Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien) - René Pollesch am Schauspielhaus Zürich
Ein Händchen für den Knacks
von Andreas Klaeui
Zürich, 14. Dezember 2018. Manzini heisst ein italienischer Krimiautor, aber auch ein Café in Berlin-Wilmersdorf, in dem Literaten gerne für sich ihre Literatennachmittage verleben. "Eine Chiffre für: Alles bleibt gleich", sagt ein geistreicher Connaisseur, um maliziös anzufügen: "Ein Stück Schweiz in Berlin." Mag sein, dass René Polleschs neuer Zürcher Abend deshalb hier entstanden ist (sein soll), wie Martin Wuttke jüngst dem Zürcher "Tages-Anzeiger" anvertraute. Der Gedanke wäre ja zu schön. Vielleicht aber auch nur, weil Wuttke gleich um die Ecke wohnt. Oder weil der Titel einfach so gut klingt. Die Ober im Manzini wissen jedenfalls sehr genau, was für ein Ort das ist und dass er keinen Preis hat. Im Gegensatz zu den in Zürich Auftretenden R, K und M, die weder aus noch ein wissen, Anfang und Ende durcheinander bringen und in all dem Durcheinander auch den Stücktitel völlig außer acht lassen.
Kuscheln mit Kingkong
Sechs Stunden harten Bühnenackerns hätten sie bereits hinter sich, behaupten sie gleich im ersten Satz, "das ist das Ende" nach einer Sechsstundenaufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum", und so sehen sie auch aus (in den Kostümen von Sabin Fleck): leicht lädiert hotzenplotz-sommernachtstraummäßig gestylt. K(atie Angerer) verwechselt die Vorbühne überdies mit der Couch eines Psychiaters und will unbedingt einen "ganz schlimmen Sommernachtstraum" erzählen.
Dazu kommt es nicht. Aber der Futur-II-Shakespeare wird im Lauf des so kurzen wie kurzweiligen Abends immer länger, auf gewichtige vierundzwanzig Stunden dehnt er sich zuletzt aus, wenn ich richtig mitgezählt habe, und das hat insofern seine Richtigkeit, als es an diesem Abend tatsächlich wie bei Shakespeare um die Liebe geht und um den Knacks. Ums Theater also. Um die ersten und die letzten Dinge und alle Möglichkeiten dazwischen – und die Problematik ihrer Repräsentation. "Warum nicht einfach mal mit dem Ende beginnen, mit der Panik anfangen?", fragt M(artin Wuttke), was aber naturgemäß nicht weiterhilft, denn die eigentliche Frage ist ja: "Wie kommt der Knacks in das Innen? Und was ist das überhaupt: das Innen?"
Auf der Zürcher Pfauenbühne ist es eine Zarathustra-Wasserfall-Lounge, die sich nach dem epilogischen Vorspiel auftut und King Kongs sich herabsenkender Monsterhand einen stilvollen Rahmen bietet. Shakespeares Zauberwald ist verloren, statt Elfen gibt es nurmehr Affen. King Kong trat auf der selben Bühne schon mal auf in Polleschs Zürcher "Fahrenden Frauen", jetzt ist er noch durch ein Partialelement repräsentiert und unglaublich anschmiegsam. Alle wollen sich in seine Hand reinlegen, Kuscheln mit King Kong, und jedesmal wird es nochmal zum Highlight an diesem an Highlights ohnedies nicht armen Abend. Marie Rosa Tietjen, die sich Finger um Finger an ihm emporräkelt; Kathrin Angerer, die stummfilmmäßig, aber sprachgewaltig mit ihm, den sie "Mäxie" nennt, hadert; Martin Wuttke, der bei ihm in allen denkbaren Verrenkungen Schlafpositionen sucht und zuletzt in der am wenigsten wahrscheinlichen tatsächlich kurz zur Ruhe kommt: nämlich aufgespannt zwischen Daumen und Zeigefinger des Monsters.
