noha Badir, Remo Beuggert, Gianni Blumer, Matthias Brücker, Nikolai Gralak, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Sara Hess, Robert Hunger-Bühler, Dagna Litzenberger Vinet, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Tiziana Pagliaro, Nora Tosconi, Fabienne Villiger.
Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
www.hora.ch
Mehr dazu: Auf Deutschlandradio äußerte sich Milo Rau zu seiner Produktion und seinen Absichten.
"'Die 120 Tage von Sodom' sind 120 skandalfreie Minuten, keine Perversion ist auszuspähen und kein Sadismus auf weiter Flur", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (13.2.2017). Auf der Bühne, in der Arena lebendiger Menschen und Menschenkörper knistere noch das Papier, auf dem das Konzept entworfen ist; auf der spielerischen, künstlerischen Ebene bleibe der Abend hinter einigen Hora-Abenden und weit hinter vielen von Raus Recherchen zurück. "Wenn Raus Theater in Tabuzonen eindringen will, hat es sich sträflich verkalkuliert", so Muscionico: "Es gibt keine Tabus mehr in der Kunst. Längst ist gesellschaftsfähig, was auch darstellbar ist. Zumindest im Schutzraum des Theaters."
"Die Inszenierung von Milo Rau reiht sich eben nicht ein in die Suche nach dem Tabubruch, in das Überschreiten von Schmerzgrenzen, sondern sie unterläuft sie", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (13.2.2017). Es sei vor allem das Hora-Ensemble und sein Interesse am Theaterspiel, das sich den Erwartungen an Spektakel und Skandal entziehe. "Die Inszenierung bricht der Suche nach Erregung immer wieder die Spitze, indem sie einerseits sachlich auf deren Sprache schaut und sich andererseits viel Zeit des Zuschauens nimmt, wenn etwa Fabienne Villiger und Gianni Blumer vom Hora-Ensemble ein Liebespaar spielen, eine berührende und intime Szene, verwirrend in ihrer Gleichzeitigkeit von Echtheit und Gemachtheit."
Abgesehen von dem sehr wesentlichen Fokus auf die Bedingungen und Folgen der Pränataldiagnostik sei "für den Theaterbetrieb, zumal in der Schweiz, auf jeden Fall ungewöhnlich" die Art und Weise, wie die Bedingungen des Schauens und des Spielens locker inszeniert würden, gibt Tobi Müller im Deutschlandradio Kultur (10.2.2017) zu Protokoll: "Wenn sich Gianni Blumer und Fabienne Villiger ausziehen und streicheln, wenn sie aus den Rollen der Pasolini-Erniedrigten fahren und nackt zur Zärtlichkeit finden, schnappt die Falle mehrfach zu. Denn wer hier auf der Bühne steht, ist unser Blick, unsere Sehnsucht, mit diesen Behinderten einen Moment der Authentizität zu genießen, ihnen etwas 'Echtes' zu gönnen", so Müller. "Dass man damit den Kunstcharakter in Abrede stellt und sie als arme Behinderte, statt als Schauspieler fasst, ist die kleine Perfidie. Ein großer Effekt."
"Die Frage nach den Grenzen des guten Geschmacks prallt an diesem Theaterabend ab wie ein Wassertropfen von einer Teflonpfanne", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.2.2017). "Das liegt einerseits an der Transparenz, mit der er seine Entstehungsgeschichte, also die Vorbereitungen, Gespräche und den Probenprozess, reflektierend miteinfließen lässt, mehr noch aber daran, dass der Zuschauer weiß, dass alles, was an Greueltaten gezeigt und verhandelt wird, seine Entsprechung im Realen hat." Jede Provokation sei kühl kalkuliert "und der ganze Abend auf eine Weise durchdacht, die von abgefeimter Durchtriebenheit nicht leicht zu unterscheiden ist". Doch auch scheinbar schonungslose Selbstreflexion heile nicht alle Wunden, die der Wille zum Tabubruch schlägt. "Milo Raus Immunisierungsstrategie ist ausgeklügelt und hat doch einen blinden Fleck." Rau falle dem Übertretungsehrgeiz zum Opfer, mit dem er versuche, die Grenzen des Sagbaren und Darstellbaren auf der Bühne immer mehr zu erweitern. "Er gehorcht der Logik, die jene Zustände hervorgebracht hat, die er kritisieren will."
"Es sind die pointierten Mehrdeutigkeiten, die an dieser Inszenierung faszinieren, die in sich widersprüchlichen Situationen, die sie zu schaffen weiss", findet Andreas Klaeui im Schweizer Radio und Fernsehen SRF (13.2.2017). Im Plädoyer für die "heiteren Idioten" finde sie ihre direkte Botschaft, "und da schrickt Milo Rau auch vor Pathos nicht zurück. Wenn es ein Skandalon gibt an diesem Abend, eine Zumutung im produktiven Sinn, dann ist es sein Moralismus", so Klaeui: "Aber als wäre er vor sich selbst erschrocken, besänftigt Milo Rau das Pathos sogleich wieder mit erzählerischer Glätte und distanzierender Kontrolle – und nimmt dem Abend damit viel von seiner Kraft."
