DAU in Paris - Das in Berlin gescheiterte Event um 13 Filme von Ilya Khrzhanovsky findet doch noch statt
Von der Schrumpfung des Scheinriesen
von Michael Wolf
Paris, 27. Januar 2019. Hätten sie die Chose doch nur abgesagt! Am Donnerstag verweigerten die Pariser Behörden aus Sicherheitsgründen die Zulassung für das Großevent "DAU". Was für eine Gelegenheit, den Crétins von der Präfektur das Scheitern in die Schuhe zu schieben. Ohne jemals eröffnet zu werden, wäre "DAU" als Mythos, als Sammlung von Gerüchten und Legenden in allerbester Erinnerung geblieben.
Schon die Vorgeschichte klingt nach einem frivolen Abenteuer. Von einem Oligarchen finanziell üppig ausgestattet, baute der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky das Labor des sowjetischen Physikers Lew Landau (1908-1968) nach. Aber anstatt, wie anfangs geplant, nur einen Dokumentarfilm zu drehen, verbrachten er und seine Mitstreiter dort fast drei Jahre in einer verschworenen Gemeinschaft (Kritiker behaupten: Sekte). Sie spielten nicht nur die Sowjetunion nach, sie lebten den Alltag der Menschen in einem geheimen Forschungsinstitut der 40er und 50er Jahre. Schauspieler, Prostituierte und echte Wissenschaftler waren mit von der Partie, als Physiker, KGB-Offiziere und einfache Arbeiter im Dienste eines monströsen Kunstvorhabens.
Erwartung und Chaos
Aus 700 Stunden Material sind bislang 13 Filme geschnitten worden. Beim "DAU" in Paris sollten sie im Rahmen eines spektakulären Events erstmals gezeigt werden. Aber die Kühnheit, die Großartigkeit des Vorhabens vertrug den Schritt in die Wirklichkeit nicht. Mit den riesigen Erwartungen im Rücken schrumpft die Eröffnung auf das Niveau einer ambitionierten Filmpremiere. Woran liegt's? Zunächst an der offenbar chaotischen Organisation. Ursprünglich war die Premiere für Berlin vorgesehen. Aber den Machern gelang es nicht, die Stadt von dem Projekt zu überzeugen. Offiziell wurden bürokratische Gründe für die Ablehnung genannt. Wahrscheinlich hatte man von Seiten der Stadt aber schlicht Angst vor der eigenen Courage. DDR-Bürgerrechtler liefen Sturm gegen den Plan, eine Kopie der Berliner Mauer zu errichten. Teile der Berliner Presse fuhren eine regelrechte Kampagne gegen das Projekt. Letztlich muss man den Berliner Bedenkenträgern dankbar sein für ihre vorauseilende Kleinmütigkeit.
Auch in Paris lief nichts wie geplant. Ursprünglich sollte die Installation im Théâtre de la Ville und im Théâtre du Châtelet zu begehen sein. Beide Häuser werden derzeit saniert. Am Tag der Eröffnung verweigerten die Behörden in letzter Sekunde ihre Genehmigung. Ein Publikumsverkehr war in den entkernten Häusern nicht zu verantworten. Enttäuschte Gesichter allenthalben. Am Freitag gab die Präfektur immerhin das Théâtre de la Ville frei. DAU konnte also doch stattfinden. Und das ist das womöglich größte Unglück für diese Veranstaltung. Es bleibt nicht viel übrig von diesem Abend, dass sich im Vorfeld als bislang "größtes Kulturereignis dieses Jahrhunderts" feierte.