Überhaupt erweist Wuttke sich an diesem Abend als Perückenmeister der repräsentativen Bewegung, oder der Differenz, mithin: der Kontingenz, was für die vorliegenden Pollesch'schen "Studien" gewiss ein unausgesprochener Schlüsselbegriff ist. Dramatisches Spektakel und sein Gegenteil, die unscheinbare Verwerfung sind Konzepte, an denen er sich abarbeitet, eben der Knacks: "Wie wäre es denn mit einer ganz anderen optischen Politik?" Der Satz fällt wiederholt, und vielleicht lässt er sich sogar als so was wie ein dramaturgisches Motto lesen – jedenfalls war seit langem kein Pollesch-Abend so entspannt, so vergnügt, auch so theatersinnlich wie dieser. So einnehmend, was nicht heißen will, ein Leichtgewicht. Das Fundament ist hart: Donna Haraway, Sigmund Freud, Gilles Deleuze … wenn man erst mal anfängt zu graben, nehmen die Zitate, Referenzen, Verweise kein Ende.
In der Gedanken-Destillerie
"Ich weiß nicht, was ein Ort ist …" ist ungemein witzig und klug, und getragen von dem hochansteckenden Drive des Virtuosen-Trios Tietjen, Angerer, Wuttke – es ist ja ein Vorteil der Volksbühnen-Zerschlagung, dass Schauspieler*innen wie Angerer und Wuttke nun vermehrt in der Diaspora zu sehen sind. Auch wenn man umgekehrt – der hinreißenden Beteiligung der ihrerseits mehrfach schon pollescherprobten Marie-Rosa Tietjen zum Trotz – bei dieser Produktion nur schwer noch von einer Ensemble-Produktion des Schauspielhauses sprechen kann.
"Alles ist immer noch wie immer", sagt Wuttke, und da sind wir dann doch ganz in der Manzini-Schweiz. "Die Körper sind immer noch in Ordnung: bis auf den Knacks." Pollesch hat immer auch was von einem unbefangen forschenden Kind, das den Dingen ganz auf den Grund kommen will, etwas Unentwegtes. Es geht ihm um das Ausreizen, um die Übertreibung, die höchstmögliche Steigerung, und damit einher geht Klarheit, im Sinn eines hochprozentigen Destillats. Nach anderthalb Stunden rauscht dem Zuschauer der Kopf – und er fühlt sich wunderbar beflügelt. Oder, um in der Begrifflichkeit des "Sommernachtstraums" zu bleiben: Pollesch-Abende sind so etwas wie ein kurzer, heftiger Flirt. Sie stürzen sich in einen hinein, sie reizen die Situation aus, und hinterher hängt man ihnen ein wenig benommen nach. Weiß nicht mehr, waren das jetzt neunzig Minuten oder vierundzwanzig Stunden. Aber fühlt sich frisch belebt.
Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Sabin Fleck, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit: Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen, Martin Wuttke.
Premiere am 14. Dezember 2018
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Nicht lustig, sondern weh" findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (18.12.2018) die "Manzini-Studien": Im Kern erzähle der Abend vom "Festklammern an einen Moment, weil alles, was nicht Stillstand wäre, zur Katastrophe führte". Polleschs Figuren, "ungefiltert aufeinandertreffende Textdurchschussorganismen", seien "Anschlussfehler" wie im Film, weil in ihren Leben nichts mehr funktioniere. "Es geht um den Bruch, den Riss, der Beschädigung an sich, in einem Leben oder einem Porzellan-Service."
Pollesch habe einen absurd-intelligenten Text gebastelt, "über Zeit und Leben, Tod und Niedergang, Einmaligkeit und Wiederholung, und über die zwei Möglichkeiten, die einem bleiben und die dann oft keine Alternativen sind und manchmal auch nicht zwei", so Valeria Heintges in der Aargauer Zeitung (17.12.2018). Längen habe der Abend auch. "Aber er hätte auch gerne noch länger gehen dürfen."
"Hin und weg, gnadenlos angeschlossen ans erbarmungslose, hart komödiantische Suada-Theater" des René Pollesch ist Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (16.12.2018). Mit Verve erzähle uns Pollesch von den Ich-Verwerfungen der Gegenwart. "Weil Polleschs Spektakelmaschinerie diesmal so niedertourig wie selten fährt, gleitet man ab und zu ins selige Theaternirwana. 6, 8, 24 Sekunden. Doch dann ist der Anschluss wieder voll da."
"Wo ist die übliche Leichtigkeit der Polleschschen Geistesluftballons geblieben? Durch tiefe Melancholie oder Poesie ist sie jedenfalls kaum ersetzt worden, eher durch ein paar halbgare Kalauer", berichtet Tobias Sedlmaier in der Neuen Zürcher Zeitung (16.12.2018). Dieses "für Pollesch geradezu meditative Stück ohne hektische Video-Einblendungen erstarrt in der eigenen Beliebigkeit. Alles meta, oder was?"