Milo Rau haue sich einen Weg durchs gepflegte Glashaus der Sehgewohnheiten des bürgerlichen Theaters, schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (13.2.2017). Das sei beunruhigend, "aber nicht durch den Horror der sadistischen Szenen und auch nicht durch die unbarmherzigen, grausam langen Nackt- und Halbnacktauftritte der elf geistig behinderten Schauspielerinnen und Schauspieler", sondern dadurch, dass sich "eine gewisse Langeweile" breitmache, die "gekonnten, freilich altbekannten Brechungsmechanismen" teils arg reflexhaft und routiniert wirkten. Aber das "soll wohl so", reflektiert Kedves: Rau erzähle von der strukturellen Gewalt in unserer Gesellschaft. "Einer, der seine 'Kritik der postmodernen Vernunft' unter dem Lenin-Titel 'Was tun?' veröffentlicht hat, erspart uns nichts, auch nicht die öde Brutalität unserer Verhältnisse. Und auch nicht unsere Schuld."
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ich bin entsetzt von Ihrer Rezension.
Sie schreiben von schönen Menschen. Und exkludieren sofort alle Hora Schauspieler aus diesem Konzept.
Sie schreiben von dem bedauern gegenüber "schönen Naziopfern". Und fühlen sich nun vor ein Problem gestellt, wenn die Naziopfer nicht ihrem Schönheitsempfinden entsprechen.
(...)
Ich bitte Sie das nicht so stehen zu lassen!
(Sehr geehrte*r Mister M, wir danken für den Hinweis und haben die entsprechende Stelle leicht verändert, um Missverständnissen vorzubeugen – mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion)
ist es das, dass wir aufatmen, wenn Rau die Grenze dieses Mal nicht überschreitet, und uns doch freuen, auf seinen nächsten Zirkus, mit dem er zum Pornographen des performativen Theaters wird.
Ich kann nicht glauben, dass diese Projekte finanziert werden, bei denen ich mich für jeden Zuschauer schäme, der sich benutzen lässt, und die behinderten Menschen der Gruppe Hora damit benutzt.
Mit welchem Argument ist das gerechtfertigt? In einem Konzept, dass von Rau vorgefertigt und bis ins Kleinste ausgetüftelt ist, so dass den Spielern kein Nanometer mehr Raum bleibt, um eigene Ideen einzubringen. Es ist eine sanft verpackte Form eines Abusus.
Ein Missbrauch mit einer großen blauen Schleife um das Paket, das Rau, der große Jongleur d Lobbyist geschnürt hat.
Und noch etwas. Es ist eine weitere Form eines Todes des Theaters. Ein Drehbuch zu schreiben für einen Theaterabend erinnert an ein Musical, in dem die Figuren nach einem vorgefertigten Plot und mit kleinen Text Versatzstücken durchgestellt wurden. Und genau so muss sich jeder fühlen, der an diesem Abend teilgenommen oder zugesehen hat - durchgestellt. Gebt das Geld den behinderten Menschen, die uns ohne Hütchenspieler ihre Geschichten erzählen, in ihrer Sprache, in ihren Bildern. Oder lässt eine Gruppe behinderter Menschen einen Dokumentartheaterabend konzipieren, mit Milo Rau und seinen Claqueuren auf der Bühne. Das wäre einhundert Mal ehrlicher!
Begreift es denn niemand hier, das wir an der Nase herum geführt werden, dass sich kein Kritiker - außer Hubert Spiegel in der FAZ - mehr traut, etwas einschränkendes zu schreiben, weil er oder sie um ihren Ruf fürchtet, vielleicht als zu bieder zu gelten? Ist das alles? So ein kleines bisschen eitle Angst eingetauscht gegen den Schutz, den wir versprochen haben den behinderten Menschen in unseren Gesellschaften für immer zu geben?
Dieser Abend beruht auf einem doppelten Missbrauch. Wir alle sind dafür verantwortlich, dass behinderte Menschen gut integriert in unserer Gesellschaft leben können und in keiner Weise ausgenutzt werden.
(…)
Wieso empören wir uns nicht darüber, dass einer so unverfroren ist, die Grenzen immer wieder zu überschreiten.
Wir sind die Frösche in Rau's Kochtopf, der die Temperatur des Wassers immer höher schraubt.
Ich bin empört über Rau's Arbeit. Ich will und werde mich nicht an solche grausamen Aktionen gewöhnen.
Prozesse, Massaker, Amokläufe, Kinderpornographie, Missbrauch Schutzbefohlener. Das möchte ich nicht sehen.
Und das ist Öl ins Feuer derjenigen, die das Theater als unnötige Etatposition streichen möchten.
Was kommt als nächstes? Und mit welcher künstlerischen Intention?
