Streitfall Drama (3) - Helgard Haug und John von Düffel im Gespräch
"Irgendwie flüchtet dieses Ich"
3. August 2022. In unserer Reihe Streitfall Drama diskutieren zwei Autor:innen mit unterschiedlichen ästhetischen Ansätze, wie ein Stück heute beschaffen sein sollte, welche Formen zeitgemäß sind und welche politische Funktion die Dramatik einnehmen kann. In dieser Folge begrüßen wir Helgard Haug (Rimini Protokoll) und John von Düffel.
Moderation: Michael Wolf
3. August 2022. Wie wird aus einem Stoff ein Theatertext? Gegenwärtige Schreibweisen finden sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Während das Drama sein Material in Geschichten organisiert, misstrauen postdramatische Ästhetiken der Ansicht, dass sich prinzipiell jedes Thema mittels Figuren und Konflikten verhandeln ließe. Sie suchen stattdessen stets nach neuen Formen, die oft auch die Grenzen der Bühne neu ausloten. Mit der Regisseurin und Autorin Helgard Haug (Rimini Protokoll) und dem Dramatiker und Dramaturgen John von Düffel begrüßen wir zwei der einflussreichsten Vertreter:innen beider Seiten. In der Diskussion schätzen sie die Potenziale ihrer Ansätze ein, stoßen auf Unvereinbarkeiten und überraschende Berührungspunkte.
Helgard Haug hat am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert. Dort gründete sie gemeinsam mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das Label Rimini Protokoll, das seit über zwanzig Jahren sehr erfolgreich in verschiedenen Konstellationen arbeitet. Produktionen von Helgard Haug wurden mehrmals zum Theatertreffen eingeladen, zuletzt in diesem Jahr die Arbeit All right. Good night.
John von Düffel arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Er gehört zu den meistgespielten Dramatikern unserer Zeit. Darüber hinaus hat John von Düffel zahlreiche Romane veröffentlicht.
Die Diskussion als Podcast:
Zur Reihe Streitfall Drama:
Gegenwartsdramatik ist weniger ein einheitliches Korpus von Textverfahren als vielmehr ein Prozess voller Widersprüche. In ihm wird verhandelt, welche Ästhetiken als produktiv gelten und sich durchsetzen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Poetologien und Schreibpraxen konkurrieren derzeit miteinander. Die Gesprächsreihe "Streitfall Drama" stellt diese vor und bereitet den Kontroversen um das Schreiben von Stücken eine Bühne. Jeweils zwei Autor:innen mit einander widersprechenden Positionen diskutieren darüber, wie ein Stück heute beschaffen sein sollte, welche Formen zeitgemäß sind und welche politische Funktion die Dramatik einnehmen kann.
Weitere Folgen:
Szene oder Fläche – wie ein Text Form annimmt mit Moritz Rinke und Thomas Köck
Beschreiben oder Befreien – Ein Gespräch über politische Dramatik mit Dominik Busch und Kevin Rittberger
Aushandeln oder Erzählen – Wenn Privates politisch ist mit Anne Habermehl und Ilia Papatheodorou (She She Pop)
Gestalten oder Vernichten – Welchen Zielen die Sprache dient mit Caren Jeß und Lydia Haider
Schreibtisch oder Körper – Wo Text ensteht mit Yael Ronen und Marta Górnicka
Bühne oder Gesellschaft – Wo das Stück spielt mit Theresia Walser und Falk Richter
Streitfall Drama ist eine Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus, gefördert vom Deutschen Literaturfonds.
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Ich glaube, das sollte eigentlich zu denken geben, aber das Thema wird völlig ignoriert. Wenn man es in Theaterkreisen anspricht, erntet man nur ratlose Blicke, aber keine Antworten. Ähnliches geschieht, wenn man nachfragt, warum die in Deutschland beliebten Dramatisierungen von Romanen oder Filmen jenseits der Grenzen eher Seltenheitswert genießen und dort immer noch auf relativ klassisch gebaute Stücke mit Figuren und Handlungen gesetzt wird.
#4: Ja, das ist dann wahrscheinlich Kunst, wenn ein Text aus irgendeinem Grunde auch in anderen Ländern als so relevant wahrgenommen würde, dass er dort trotz aller dortigen kulturpolitischen Theater-Schwierigkeiten gespielt würde. Vermutlich würde sich so ein Text auf MenschlichesAllzumenschliches konzentrieren, das unabhängig von Zeit, Ort und Sprache in und zwischen Menschen in vergleichbaren, verallgemeinerbaren Situationen wirkt und das daher grenzüberschreitend erfahrbar und erinnerbar ist... is aber nur so eine dummedumme unwichtige und nur so zufällig dahergeredete Idee...