Obwohl "die Schauspieler pollesch-artig hübsch durcheinander parlieren, ist es diesmal nur vordergründig lustig", berichtet Christian Gampert auf Deutschlandfunk Kultur (14.12.2018). Der Kritiker fand sich im gewohnten "Labyrinth der Zitate" wieder, "die allerdings alle auf die lebenstechnische Hilflosigkeit der Bühnenfiguren bezogen sind". Für "Polleschs Verhältnisse" sei dieser Abend "ungewohnt sentimentalisch".
"'Ich weiss nicht, was ein Ort ist' entfaltet eine furiose Reflexion über Grenzen, Sinn und Möglichkeiten des Theaters, aber die scheinbare Schlichtheit des Konzepts macht seine Dekonstruktion umso kraft- und lustvoller", schreibt Daniel Binswanger in der Republik (19.12.2018). Es stecke in Polleschs Stück-Ansatz "nicht nur Fitzgerald, sondern auch die Fitzgerald-Lektüre von Gilles Deleuze (...). Und auch zu Lacan und zu Adorno (...) kann man viele Brücken schlagen. Man kann, aber man muss nicht. Denn das wirklich Beeindruckende von Polleschs Text besteht darin, dass er auch jenseits aller Referenzen funktioniert", so Binswanger. Aus ihrer immanenten Konstellation heraus wirkten Polleschs Figuren verschoben – und rasend komisch. "Dass sie so viel komische Fallhöhe haben, obwohl wir doch schon lange am Ground Zero der Sinnhaftigkeit sind, dass wir unweigerlich lachen, ist das Mirakel dieses Theaters."
"Dieser Theaterabend glitzert und strahlt, ist intelligent und unterhaltsam", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.12.2018). "Ich weiß nicht ..." sei "das beste Pollesch-Stück seit langem. Weil es so unvermittelt und ehrlich ist. So geradeheraus, ohne viele Schlenker auf das Entscheidende zu sprechen kommt: Die Überzeugung, dass das ganze Leben sprachlich nicht zu fassen ist", so Strauss. "Was Pollesch kann, zeigt er in Zürich in Bestform: Nämlich die grundlegenden erkenntnistheoretischen Haltungsprobleme der Postmoderne nicht einfach nur abstrakt zu thematisieren, sondern sie durch Wort- und Körperspiele sinnlich auszudrücken."
Katja Kollmann von der taz (7.6.2019) sah den Abend beim Gastspiel auf den Autorentheatertagen des DT Berlin. Zeitreflexionen stünden in diesem Pollesch im Vordergrund, schreibt sie. "Herrlich groteske Nichtdialoge ergeben sich und hintergründige, verbale Situationskomik führt den Humor ins Festival ein."
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Die Verwirrung wird noch größer: Hat das Stück gar nicht richtig begonnen? Wurde überhaupt gespielt? Diese Frage hört sich auf den ersten Blick nach einer neuen Wendung im Hirnverknäuelungs-Assoziations-Theater von René Pollesch an, hat aber einen sehr ernsten Hintergrund: Genau das ist der Vorwurf, der dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikow gemacht wurde. Er soll Geld für einen „Sommernachtstraum“ veruntreut haben. Die Inszenierung, von der es nicht nur Plakate, sondern auch Augenzeugenberichte und Rezensionen gibt, soll nie stattgefunden haben: Willkommen bei Franz Kafka und in Wladimir Putins gelenkter Demokratie.
Die drei Spieler*innen schweifen von der Frage nach dem Sein oder Nichtsein ihres Sommernachtsalbtraums schnell ab und werden grundsätzlicher. Mit Schmollmund-Weltschmerz konstatiert Angerer: „Alles Leben ist ja eh ein Prozess des Niedergangs.“ Die anderen beiden stimmen mit ein und philosophieren, inspiriert von F. Scott Fitzgerald, über den „Knacks“. Pollesch-Kenner wissen, dieses Leitmotiv hat er vor kurzem auch in „Black Maria“ durch seinen Theorie-Fleischwolf gedreht. Der „Anschlussfehler“ zieht sich als Running Gag ebenfalls durch beide Arbeiten, die kurz nacheinander nur mit dem Abstand weniger Wochen entstanden sind.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/06/ich-weiss-nicht-was-ein-ort-ist-rene-pollesch-schauspiel-zurich-kritik/
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/04/mein-freund-der-knacks/