Ich möchte keine Phrasen hören über den Schutz des Erbgutes, die auf alles und nichts passen. Und der Preis dafür sind 11 Menschen, die verführt werden, weil wir es zulassen, zusehen und am Ende noch Beifall klatschen.
Ich will sehen, wie eine künstlerische Idee in Theater verwandelt wird.
Milo Raus Abende sind kein Theater. Es handelt sich um Positionen, die von Festival zu Festival weitergereicht werden. Mehr nicht.
Wer kann mir glaubhaft erklären, dass das auch nur einen Pfifferling wert ist?
Auch ist diese Art "geistiger Behinderung", die hier - widerliches Wort wenn Theater beschrieben wird: "verhandelt" wird, sehr unterschiedlich bei einzelnen von ihr betroffenen Menschen ausgeprägt. In sehr vielen Fällen hat sie durchaus auch sehr viel weitergehende körperliche Einschränkungen für ein eigenständig wesentlich unbetreutes Leben zur Folge, als das erfreulicherweise für die Hora-Schauspieler der Fall ist. Es gibt Eltern von betroffenen Kindern, die sich buchstäblich beinahe selbst abschaffen dafür, dass das Kind, das sie lieben, so gut gefördert werden kann wie es die Gesellschaft und ihre persönlichen Einkommensverhältnisse es nur irgend gestatten - und aus deren speziellem Kind trotzdem niemals ein für Theaterrampenlicht tauglicher Schauspieler werden wird... Es gibt junge erwachsene Betroffene, die sehr gern auch auf einer Matratze jemanden kosen wollen würden und selbst eine Art Sexualität ausleben wollen würden - die trotzdem - auch bei einem ihnen liebevollst zugewandten Umfeld - keine Gelegenheit dazu finden oder haben werden, solange sie leben. Und es gibt auch die Tatsache, dass es ganz alltäglich spürbare körperliche Beeinträchtigungen gibt bei dieser Art von "geistiger Behinderung", die dazu führen, dass die Lebenserwartung von Betroffenen nicht so hoch ist. Ihnen allen gemeinsam ist aber eine Art Fähigkeit, wahrscheinlich gar Notwendigkeit, Emotionen ungefiltert zu äußern. Das ist sehr oft bis ins reifere Erwachsenenalter hinein sehr angenehm für das Umfeld, weil diese Kinder sehr viel, überdurchschnittlich viel, Liebe und Anhänglichkeit ungefiltert zeigen können. Als besäßen sie ein tieferes Verständnis für Lebens Freude als die sogenannten normalen Menschen. Es ist aber auch eine Wahrheit, dass das später oft auch in ebenso ungefilterte Aggressivität umschlagen kann - Eltern oder Betroffene, die sehen, was den Schauspielern Horas trotz ihrer Einschränkungen möglich ist an Emotionen zu kanalisieren und darzustellen, und die wissen, dass es bei ihnen selbst oder ihrem eigenen Kind nie so möglich sein wird, können nur Rotz und Wasser heulen, wenn sie das sehen. - Und auch sehr verletzt sein vom Theater durch diese KunstKunst. Zum Beispiel, weil sie selbst auf eine pränatale Diagnostik einst bewusst verzichtet hatten oder sich sogar trotz Behinderungs-Voraussagen für das Kind entschieden hatten. Fuck the Manifeste! - Ich habe das Theater früher sehr geliebt - aber jetzt ekle ich mich manchmal nur noch vor ihm und seinen erklärten Intentionen halb tot-
Diese Szene ist erprobt und angeschafft, und nicht das, was Rau's Theater einmal wollte: authentisch. Wieso ist an diesem Abend alles durchgeprobt, durch gescripted und genau so wie Meister Rau es will. Nur gehe ich aus diesem Abend heraus, etwas benommen, und frage mich, was das war?
Die Künstler von Hora sind zu verehren. Ihre Projekte und Abende haben Bedeutung. Ihr Anteil an diesem Abend ist hoch, aber das Konzept ist unwürdig. Zudem ist wie fast alles bei Rau zu schnell zusammen geschustert. Zu viele Ideen, zu viele Projekte, zu viel von allem, aber konzeptuell kaum durchdrungen.
# Barthes
Dito.
Ich bleibe dabei: Wir werden manipuliert von einem der uns zu wenig davon verrät, was er eigentlich will? Ich misstraue jeglicher Form des Opportunismus, der bei denen am besten und drängendsten sichtbar wird, die auf die skandalösen, Aufmerksamkeit ziehenden Themen geht, dort wo das Licht ist.
Künstler arbeiten im verborgenen, sie scheuen sich vor dem Moment der Wahrheit, sie stellen ihr Werk in frage, sie ziehen sich zurück und scheuen das Licht. Nicht umsonst sind im Theater die Probenräume die dunkelsten Orte.
Theater braucht keine skandalösen Themen um gut zu sein, Marthaler, Luz, Nübling, u.a. Sind gute Beispiele dafür. Skandal ist Event und keine Kunst. Milo Rau wäre ein grandioser TV Producer.