Auf Sand gebaut

2. April 2023. "Jeder erfolgreiche Blockbuster braucht einen zweiten Teil, der den ersten versenkt", heißt es. Weswegen Markus&Markus am Hamburger Lichthof Theater den Kinohit "Titanic" neu auflegen. Und schon beim Bühnenbild einen ökologischen Skandal aufdecken.

Von Falk Schreiber

"Titanic II" von Markus&Markus am Lichthof Theater Hamburg © Paula Reissig

2. April 2023. Sage niemand, es hätte keine Warnungen gegeben. Als der Passagierdampfer Titanic im April 1912 durch den nördlichen Atlantik dampfte, wusste man, dass Eisgang drohte, es gab Meldungen anderer Schiffe, man hatte einen rapiden Temperaturabfall bemerkt. Allerdings wurden diese Warnungen konsequent ignoriert, aus Ignoranz, aus Selbstüberschätzung, aus dem Irrglauben, die Titanic sei unsinkbar. Das Ergebnis ist bekannt – kaum jemand dürfte James Camerons Film "Titanic" von 1997 nicht gesehen haben. 

Anfangen am Grund des Meeres 

In dem Recherchestück "Titanic II" des Performanceduos Markus&Markus am Hamburger Lichthof Theater gibt es eine Szene, in der das Telefonat mit einem Berater der Bundesregierung nachgestellt wird. Ob es stimme, dass vor den deutschen Küsten Sand abgebaut werde, wird dieser gefragt. Ja, antwortet der Fachmann, allerdings nur minimale Mengen, damit die beteiligten Firmen die Schürfrechte nicht verlören. Etwas später gibt er aber zu, dass die Mengen sehr wohl signifikant seien, allerdings sei das nicht schlimm, einen Einfluss auf das Ökosystem habe es nicht: ein einziges Abwiegeln. Sage niemand, es hätte keine Warnungen gegeben.

"Titanic II" ist angelegt als Neuauflage des oben erwähnten Filmes, weil: "Jeder erfolgreiche Blockbuster braucht einen zweiten Teil, der den ersten versenkt." Der Plan von Markus&Markus (die häufig mit dem Lichthof zusammenarbeiten, diesmal allerdings auch die Premiere in Hamburg machen, Koproduzenten sind unter anderem Berliner Sophiensæle, LOT Theater Braunschweig und Studiobühne Köln) ist, diesen zweiten Teil mit dem gesunkenen Schiff starten zu lassen, also auf dem Meeresgrund – und um denselben darzustellen, benötigt man Sand. Viel Sand, was die Theaterleitung erst einmal beunruhigt, Sand ist bühnentechnisch nicht unproblematisch.

Auf den Spuren der Sandindustrie

Per Video wird die Suche des Theaterkollektivs nach Sand eingespielt, es geht in eine Brandenburger Sandgrube (die sich als aufgelassen erweist), nach Sylt (wo selbst Sand aus dem Wattenmeer angeliefert werden muss, damit wenigstens ein bisschen Strand vorhanden ist), in eine Sandskulpturenschau in Travemünde (was auch nicht wirklich was hergibt). Und schließlich in ein Betonwerk, wo die Protagonist:innen erfahren, dass Sand ein begehrter Rohstoff sei, der insbesondere in Indien im großen Stil abgebaut werde. Was dort katastrophale Auswirkungen aufs Ökosystem nach sich ziehe.

TitanicII 3 PaulaReissig uMöwen im angeregten Gespräch © Paula Reissig

Ein wenig erinnern diese Passagen an "Die Sendung mit der Maus", "Lach- und Sachgeschichten" von deutschen Theatermacher:innen auf den Spuren der Sandindustrie. Aber: Erstens ist der Komplex sehr genau recherchiert, man lernt tatsächlich einiges über den Raubbau, der hier nahezu unbemerkt an der Natur stattfindet. Und zweitens binden Markus&Markus diese Recherche immer wieder mit kleinen Vignetten an ihr "Titanic"-Thema an – etwa mit einem verwackelten Video von zwei Rechercheur:innen, die an der Brüstung eines Balkons stehen wie am Bug eines Schiffes und so fast unmerklich die ikonische Pose von Kate Winslet und Leonardo DiCaprio aus Camerons Verfilmung doppeln.

Mit freundlicher Ironie

Das eigentliche Schauspiel wird dabei wie oft bei Markus&Markus aller Kunstfertigkeit entkleidet. Heißt: Eine Actionszene wird mit Script in der Hand gespielt wie auf einer Textprobe, das Pathos des Filmsongs "My Heart Will Go On" gibt gerade mal einen Karaoke-Auftritt her, ein (gereimtes!) Gespräch zwischen zwei Möwen ist arger Mummenschanz, der Monolog des Sandkorns Sandy (!) deutlich zu lang. Aber immerhin die Ausstattung (Maike Storf) ist detailverliebt: eine Wasserlandschaft mit Floß, gebrochenen Lichtspiegelungen (Anahí Pérez) und drei riesigen Bullaugen-Bildschirmen, hinter denen Fischschwärme vorbeischwimmen (solange man die Bildschirme nicht benötigt, um mal wieder Videos aus Brandenburg oder Indien einzuspielen).

Es ist also grundsympathisch, wie das ernste Anliegen hier mit freundlicher Ironie und echtem Interesse am Stoff unterfüttert wird. Auch wenn nicht jedes Bild stimmig ist: "Die Titanic ist im Wasser untergegangen", sagt Mustakeen in einer Videoeinspielung, ein indischer Fährmann und Flussfarmer, den der Sandabbau ganz konkret betrifft. "Hier bei uns ist der Sand die Titanic." Ist nicht eher die Menschheit die Titanic, die zwar um die Gefahr weiß, aber dennoch weiter Sand abbaut? Egal – der Abend ist so informativ wie unterhaltsam, da will man nicht jedes Sandkorn auf die Goldwaage legen.

 

Titanic II
von Markus&Markus
Konzept und Umsetzung: Lara-Joy Bues, Katarina Eckold, Markus Schäfer, Markus Schmans, Bühne, Kostüm: Maike Storf, Lichtdesign: Anahí Pérez, Mitarbeit Recherche und Übersetzung: Shruti Sharma, Bhim Singh Rawat. Sprecherin: Clara Ehrenwerth, Shruti Sharma.
Premiere am 1. April 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.lichthof-theater.de

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