Sons of Sissy - Am Wiener Brut zerdehnt Simon Mayer Volkstanz-Strukturen ins Mantrahaft-Kontemplative
Volkstanztrance
von Kai Krösche
Wien, 9. April 2015. Vor Beginn der Performance steigt bei mir die Nervosität: "hoat anda gödan / en hoat anda he" steht vorne auf dem Programmheft. Und weiter: "daxdn fan schredagram / fauzn fuada anu ble". Als zugewanderter "Piefke" in Österreich verstehe ich nur Bahnhof – und bin erleichtert, als mir mein österreichischer nachtkritik-Kollege, der heute auch dort ist, versichert, dass er ebenso ratlos sei. Eine Kunstsprache vielleicht? Eine beliebige Aneinanderreihung verschiedenster Mundart-Vokabeln? Oder vielleicht sogar wirklich ein konkreter Inhalt – aber einer, der sich verschließt? Eine Reduktion des Dialekts auf seine Laute, seinen Rhythmus und eine vom Inhalt unabhängige Essenz?
Vom Schunkeln zum Ritual
Einige Minuten später stehen vier junge Männer auf der Bühne des Brut im Künstlerhaus: Die "Sons of Sissy" (so der Titel des Abends von Simon Mayer), zwei glattrasiert, zwei mit buschigem Vollbart, haben Instrumente in der Hand und spielen mit neutraler Miene heitere Volksmusik. Das kennt man auch als Nicht-Österreicher (zumindest aus dem Fernsehen), die fidel fidelnden Violinen, den wankenden Bass, die hüpfende Harmonika, das stampfende Horn. Minutenlang geben die Männer stoisch das Volksmusikquartett, halten das Ostinato der fröhlichen Akkorde – bis die Musik plötzlich in ihre Einzelteile zerfällt. Anstelle der fröhlichen Schunkel- und Stampfmusik tritt die hypnotische Wirkung unendlich in die Länge gezogener Bass- und Harmonikatöne; Patric Redl geht rhythmisch im Kreis über die leere Blackbox des Brut, lässt die Harmonika ein- und wieder ausatmen. Die stetige Bewegung gegen den Uhrzeigersinn und der gleichbleibende Grundton steigern sich in ihrer strengen Unveränderlichkeit langsam über Minuten hinweg ins Mantrahafte, Kontemplative.
Infolge werden die vier Männer Bewegungsabläufe aus dem Volkstanz reproduzieren und schließlich ebenfalls in seine Einzelteile zerlegen: Das ständige Drehen gegen den Uhrzeigersinn, um sich selbst, im Kreis der Bühne, geführt vom Partner oder allein, wird schleifenartig gesteigert. Es wird gedreht, gedreht und gedreht – bis zum Schwindel und über diesen hinaus. Die kreisförmigen Bewegungen des Volkstanzes werden, ähnlich wie zuvor seine musikalische Struktur, ins Extrem geführt und offenbaren eine Verwandtschaft mit Formen des Ritualtanzes, in dem durch ständige Bewegungswiederholung und gleichbleibende Rhythmen Trancezustände erreicht werden können. Das gemeinsame Hüpfen im Takt wird zum schweißtreibenden Kraftakt, der unter der Last ständiger Anspannung seiner Individualität beraubte menschliche Körper zum Teil einer großen Bewegungsmaschine.
Schweiß, Atem, Muskel
Für einen Augenblick absurd wird es, als sich die vier Männer vollständig entkleiden und noch einmal von vorn beginnen: Nackt geben sie einmal mehr ein Volksmusikstück im Quartett, drehen sie sich im Kreis und hüpfen schließlich stampfend im Takt – wild hoch und runter schwingende Geschlechtsteile inklusive. Akzeptiert man diese Bewegungsabläufe, diese Klänge als die überzeichnete Essenz einer von ideologischen Inhalten und Hintergründen befreiten und ins Ritualistische gesteigerten Volksmusik, so ließe sich in diesem vollständigen Aufgehen in der Bewegung, in dieser Auflösung des Ichs ein befreiendes Element finden: Diese Männer sind nur mehr nackter Körper, sind Schweiß, Bewegung, Atem und angespannter Muskel.