Das subventionierte deutsche Theatersystem ist einzigartig in der Welt. Aber so langsam müsste man mal darüber reden, ob es sich nicht gerade dadurch (eben weil es kommerziell nicht erfolgreich sein MUSS) in eine merkwürdige Richtung entwickelt hat, fernab von alldem, was Menschen heute beschäftigt oder von dem sie wissen wollen.
Ich halte es für keinen Zufall, dass Deutschland eben keine Autoren wie Yasmina Reza hervorgebracht hat. Also Autoren, die sowohl künstlerisch als auch kommerziell erfolgreich sind.
Wäre für Sie ein Unterschied denkbar zwischen einLandhateine/nAutor/in hervorgebracht und in einem Land ist ein/e AutorIn, die von ihm hervorgebracht wurde auch bekannt gemacht? U.a. durch journalistische, verlegerische, oder theaterleitende Arbeit z.B.
Oder halten Sie Hervorbringung und Bekanntmachung für unterschiedslos?
#11: Ein deutscher Text bleibt auch übersetzt ein deutscher Text. Er ist dann halt ein übersetzter deutscher Text. Niemand käme auf die Idee, einen ins Deutsche oder Flämische übersetzten Osborn einen deutschen oder flämischen Text zu nennen... Der Übertragungsleistung haftet der sprachliche Text-Ursprung zwingend an; haftet nicht, ist er der Übertragung auch nicht wert - das macht die kulturelle Brückenfunktion von Übersetzung aus. Ein wackliges Patt m.E. Warum schickt man Milo Rau, der ein inszenierender Autor und Intendant ist, einen Text - ob national gebunden oder nicht - mit der BitteHoffnungIllusion, er würde ihn inszenieren (lassen)?
Zu Yasmina Reza: Deren Werke wurden im deutschen Sprachraum u. a. von Luc Bondy oder Jürgen Gosch inszeniert, also von unbestritten großen Künstler. Bondy wiederum war auch ein großer Botho-Strauß-Regisseur. So wie Peymann ein großer Bernhard- und Handke-Regisseur war. Mit welchen (deutschsprachigen) Autoren werden aktuell wichtige deutschsprachige Regieleute assoziiert? Welche Autoren werden von deutschsprachigen Regisseuren mit aufgebaut? Mir fällt auf Anhieb niemand ein. Es wirkt fast, als würden sich Regie und Dramaturgie immer weniger gern von Autoren stören lassen. Man bleibt in der Theaterbubble lieber ganz unter sich und baut sich die Stücke selbst (oder das, was man für Stücke hält). Möglicherweise hat hier eine Verengung der Perspektive stattgefunden, die eventuell auch für so manches gegenwärtige Problem des Theaters - bis hin zu sinkenden Auslastungszahlen - verantwortlich ist.
Definieren Sie „deutschen Text“.
Wenn was dramaturgisch behandelt wird- ein Text, der inszeniert werden soll, wird zwangsläufig dramaturgisch behandelt, muss man vermittelnd schon den Beteiligten am beginnenden Probenprozess erklären, warum genauer man Lust hat(te), sich inhaltlich auszutauschen. Andernfalls wird es freundschaftlich intendiert behandelt, aber nicht dramaturgisch intendiert. Aus freundschaftlicher Behandlung enstehen auch viele Theaterarbeiten. Für meinen Geschmack eher zu viele... Aus im erweiterten Sinn Liebesdienst gegenüber konkreten Theatermenschen kann ein/e AutorIn Liebesbriefe schreiben oder ähnliches - aber keine Stücke, die dann auch über die Zeit tragen können. Auch ganz diverse unbekannte Darstellerpersönlichkeiten über deren Zeit des Berufes/der Berufung tragen können...
Dass in Osteuopa durchaus Übersetzungen deutscher Texte gespielt werden, hat vor allem was mit Festival-Kuratorien und dem Einfluss der Goethe-Institute bis in die Theaterverlage und politisch intendierte Theater-Förderstrukturen hinein zu tun: Man weiß nie genau, wann hier die kulturelle Empfehlung in deutschen geopolitischen Kontrollwahn kippt... - sowas darf man aber nicht sagen, neiiiiiin, die deutschen Instrumente der Völkerverständigung sind unfehlbar. Nämlich.