Aufgekratzt in der Stalin-Zeit
Ist das Smartphone in einem Spind verschlossen, lotsen uns Mitarbeiter durch Metalldetektoren, die nicht funktionieren. Es geht offenbar weniger um Sicherheit als um die Atmosphäre eines Polizeistaats. Lew Landau selbst wurde, obgleich vom Staat hochdekoriert, in der Stalin-Zeit inhaftiert. Hier wirkt das Szenario aber kein bisschen bedrohlich. Bei den aufgekratzten Gästen ist Party-Stimmung angesagt. Mitarbeiter in grauen Overalls schenken Getränke aus und servieren Büchsenfleisch aus sowjetischer Produktion. Es gibt aber auch Coca Cola und man darf gern mit Karte bezahlen. Ein immersives Erlebnis solle "DAU" sein, hieß es im Vorfeld. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Im dritten Stock nimmt der Tanz um die dumme, heilige Kuh Authentizität ein geradezu ärgerliches Ausmaß an. Dort dürfen wir typische sowjetische Wohnungen aus den 50er Jahren begutachten. Wer schon mal eine Signa-Performance besucht hat, ahnt, was in einem solchen Setting möglich gewesen wäre. Aber nein: ein paar antike Schränke, schmale Betten, etwas Nippes und leere (!) Fotoalben müssen genügen, um ein Gefühl für die Zeit zu entwickeln. Und es genügt tatsächlich: Das Gefühl heißt Gleichgültigkeit.
Natürlich ist das auch den widrigen Bedingungen geschuldet. Beim Kauf eines Tickets – Visum genannt – müssen die Besucher eine Reihe persönlicher Fragen beantworten (Verhältnis zu den Eltern, Sexualität, Beziehungen, etc.). Basierend auf den Antworten sollte ein Algorithmus jeden Zuschauer auf einer personalisierten Route leiten. Das Ziel war offenbar, nicht nur das Institut sondern auch das eigene Ich zu erkunden. Durch die Sperrung des Théâtre du Châtelet ist all das hinfällig. Es gibt keine Smartphones, man bewegt sich frei durch die Räume.
Verhör oder Tröstung
Es hieß im Vorfeld zudem, man werde zum Abschluss von einem echten Spion verhört oder einem Geistlichen zur Beichte gebeten. Von der Idee einer persönlichen Erfahrung bleibt nur ein Gespräch in einem engen Kasten übrig. Die nette Vierzigjährige mir gegenüber scheint weder Agentin noch Priesterin zu sein. Vor allem aber weiß sie nichts über mich, kennt keine meiner Antworten aus dem Fragebogen.
"Also, wie läuft das jetzt?"
Sie sagt, das hier sei einfach die Gelegenheit, mal zu reden.
"Ja, über was denn?", frage ich.
Sie schlägt Liebe vor. Ich winke ab.
"Und über Gott?"
Na, wenn's sein muss.
Immerhin lässt sie sich zu einer kleinen Regelverletzung verleiten. Eigentlich dürfe sie nichts Persönliches erzählen, aber dieses Projekt, das liege ihr am Herzen, weil es um Existenz gehe. Zeit aufzubrechen.
Immerhin wollen wir Filme gucken. Die stehen in keinem Verhältnis zu dem konfusen Dilettantismus dieser Veranstaltung. In mal herausfordernd, mal quälend langen Einstellungen verfolgt Kameramann Jürgen Jürges die Darsteller durch ihren Alltag in diesem kommunistischen Disneyland. Sein Blick auf die Welt ist der eines Voyeurs. Die Settings in den Filme sind im Gegensatz zu den Räumen im Théâtre de la Ville mit viel Liebe zum Detail gestaltet. Einer der Langfilme beginnt mit einem Disput darüber, wie ein Boden richtig zu wischen sei. Der sadistische Leiter der Putzkolonne gerät mit der jungen Chefin der Kantine aneinander. Als beim folgenden Saufgelage die alte Putzfrau Stepanowa in einen Eimer kotzt, spricht ein Kamerad sanft auf sie ein: "So ist gut. Geht es dir besser? Sag, glaubst du an die kommunistische Partei?" Später wird er seinem Kollegen Sascha eine Liebeserklärung machen. Aber der will nur ficken. Anders lässt es sich nicht sagen. Der Mittelteil des Films besteht aus diesem tragischen Zusammenprall: zartes Begehren auf der einen Seite; Grobheit, Gewalt und fiebriger Rausch auf der anderen.
Humanismus und Widerstand
Die "DAU"-Filme lassen uns die Sowjet-Zeit mit den Augen des Anderen sehen, desjenigen, der zum Teil des Kollektivs werden soll. Der Kommunismus war der letzte, und vielleicht umfassendste Versuch, das Individuum mit der Gesellschaft zu versöhnen. Es war ein Ordnungssystem, das den Einzelnen forderte und überforderte. In den Filmen zeigt sich: Der Mensch ist nicht genug Mensch für den Humanismus. Er widersteht der Kontrolle, ergibt sich nicht völlig in die Struktur, sein Widerstand entlädt sich eruptiv in Gewalt und selbst beim Gruppensex nicht zu kollektivierender Geilheit.
