Brandbrief zur Zukunft des Theaters - Die Landestheaterintendanten André Nicke und Thorsten Weckherlin fordern einen kulturellen Zukunftsplan
Die Hütte brennt!
6. Juli 2022. Krisen gehören zum Theater. Aber die aktuelle ist anders. Sie droht, die Theaterlandschaft nachhhaltig zu zerstören. Es fehlt an Geld, Personal, politischem Willen, um gerade die kleineren Häuser in der Fläche nach den auszehrenden Corona-Jahren durch die Herausforderungen der Zukunft zu kriegen.
Von André Nicke und Thorsten Weckherlin
6. Juli 2022. Theater-Krisen hat es immer gegeben, und über die Krise zu klagen, ist der beste Beweis dafür, dass das Theater noch lebt. Die aktuelle Theater-Krise jedoch hat eine andere Qualität: Sie nährt das Theater nicht mehr, sie zehrt es aus. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Es geht um die nackte Existenz
Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen – Theater-Schließungen, Krankheitswellen, sich ständig ändernde Rahmenbedingungen, andauernde Spielplan-Änderungen – lösten die Krise zwar nicht aus, aber sie verschärften sie. Vertrauen, Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit sind verloren gegangen. Als die Pandemie vorläufig für beendet erklärt wurde, überfiel Russland die Ukraine und schnell wurde deutlich, dass dieser Krieg mitten in Europa uns allen viel abverlangen würde. Doch für die staatlich finanzierten und tarifgebundenen deutschen Theater geht es inzwischen um die nackte Existenz!
Während Material und Energie eklatant teurer werden, Fachkräfte aller Orten fehlen, kündigen die ersten Träger:innen der Theater bereits an, dass sie die Zuwendungen kürzen müssen, da die Kommunen finanziell mit dem Rücken an der Wand stehen. Nicht zu reden davon, dass allerorts das Publikum ausbleibt und auch deshalb Einnahmen fehlen, die fest in den Wirtschaftsplänen zur Finanzierung eingerechnet und damit nötig sind. Gleichzeitig schließt der Arbeitgeberverband der deutschen Theater einen Tarifvertrag ab, der die Mindestgage in zwei hohen Stufen exorbitant steigert und mehr als deutlich nach oben setzt. Einen so hohen Tarifabschluss hat es in diesem Jahr in keiner anderen Branche mit keiner Gewerkschaft gegeben. Im gleichen Atemzug mit der verständlichen Freude über diesen Abschluss verkündet die Präsidentin der GDBA, dass dies erst der Anfang sei.
Der neue Tarifvertrag heißt Personalabbau
Für die meisten Theater heißt das aufgrund der stagnierenden oder sinkenden Zuschüsse heute schon, dass sie als nötige Konsequenz ganz konkret Personalabbau in markanten Größenordnungen planen müssen und damit – im wahrsten Sinne des Wortes – die letzten Spielräume aufgeben. Das heißt, die Theater, die ohnehin immer schon am Limit produziert haben, um möglichst viele Zuschauer:innen interessieren zu können, müssen zukünftig weniger produzieren und weniger spielen.
Für die Landesbühnen heißt das explizit, dass sie weniger Kultur in die Fläche bringen können. Welche Auswirkungen das auf unsere Gesellschaft und die Demokratie haben wird, zeigt eine Vielzahl von Studien (beispielsweise Paulina Fröhlich, Tom Mannewitz & Florian Ranft: Die Übergangenen. Strukturschwach und erfahrungsstark. Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die große Transformation), aber die Politik handelt nicht danach.
Es fehlt an Fachkräften und an Geld
Das langsame Sterben der deutschen Theater wird damit konkret und nimmt rasant an Fahrt auf. Weiter beschleunigt wird dieser Prozess durch die anstehenden notwendigen Transformationsprozesse wie Digitalisierung, Klimakrise, demografischer Wandel usw., für deren planvolle Inangriffnahme schon vorher das Personal fehlte.
Unter diesen Bedingungen verschärft sich auch die Situation am Arbeitsmarkt dramatisch: Dass in Deutschland in allen Branchen Fachkräfte fehlen, ist kein Geheimnis, aber die Theater können schon jetzt nicht mehr konkurrieren. Sie sind unter den genannten Bedingungen weder ein sicherer noch ein attraktiver Arbeitgeber. Und gerade diejenigen, die das durch massiv einschneidende Tarifverhandlungen verändern wollen, beschleunigen diesen Prozess, weil schlicht und ergreifend das Geld fehlt, um ihren ansonsten vollkommen nachvollziehbaren Forderungen entsprechen zu können.
