Über das Stadttheater im Zeitalter seiner Beschleunigung
Die Verschwörung der Heuchler
von Michael Eberth
Berlin, 16. September 2010. Im Sommer 2004 fiel mir die Chance zu, im feinen Hamburger Überseeclub vor einer Versammlung von Wirtschaftsführern und deren Damen einen Vortrag über die Arbeit des Schauspielhauses zu halten. Ich lehnte beim Reden mit dem Rücken an einem Türstock. Links und rechts von mir saßen die Damen und Herren an langen Tafeln beim Nachtisch. Da ich kurzfristig eingesprungen war, wurden meine Worte mit Wohlwollen aufgenommen.
Man hatte sich aber in den Kopf gesetzt, dem Vertreter des Schauspielhauses mal gründlich die Meinung zu geigen, drum stellte sich der Wortführer der Runde nach meinem Vortrag an die andere Seite des Türstocks und fing an, mich mit all den Ressentiments zu bombardieren, die sich in den Köpfen der Wirtschaftsführer angestaut hatten, seit die Künste von der Repräsentation ihrer Werte zu deren Negation übergegangen waren.
Das geschändete Schauspielhaus
Da der Raum zwischen den Flanken eines Türstocks begrenzt ist, kann das Bild aus der Tenniswelt, das ich heranziehen möchte, um das Hin und Her zwischen Ansicht und Abwehr zu beschreiben, die Situation nur begrenzt anschaulich machen: der Wortführer platzierte jeden seiner Aufschläge im falschen Feld, ich zählte die Doppelfehler – und streckte den Schläger in der coolen Manier eines Tennis-Asses den Bällen entgegen, die nach dem Aufdotzen auf mich zusprangen, um sie zur Seite zu schlagen. Das Match, das mir einen Punkt nach dem anderen verschaffte, versetzte mich in einen Rausch.
Nach einer halben Stunde ging das Hin und Her in eine offene Diskussion über – und die Frau eines Wirtschaftsführers erklärte mir, das Schlimmste an der Arbeit des von Tom Stromberg geschändeten Schauspielhauses sei, dass man den eigenen Kindern keine Karten mehr für dessen Aufführungen schenken könne. Nun war es mit dem Wegschlagen der Bälle nicht mehr getan. Ich bat die Runde, mir per Handzeichen mitzuteilen, wer das Schauspielhaus in den letzten vier Jahren besucht hatte. Es hob sich nicht eine einzige Hand.
Das Konstrukt, das wir Hochkultur nennen
Warum fällt mir das in einem Augenblick ein, in dem ich in den Zeitungen lese, das Schauspielhaus sei wieder mal auf eine Sandbank manövriert worden? Weil ich den Stimmen misstraue, die mir erzählen, es liege am Geld, dass ein Theater nicht reüssiert? Weil ich sehe, dass die Sprache der Unaufrichtigkeit, die wir uns in allen Bereichen angewöhnt haben, das Miteinander in unsrer Gesellschaft zu einer einzigen, unerträglichen Verschwörung von Heuchlern macht?
Ein Intendant, der an der Mission gescheitert ist, 18 Millionen Euro Geld in einen Hauch von Theaterglück zu verwandeln, versteckt sein Versagen hinter einem Fehlbetrag von 330 Tausend, und die Presse bläst einen weiteren Politiker-Dilettanten zum Sündenbock auf, um zu verbergen, dass sie zur Krise selbst nichts zu sagen hat. Jeder hat Angst, ihn könnte die Schuld treffen, das Konstrukt aus Illusionen und Größenwahn, das wir Hochkultur nennen, zum Einsturz gebracht zu haben.
Das System des hergebrachten Stadttheaters funktioniert nur noch in Städten wie Wien und München, in denen die Häuser auf eine Mentalität setzen können, die die Welt von gestern für eine Welt hält, in der wir auch morgen noch leben werden.
Im Sog der Beschleunigung
In Berlin hat sich diese Welt in ihrer westlichen und östlichen Ausprägung so gründlich zerlegt, dass die Theater, die sich nicht gegen den Wandel verbarrikadieren, dem Sog der Beschleunigung zum Event hin erliegen, den jedes Vakuum auslöst. Und in Hamburg neigen die Wirtschaftsführer dazu, die Welt mit einem Champagnerglas in der Hand vom Deck eines Kreuzfahrerschiffs aus zu betrachten – und Künsten, in die man Geld reinpumpen muss, statt es herauszupumpen, mit einem Misstrauen zu begegnen, das nur weicht, wenn sich die Künste im Glanz eines Hypes zeigen.
Eine Weile wird das Theater dieser Beschleunigung zum Event hin wohl standhalten. Dann wird es erschöpft sein. Und die Messer werden ins nackte Fleisch fahren.
Michael Eberth war während der Intendanz von Tom Stromberg bis 2005 Chefdramaturg des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg.
Hier finden Sie eine ausführliche Chronik zur Debatte um das Deutschen Schauspielhaus.
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Könnten Sie sich dazu auch äußern Herr Eberth?!
123 steht für eins, zwei, drei...nein hundert neue Autorenstellen an den deutschen Stadttheatern in nächster Zukunft...der Name ist Konzept und ich sehe keinen Grund davon Abzuweichen.
Darüberhinaus bin ich wirklich sehr neugierig, was für Konsequenzen Herr Eberth aus seinen Gedankengängen zieht, denn zu Ende gedacht erscheint mir all dies nicht. Mein Eindruck ist: Da scheut jemand vor der letzten Konsequenz, und das schreibe ich ganz frei von Wut und Aggression, ausschließlich mit dem Wunsch, dass hier Visionen über die Zukunft der Stadttheater skizziert werden.
Danke an Herrn Eberth und viele hier ungenannte Autoren und Autorinnen.
Als Hamburger muss ich leider sagen, dass Eberth hier einen klugen und guten Ton gefunden hat. Als Optimist (beides gehört zusammen, denn in der 5. Klasse macht man nämlich mit dem Optimisten auf der Alster seinen ersten Segelschein) kann ich nur sagen, das Schauspielhaus wird's überleben. Zur Not kommt Flimm und kämpft gemeinsam mit Klaus von Dohnanyi und den übriggebliebenen Hafenstraßlern für den Erhalt des Hauses an der Kirchenallee. Venceremos!
Lieben Gruß