In einer Szene erklärt ein Physiker seine derzeitige Forschung: "Die theoretische Physik versteht das Leben nicht. Eigentlich müsste es in Chaos versinken, aber es herrscht Ordnung. Deswegen müssen wir alle Experimente zu Turbulenzen ernst nehmen." Das ganze Projekt scheint ein solches Experiment zu sein. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Alle ringen darum, die Ordnung zu bewahren, wo nie eine bestand. Die Wissenschaftler suchen ihr Heil in der Erkenntnis einer Wahrheit, die sie bespitzelnden KGB-Agenten versichern sich ihrer selbst über eine Flut von Dokumenten und Formularen, Lew Landau selbst will seine notorische Untreue vertraglich festlegen.
Und auch Ilya Khrzhanovsky ringt um eine Form für sein maßloses Projekt. So viel ist nach der Eröffnung evident: Im Kino wäre "DAU" besser aufgehoben. Wo man Turbulenzen beobachten kann, braucht man keinen Trubel drumherum.
DAU
Regie: Ilya Khrhzanovsky, Set-Design: Denis Shibanov, Kamera: Jürgen Jürges, Mitarbeit: Ilya Permyakov, Jekaterina Oertel, Anatoly Vassiliev, Alexei Slyusarchuk. Beratung und Mitarbeit bei einzelnen Projekten: Marina Abramović, Romeo Castellucci, Teodor Currentzis, Carsten Höller, Peter Sellars, Brian Eno, Rei Kawakubo, Robert del Naja, Produzentin: Martine d’Anglejan-Chatillon.
Produziert von Phenomen Films, London, Koproduzenten: Eurimages / Le Fonds Culturel du Conseil de l’Europe; Medienboard Berlin Brandenburg; Mitteldeutsche Medienförderung; Arte WDR; Essential Filmproduktion; Arte Cinéma, Staatliche Ukrainische Film Agentur; Schwedisches Film Institut; Film i Väst; Plattform Produktion; Hubert Bals Fond.
DAU in Paris vom 24. Januar bis 17. Februar 2019 im Théâtre de la Ville und Centre Pompidou.
www.dau.xxx
Das vor über zehn Jahren begonnene "Projekt einer monumentalen Comédie humaine als Laborversuch in den Kulissen sowjetischer Eiszeit" mit seinen zeitgerecht ausstaffierten sowjetischen Wohnstuben, Wodkaschenken und Funktionärsbüros hat Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (27.1.2019, 18:41 Uhr) nicht überzeugt: "Über die Wirkung von inszenierten Museumsräumen, wie man sie schon dutzendmal gesehen hat, kommen sie kaum heraus." Auch die dargebotenen Gespräche und Vorträge diverser Fachpersonen grenzten an Scharlatanismus: "So viel zu wollen und so wenig zu können ist auch schon fast eine Leistung." Noch enttäuschender findet Hanimann nur die 13 "DAU"-Filme, sodass er im Vorfeld artikulierten moralischen Einwände gegen die "real gefilmten Gewaltszenen" nun unterschreiben kann: "Wo das Ergebnis (…) so weit hinter der Idee zurückbleibt, sind diese schwer abzuweisen."
Niklas Maak hat für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.1.2019) die nachgestellte Kommune einer nachgestellten Kommune aufgesucht und seltsam blassen "poststalinistischen Schamanismus" gefunden. Das Projekt ähnele eher einer "Studentenparty im Audimax", die gefilmten Szenen aus Ilya Khrzhanovskys Menschenexperiment – bei dem sich der Künstler selbst in Sachen Gewalt und Manipulation angeblich nicht zurückhielt – sorgen bei ihm eher für Achselzucken: "sehr, sehr langweilig". Es gehe darin weniger um das historische Russland als darum, wie eng die Ablehnung von Konventionen, das Herbeiführen von etwas Neuem und Zivilisationsbrüche beieinander lägen. Aber: "Was DAU mit Auftritten von Schlägern und Prostituierten als Bild der 'menschlichen Natur' mystifiziert, ist der übliche Existentialkitsch, mit dem abgründige Verhaltensweisen und Machtverhältnisse als Ausdruck des menschlichen 'Wesens' zementiert und politischer Veränderbarkeit entzogen werden."