Wir brauchen gemeinsame Visionen
Die Theater sind kein Selbstzweck. Sie werden selbst von denen als notwendig und förderwürdig betrachtet, die sie nicht oder nur selten aufsuchen. Auch darüber gibt es Studien. Sie sind Orte der Verständigung, der Auseinandersetzung, des Verhandelns von Gemeinsamkeit, des Leben Lernens, des Ausprobierens von Alternativen und Visionen. Wir brauchen Visionen, wenn wir als demokratische Gesellschaft die aktuellen Krisen überstehen wollen. In dieser Situation die Theater sterben zu lassen, wird uns allen nachhaltig schaden.
Deshalb muss es jetzt ebenso intensive, ehrliche wie offene Gespräche geben – zwischen Politik und Kultur, zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der GDBA – ohne dass einer des anderen Arbeit machen kann und soll. Wir brauchen gemeinsame Visionen und Ideen. Es geht natürlich um Geld. Aber es geht um sehr viel mehr.
Die Forderungen
Es geht um einen kulturellen Zukunftsplan. Wir dürfen keine Zeit verlieren:
- Wir brauchen Perspektiven für die Landesbühnen und ihre Angestellten, die Abnehmer-Orte und regionale Kulturinstitutionen, gerade im ländlichen Raum
- Wir brauchen ein Bekenntnis der TrägerInnen zu dem neuen Tarifabschluss im Bereich NV-Bühne und den aus ihm resultierenden Konsequenzen
- Wir brauchen gemeinsame Planungen für eine langfristige, nachhaltige Kulturpolitik in den Ländern nach der Corona-Pandemie
- Wir brauchen Überlegungen zu Verstetigungen von Innovationsfördermitteln als nachhaltigem Steuerungsinstrument einer perspektivischen Kulturpolitik
André Nicke - Schwedt, Thorsten Weckherlin - Tübingen
Der Landesbühnenausschuss im Deutschen Bühnenverein
André Nicke studierte 1987 bis 1991 an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin und war danach Schauspieleleve und Schauspieler am Deutschen Theater und am Berliner Ensemble. Weitere Stationen waren das Theater der Freundschaft, das Moderne Theater und das Parnass Theater in Berlin, das Stadttheater Cöpenick Berlin und das Theater der Altmark Stendal. 1997 bis 2000 war er Schauspieler, Regisseur und Mitglied der Schauspielleitung am Landestheater Detmold, 2001 bis 2015 Intendant des Stadttheaters Cöpenick, Berlin. Seit 2010 inszeniert er an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt als Gast. 2017 bis 2019 war er dort Schauspieldirektor, seit August 2019 Intendant.
Thorsten Weckherlin studierte nach einem Zeitungs-Volontariat in seiner Heimatstadt Hamburg Literaturwissenschaft und Geschichte (Abschluss 1992 mit der Magisterarbeit "Mit Boulevard gegen Dallas. Das Theater von Peter Zadek als kritisches Vergnügen"). 1993 ging er als Regieassistent ans Berliner Ensemble zu Peter Zadek. Ein Jahr später baute er das Berliner-Ensemble-Tourneetheater auf. Es folgten erste Inszenierungen und freie Theaterarbeit in den damals noch neuen Bundesländern. Von 1998 bis 2001 war Thorsten Weckherlin Leitungsmitglied am Schauspiel Leipzig. Nach einem Abstecher an das Theater Freiburg leitete Thorsten Weckherlin ab 2004 zehn Jahre lang das Landestheater Burghofbühne Dinslaken. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Thorsten Weckherlin Intendant am Landestheater Tübingen.
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Aber schaut doch bitte auf die Grundlage: a) Viele Jahre haben Anfänger:innen einen unverschämt niedrigen Einstiegslohn erhalten, der nur einen Leben am Existenzminimum erlaubt. b) Das trifft eben nicht auf Lokführer:innen zu, deshalb ist dieser Vergleich ungerecht und absolut asymmetrisch. c) Die politisch beschlossene Anhebung des Mindestlohns, zwingt gesetzlich ohnehin zu einer deutlichen Anhebung der Mindestgage.