Das Gleichnis wird mal einem nach Gott befragten Rabbiner, mal dem nach der Relativitätstheorie befragten Albert Einstein in den Mund gelegt. (Die Quelle der hier zitierten Variante ist Christian Hesse: Was Einstein seinem Papagei erzählte.)
Falls din gesprochenes deutsches Wort in Italienische übersetzt wird, verliert es trotzdem nicht den Zusammenhang, in dem es geschrieben wurde und auch nicht seine Genese. Was selbstverständlich auch für fremdsprachige Wörte gilt, die in die deutsche Umgangssprache eingang gefunden haben oder für Französische Wörter etwa die ins Italienische übersetzt wurden.
Ich habe nicht von DEUTSCHER Dramaturgie gesprochen. Um als AutorIn an professionelle SchauspielerInnen für Probenarbeit zu gelangen, müssen Sie entweder gleichzeitig DramaturgIn, Regisseurin oder SpielerIn sein. Sind sie das nicht, kann von GUTER Vermittlungsmöglichkeit textinhärenter Dramaturgie keine Rede sein.
Die erlernte Muttersprache oder GLEICHZEITIG mit der Muttersprache erworbene Zweitsprache IST eine Festlegung: Die eigene Kindheit ist niemals aus der Zeit gefallen. Zu keiner Zeit. Und nirgends auf der Welt. Ich gebe Ihnen jedoch recht, das solche schlichte Wahrheit im europäischen Rahmen nicht mehr relevant ist. Das wird auch zum Schaden des europäischen Gedankens werden, wenn dies nicht bereits der Fall ist. Ohne Festlegung gibt es keine Emazipation. Von gar nichts.
In so einem Selbstverständnis spielt nationale Sprache eben keine untergeordnete sondern im Gegenteil eine WESENTLICHE Rolle beim Verständnis und bei der Vermittlung eines nationalsprachlich verfasstenTextes.
#22: Das ist m.E. ein außerordentlich berechtigter Kritikpunkt, dass hier die Diskussion ebenso einmal umgekehrt sinnvoll wäre! - Allerdings möchte ich Ihnen, weil ich das von Ihnen als "allgemeinmenschliche" bei Reza oder Zeller Bezeichnete als angeframte Kritik an meiner Einlassung unter Kommentar 5 persönlich nehme, mitteilen, dass ich mit MenschlichAllzumenschliches nicht etwa das meine, was Sie beschreiben.
Sondern konkret meine eben 1. der menschlichen Natur entsprechende Allgemeinmenschliche Zustände wie Altern, Alter, Krankheit, Tod und Sterben, Erwachsenwerden, Jugend, Reifen, Liebe, Verrat, Neid, Eifersucht, Irren, Demütigung, Unterwerfung, Befreiung, Versagen vor Herausforderungen, Mut und Übermut, Feigheit und Lähmung vor Angst etc.
Und zwar dies alles realexistierend meine unter 2. sehr konkreten, von konkreten politischen Klassen-Interessen und Machtverhältnissen geprägten, Bedingungen. Und dazu gleichzeitig als ablesbar real existierend meine in 3. exemplarischen menschlichen, weil auch universal möglich un-menschlichen, Situationen, die für diese jeweiligen Bedingungen (unter 2.) typisch sind...
Das können Situationen in der näheren oder weit zurückliegenden Vergangenheit sein, solche in der Gegenwart oder solche in einer fiktiven fernen Zukunft.
Manchmal sind Situationen in einer weit entfernten Vergangenheit m.E. jedoch genauer für die Beschreibung des Handelns in der Gegenwart als gegenwärtige Situationen.
Weil wir im Schutz der scheinbar sicheren Entfernung das Menschliche/Allzumenschliche näher an unsere Seele heranlassen können als das Gegenwärtige und wir u.U. genau deshalb unsere Gegenwart aus dem künstlichen, künstlerisch erzeugten Abstand besser sehen, beurteilen und bewältigen können. Ohne Bewusstsein von der Gegenwart haben wir als Menschen sowieso keine Zukunft. Und ohne Vergangenheitsbewusstsein (wozu unser Bewusstsein von unserer eigenen wie auch anderer familiärer Sprachprägung gehört) haben wir keine Gegenwart...