Martina Meister von Der Standard (26.1.2019, 10:00) hat auf ihrer Reise in die Vergangenheit eine "Wunderkammer des Homo sovieticus" entdeckt und einen Trailer gesichtet, "ein Mix aus Sex und Quantenphysik, eine eigene, befremdende Ästhetik, dazu philosophische Sätze wie: 'Das Glück existiert nicht, es ist eine Illusion.'" Ob das "Kunstprojekt, das im Vorfeld wahlweise genial, größenwahnsinnig oder grenzwertig schien", sein Versprechen einlöse oder dieses vielmehr leer bleibe, das werden die kommenden Wochen zeigen.
Einen "Rundgang mit Hindernissen" absolvierte Harry Nutt für die Frankfurter Rundschau (27.1.19, 10:23). Die Bildwelt, die Ilya Khrzhanovsky entfache, sei "rau, atemlos und wild. Inzest, Gewalt gegen Menschen und Tiere – der Filmteppich, der über dem Projekt ausgebreitet wird, will auch die Entfaltung eines obsessiven Rausches zeigen." Er attestiert, dass es eine "gewisse Kunstgläubigkeit" bräuchte, um "unbeschadet durch die verwinkelten Räume zu kommen", ist dem Regisseur jedoch dankbar dafür, dass er mit "DAU" auf die Lebensgeschichte des Physik-Nobelpreisträgers Lew Landau aufmerksam macht.
"The restaurant, the apartments: These blundering bits of immersive theater did little, if anything, to enrich Mr. Khrzhanovsky’s films", so Joshua Barone von der New York Times (28.1.2019). "The movies, after all, are truly an achievement. They’re intimate, hypnotic, discomfiting, sweet." Und weiter: "'DAU' would be much more effective, and deserving of the hype, if the films were just screened like any other movies. They are worth talking and arguing about; the half-finished window-dressing currently surrounding them, however, is not."
"Die Vermischung von Realität und Fiktion, die DAU sein will, gelingt (...) nicht. Man bleibt Zuschauer eines sozialen Experiments, das sich mehrheitlich auf Leinwänden abspielt und sich auch nach Stunden nur bruchstückhaft erschliesst. Angeblich haben einige Teilnehmer des Experiments, ob vor oder hinter der Kamera, nicht durchgehalten; schliesslich lieferten sie sich den Bedingungen einer sozialistischen Diktatur aus, KGB inklusive. Vermutlich geht es vielen Besuchern jetzt ähnlich, wenn auch aus Langeweile oder Enttäuschung", schreibt Nina Belz in der Neuen Zürcher Zeitung (31.1.2019).
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Das wäre doch eine schöne Filmserie fürs Babylon gewesen, ganz ohne diese ganze Unsinns-KGB-Werbung als verdeckter Merchandising-Ehrgeiz da herum... Auch Werbung für Kunst ist keine Kunst, sondern halt Werbung.
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Liebe/r Schieland,
wohl kaum. Zumindest ließ das Haltbarkeitsdatum nicht darauf schließen. Es lag in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.
Verkostet wurde das Fleisch. Und es war erstaunlich schmackhaft.
Viele Grüße,
Michael Wolf
Als Berlinale Special ist der 355 Minuten-Brocken "DAU. Degeneratsia" zu sehen, außerdem wurde der knapp zweistündige Ausschnitt "DAU. Natasha“ sogar in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen. Dieser Film beginnt als Porträt der Kantinenfrau Natasha in einem sicherheitsrelevanten Forschungsinstitut zur Sowjet-Zeit: sie flirtet mit den Männern, streitet mit ihrer jüngeren und attraktiveren Kollegin Olya, säuft literweise Wodka und qualmt wie ein Schlot. Besonders hat es ihr der französische Gast-Wissenschaftler Luc angetan, mit dem sie eine Affäre beginnt.