Schlussfolgerung: Ja das Geld ist knapp und es wird knapper, aber die Denkweise dieses Umstand auf dem Rücken von Absolvierenden auszutragen, spricht dafür wie internalisiert die anachronistischen Hierachien am Theater sind. Jetzt sind eben die Gewerkschaft und die Absolvent:innen schuld am Untergang, nicht aber die Stakeholder die über Jahre durch Überproduktion (und Überbelastung) die Lage kompensiert haben, über Jahre prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf genommen haben und den politischen Entscheidungsträgern keine Zugeständnisse abringen konnten.
Ungefähr so fühlt sich die Argumentation hier an. Ich kann Herrn Albrecht da nur beipflichten. Die Gewerkschaften haben für eine Anhebung gestritten, ja. Damit Absolvent*innen und alle anderen Arbeitnehmer*innen im NV Bühne nicht an der Armutsgrenze leben müssen. Als ungelernte Fachkraft kann ich nämlich genauso viel oder eben genauso wenig verdienen. Und das nach mehreren Jahren Studium/Ausbildung, bei Wochenenddiensten, Feiertagsarbeiten.
Klar, wir machen das gern. Aber nicht um jeden Preis.
Und die Überproduktion der letzten Jahre hat den wenigsten Spielplänen gut getan. "Corona-Überhang", "Wir hatten schon Verträge..." etc. Wer es ausbaden darf? Die Spielenden, die Schminkenden, die Souffleus*innen, Regieassistenzen und all die anderen, die sich den Ar*** aufreißen (Verzeihung!) für etwas, das zu oft an der Debatte, an den Bürger*innen vorbeigeht. Ja, weniger produzieren, muss auch kein Rückschritt sein. Vielleicht würden dann Ensemble mal wieder Luft holen können, gemeinsam nachdenken, entwickeln und dann so lebhafte Theatermomente entstehen, dass auch tatsächlich Publikum kommt, freiwillig und gern. Und wiederkommen will!
Mehr - immer mehr - das ist keine Perspektive im Produktionsprozess.
Und ja, die Politik muss mehr Geld geben. Okey, da sind wir uns einig. Aber doch bitte nicht sagen, dass die Gewerkschaften und Ansprüche der Arbeitnehmer*innen, die gefühlt eh keine normalen Rechte haben (Kündigen? Keine Chance! Weihnachten frei? Keine Chance! Elternzeit nehmen? Na, aber nur, wenn...), daran schuld sind.
Übrigens - wir können auch gern über Gagen für Leitungen reden, über Extrazuschüsse für Regien, Stückaufträge hausintern und das gute Vitamin B, das alte Freunde bindet... Aber das wäre ja Diskursverschiebung. Bleiben wir also lieber beim: "Mehr, immer mehr! Und wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch beim Tortebacken krepieren!" Und fragen, glaubt ihr das wirklich? Das wir (die Kleinen und die Gewerkschaften) schuld sind? Oder sind wir nicht doch nur praktische Opfer - weil man die scheue Politik nicht zu sehr ärgern darf?
intendant*innen sind zugleich arbeitnehmer*innen und arbeitgeber.*innen das ist eine seltsame situation. was heißt das wohl beides zugleich sein zu müssen? zudem stehen sie unter dem druck, dass ihre verträge mit ihrem arbeitgeber immer zeitlich befristet sind und im zuge von politischen veränderungen und neuen arbeitgebern durch einen politischen wandel in stadt, region, land oder bund kann das seltsame folgen haben. was würden sie nun die arbeitgeber von intendant*innen befragen wollen, was von ihnen wissen wollen und welche perspektiven durch arbeitgeber aller ploitischer parteien querbeet sind derzeit in welchen Städten, Regionen, Bundesländern wahrnehmbar? welcher druck und welcher spielraum ist erkennbar? was sagen die kulturminister*innen, kultussenator*innen, kulturbürgermeister*innen dazu? wie unterschiedlich gehen die Parteien damit um?
Die New York Times hat gerade über die Lage von Schauspieler:innen und anderen Theaterberufen in den USA berichtet - niedrige Gehälter und unbezahlte Arbeit sind und waren für viele die Regel. Ist Armut Teil der Berufung zum Künstler, zur Künstlerin? Das ist sicher der falsche Weg. Zum Schluss heißt es: "Noxious stories about the value of suffering and a lifetime of scrounging exist to convince ourselves of the false idea that a passion cannot be a profession."
Es gibt in Deutschland viele schlecht bezahlte Berufe. Für alle gilt: jeder sollte von seiner Arbeit leben können. Auch Künstler:innen am Theater.
Der NYT-Times-Artikel in Gänze: https://www.nytimes.com/2022/07/06/theater/pay-equity-salaries.html