Wenn Sie "geschmeidige Stücke" mit so Inhaltsschlagworten wie "Demente Eltern" oder "Stress unter Eltern" belegen können, sagt das vielleicht nichts über die Qualität der Stücke von Zeller oder Reza aus, wie Sie abschließend beteuern. Sehr wohl sagt es aber etwas darüber aus, dass Sie diese Stücke bzw. Allgemeinmenschliches als Verhandlungsmasse der Dramatik für eher nicht qualitätsvoll halten und diese persönliche Haltung sehr wohl auch näher unbegründet gern verallgemeinert wissen wollten.
@#18 und Redaktion:
Für meinen sprachlich stümperhaften Kommentar unter #20 möchte ich mich entschuldigen. Ich hätte ihn nicht kurz vor Beginn einer gestrigen Lesung schreiben und erst recht nicht abschicken sollen.
Ja. Die Zeiten, wo man hierzulande Dario Fo aus Italien, Pinter aus England, Gombrowicz aus Polen und Koltes aus Frankreich spielte scheinen ersatzlos gestrichen zu sein. Was für ein Rückschritt. Wie konnte das geschehen?
Absolut kann ich der Anmerkung betreffend Fo, Pinter usw. zustimmen. Was da an Verlusten in den letzten Jahren stattgefunden hat! Jeder dieser Autoren hat im kleinen Finger mehr an Erzählkunst, Figurencharaktisierung und Fantasie als die meisten der von Regie und/oder Dramaturgie in Do-it-yourself-Manier zusammengestellten "Stücke" der letzten Jahre, die viel zu oft einfach nur ärgerlich sind und auf so vielen Ebenen (Schauspiel! Plot! Thematik! Dialoge!) grandios scheitern (die einzigen Profiteure scheinen die Tantiemenbezieher zu sein). Es ist - meiner Ansicht nach - teilweise unglaublich, an welchen Dilettantismus man sich hier oft gewöhnt hat. Das Aufwachen ist bitter, wenn man dann z. B. eine gelungene Pinter-Inszenierung sieht und erkennt, was alles Theater sein kann - aber auch was definitiv nicht ... Ich bin leider der Meinung, dass dieses inszenatorisch-dramaturgisch bedingte Desinteresse an "echten" Stücken mit "echten" Geschichten und "echten" Figuren für die Vernachlässigung der Dramenliteratur verantwortlich ist. Und auf deutschsprachige Autoren wird zurückgegriffen, weil sie halt billiger sind oder es billiger geben (also mit ihren Texten alles machen lassen, ohne Widerspruch einzulegen). Und ich bin der Meinung, dass die hier von mir geschilderten Tendenzen für einen Teil des Publikumsschwunds verantwortlich sind.
Was Fo betrifft mag eine Rolle gespielt haben, dass von den professionellen Rezipienten selten sein duales Arbeiten mit Franka Ramee mit entsprechender Aufmerksamkeit bedacht und als die selbstverständliche arbeitseinheit beschrieben wurde, die es in der Realität war. Erfreulicherweise gibt es in den jüngeren Generationen von Fachpublikum und TheatermacherInnen keine Geduld mehr für solche Frauenarbeit in der Theaterkunst unterschlagenden Fach-Antizipation haben haben. Ein Glück! - Andererseits wissen wir durch diesen Abbruch des Interesses aus moralischer Ungeduld heute wenig bis nichts über die nachfolgende jüngere italienische Dramatik.
Was auch für die jüngere polnische Dramatik gilt. Hier wird seit Jahren in kurativen Motti gedacht: diesesJahrDramatik/Theater aus GeorgienMoldawien... - und nach dem entsprechenden Event fallengelassen... wenige TheatermacherInnen nur halten es danach mit einer Kontinuität im Beobachten und Weiterführen - Ein großer Verlust an kulturellem Austausch bis in die deutsche Dramatik hinein, weil es ja z.B. in Polen schon vor Preußen viele deutsch-polnische Bevölkerungsbewegung gegeben hat und ohne die preußische Geschichte in Polen auch die deutsche Naziherrschaft nicht den Boden für sich und ihre Eroberungspläne durch Zerissenheit so bereitet gefunden hätte! (hier verweise ich immer gern auf Johannes Bobrowski und dessen große Erzählkunst, die uns so viel über diese Geschichte lehren kann, selbst wenn er keine Dramatik geschrieben hat).