In verwaschenen Bildern und mit expliziten Sex-Szenen schleppen sich die ersten beiden Stunden dahin, bevor der Film zum Reenactment eines brutalen KGB-Verhörs mutiert, bei dem Khrzhanovskiy und seine Co-Regisseurin Jekaterina Oertel kein grausames Detail sexueller Demütigung und Folter auslassen, bevor der Film klischeehaft-platt mit der Stockholm-Syndrom-Liebeserklärung des Opfers an ihren Peiniger endet.
Die Zweifel, was dieser Film im Berlinale-Wettbewerb zu suchen hat, wurden nach Recherchen der taz noch drängender: Frauen werfen dem Regisseur Machtmissbrauch und Manipulation vor: "Mir ging es um die Arbeit, aber darüber wollte Ilja nicht sprechen. Sondern über Persönliches, über sexuelle Vorlieben zum Beispiel. Ob man einen Freund hat, welche Orientierung, mit wie vielen Männern oder Frauen man geschlafen hat. Wenn man sich dagegen sträubte, hieß es: Du öffnest dich nicht dem Projekt gegenüber. Das gab einem ein beklemmendes Gefühl, es ist schwer zu beschreiben.“
Auf dem abgeschotteten Set, auf dem Stalin-Ära sehr originalgetreu nachgestellt wurde und das Team von der Außenwelt abgeschottet war, habe eine fast sektenhafte Atmosphäre geherrscht, berichtet die taz: "Wir steckten da alle zusammen drin. Wie in einer Sekte. Da gab es ein Oberhaupt, das alles machen konnte. Und niemand hat was gesagt, inklusive meiner."
Berlinale-Chef Carlo Chatrian wird in den kommenden Tagen einige Fragen zu beantworten haben. Auf der Pressekonferenz ließ der Regisseur Khrzhanovskiy unangenehme Fragen in einem bizarren Auftritt an sich abprallen, wie rbb24 berichtete.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/02/26/dau-natasha-ilya-khrzahanovskiy-berlinale-wettbewerb-film-kritik/
Wofür bitte wird Ihrer Meinung nach Berlinale-Chef Carlo Chatrian "in den kommenden Tagen einige Fragen zu beantworten haben"? Dafür, dass er mit "DAU. Natascha" ein Jahrtausendwerk eingeladen hat, wie es so nur alle Dekaden zu sehen ist? Der Film ist ein Meisterstück von ungeheurer, geradezu erhabener Größe und (ja, auch) Schönheit, einer Größe und Schönheit, wie sie sonst nur in den besten Werken Tschechows oder Dostojewskis zu finden ist. Wie hier am Mikrokosmos dreier Tage aus dem Leben einer Kantinenwirtin alles vorgeführt wird, was das menschliche Leben ausmacht – weit über den konkreten historischen Bezugsrahmen des Lebens im Totalitarismus hinaus – das ist schlicht und einfach umwerfend. Sicher gibt es in dem Film Szenen nahezu unerträglicher Grausamkeit, doch diese gibt es eben auch im Leben. Und darüber hinaus zeigt der Film ja auch noch mehr, er zeigt Melancholie, Sehnsucht, momentweise sogar Zärtlichkeit und Zuneigung. All dies wird jedoch nie voyeuristisch in Szene gesetzt, sondern stets mit einer tiefen Empathie und Menschenliebe gezeigt.
Das ist Kunst. Ganz, ganz große Kunst sogar! Leider ging es zumindest in den deutschsprachigen Renzensionen wie auch in der Ihrigen nie um Kunst. Stattdessen wurden dem Künstler und leider auch dem Kunstwerk selbst schon lange, bevor irgendwer es überhaupt gesehen hatte, auf der Basis von Hörensagen Vorwürfe gemacht, die von vornherein so voreingenommen machten, dass eine auch nur ansatzweise angemessene Beurteilung des Films unmöglich wurde. Als er schließlich Premiere hatte geschah das Erwartbare: die Damen und Herren Kritiker sahen ihre eigenen Vorurteile bestätigt.
Dass es jenseits derart unfairer, für den deutschen Sprachraum aber leider absolut typischer Urteile auch alternative Sichtweisen gibt, zeigt übrigens eine geradezu enthusiastische Rezension im Guardian (https://www.theguardian.com/film/2020/feb/26/dau-natasha-review-russia-ilya-khrzhanovsky).