Ich vermisse das, ich vermisse das in deutscher Sprache vermittelte Wissen um eine polnische Dramatik nach Gombrowicz und deren Verbundenheitspfade zu ihm z.B....
Was Koltes anlangt, so hat ihm und seinem Werk vllt. die kreiert und hochgehaltene Debatte um das N-Wort geschadet, sodass dem Werk in der Folge eher ausgewichen wird. Was doch sehr bedauerlich ist. Überhaupt weiß man wenig über die jüngeren französische Dramatik und da hilft es wenig, wenn ein Regisseur wie Ostermeier, der auch mit dem F.I.N.D.-Festival jedes Jahr versucht, den deutschen Theater-Blick ins Weite zu führen, Prosawerke mit deren Autoren als Theaterabende inszeniert, sozusagen verstückt... Vielleicht weiß einer unserer gut beschäftigten Übersetzer von u.a. Koltes und Beckett, Simon Werle, darüber etwas zu sagen, welche Linien der Tradition in der französischen Dramatik ohne unser Wissen hier in Deutschland frisch und erneuernd beschritten wurden???
Meine Erfahrung ist: Das Kollektiv oder Team ist auch nur so stark wie der schwächste Einzelne in ihm. Das ist dem Kollektiv-Gedanken immanent. Und das ist ein Problem in der Kunst - aber auch in der Wissenschaft und Forschung, wenn der Kollektiv-Gedanke das Maß aller Dinge ist in einer Gesellschaftspolitik.
Es ist kein Problem, wenn Kollektivleistung und Einzelleistung als moralisch GLEICHWERTIG gelten in einer Gesellschaft.
Dramatik ist m.E. dazu da, genau diese Gleichwertigkeit im moralischen Urteil über erbrachte intelektuelle, mentale wie materielle Leistung der Gesamtgesellschaft abzufordern.
Tut sie das, verschwindet sie auch nicht. Möglicherweise verschwindet der Autor oder die Autorin in diesem von Ihnen beschriebenen Ich-feindlichen Denk- und Verhaltensmilieu - deren/dessen jeweilige Dramatik tut es nicht. (Was ebenso auf die Erzählliteratur als Sprachkunstform und Dichtung zutrifft) Die gibt es und die Gesellschaft samt ihrer Kultur-, Wissenschafts- und Bildungspolitik muss sich durch die bloße Existenz der aus der Antizipation ausgeschlossenen Werke fragen lassen, WARUM GENAU sie keine Verantwortung für explizit deren Verbreitung übernimmt.
Ein interessanter Diskussionansatz findet sich bei Ihnen durch diesen Satz bezüglich des Ich: "Außerhalb der Kunstbetriebe besteht es (das vermeintlich verschwundene Ich - B.v.m.) selbstverständlich weiter, es wird nur nicht mehr innerhalb der Kunstbetriebe reflektiert." - Das ist philosophisch hochinteressant, was Sie da behaupten! - Denn es bedeutet, dass Kunstbetrieb, Lebenswirklichkeit nicht reflektiert, sondern lediglich politische Ideologie (wie immer die aussehen mag). Mithin wäre der Kunstbetrieb nurmehr ein Polit-Betrieb, in welchem Kunst qualitativ überhaupt keine Rolle (mehr) spielt.
Daraus ergibt sich für mich die Frage, ob Kunstbetrieb in JEDEM Fall als Kunst-Betrieb- unabhängig von Kunst-Qualität, lediglich Werkzeug von politisch intendierter Einflussnahme auf gesamtgesellschaftliche Denk- und Handlungsabläufe ist oder ob dies nur u.a. der Fall ist; als Nebenprodukt eines Kunstbetriebes, der das Individuum in Gestalt des Autor/der Autorin als EINZELproduzent von Kunstwerken aus moralischer Ver-Bildung tendenziell ausschließen will?
PS: Ihre beispielhaften Namen taugten immerhin sehr gut zur näheren Beschreibung eines Mangels an Zusammenhang, der heute behindernde Tatsache geworden ist, deshalb: danke für die Beispiele!
Ich überlege, ob dem Mangel, über dessen Existenz wir uns einig zu sein scheinen, eventuell neu beizukommen wäre, wenn eine Ausgangsposition für Dramaturgen-Ausbildung heute eine zuvor abgeleistete profunde komparativistische Ausbildung wäre?