Jedoch: Der in der immerwährenden Gleichmäßigkeit der Bewegung gefangene Körper ist in seiner Verneinung jeglicher Individualität in sich schon politisch. So geraten die choreographierten Versuche, der Eintönigkeit durch aus dem Takt fallende, komplexe Bewegungen auszubrechen, zu Augenblicken des Scheiterns, an deren Ende immer wieder der scheinbar fließende Übergang in das Diktat des Rhythmus steht. Dazu offenbaren Teile der Choreographien klassische Machtgefüge: Wenn der eine den anderen Tänzer mit starrem, konzentrierten Blick zur nicht enden wollenden Dauerdrehung führt, wird der gemeinsame Tanz zum körperlichen Gewaltakt zwischen Beherrschendem und Beherrschtem.
Es ist also ein ambivalentes Bild, das der selbst mit auf der Bühne stehende Choreograph Simon Mayer an diesem Abend zeichnet und was diesen Abend so spannend macht: Der auf seinen Kern heruntergekochte Volkstanz als radikaler physischer Akt des Aufgehens in der (gemeinsamen) Bewegung, die immerzu wiederkehrende Volksmelodie als treibende Kraft, die Atempause und Entkommen gleichermaßen verbietet.
Sons of Sissy
von Simon Mayer
Idee, Choreografie, Performance, Musik: Simon Mayer, Performance, Musik: Matteo Haitzmann, Patric Redl, Manuel Wagner, Klangkörper und Spezialinstrumente: Hans Tschiritsch, Bühne und Kostüm: Andrea Simeon, Licht: Martin Walitza, Künstlerische Beratung: Frans Poelstra
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.brut-wien.at
Mehr gutes Volkstanz-Theater? In Trachtenbummler sampelte der Choreograph Jochen Roller 2013 deutsche Volkstänze mit Weltmusik.
Kritikenrundschau
Im zeitgenössischen Tanz arbeitet sich gerade der Oberösterreicher Simon Mayer an der Ambivalenz rustikaler Ästhetik ab, "jetzt zum ersten Mal auch in einer knappen, konsequent durchgearbeiteten Formsprache", schreibt
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nachtkritikvorschau
Es passiert eine ganze Menge in dieser knappen Stunde. Vier junge Männer, allesamt Musiker und Tänzer, beginnen recht zahm mit einem volkstümlichen Liedchen. Hier reagiert das Publikum noch brav mit Applaus in Erwartung des nächsten "Liedls". Doch dann entwickelt sich die Scene in eine ganz andere Richtung. Schon beim zweiten Stück wird nicht nur die Melodie aufgelöst, auch die Musiker hantieren mit ihren Instrumenten, als wollten sie diese zersägen. Und das ist erst der Anfang einer Ablösung und Lossagung von Konventionen, Traditionen, Geschlechterrollen, von gesellschaftlichen, auch kirchlichen Zwängen und einer Hinwendung zu archaischen Bewegungen, die in tranceähnlichen Zuständen kumulieren. Eine Konzentration auf Rhythmen, die mit Füßen, Händen, Bauch, Oberschenkel und Stimmen erzeugt werden. Das einzig verbliebene Instrument, eine Ziehharmonika, nimmt den Atemrhythmus auf und erzeugt so eine meditative Stimmung, einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen mag. Folgerichtig entledigen sich die Darsteller all ihrer Kleider und agieren miteinander, testen Beziehungen, probieren Bewegungen, ob sie noch passend sind. Bereits nach wenigen Minuten sind da nur noch Körper auf der Bühne und es wirkt vollkommen normal, dass auch nackte Darsteller im Publikumsraum stehen und mit Geige und Ziehharmonika Klangmuster erzeugen. Die Dynamik steigert sich nochmals in einen anarchischen Akt des Aufbegehrens gegen alles Einengende. Am Schluss ist nicht Schweigen sondern ein Zusammenfinden. Dann stehen sich nur noch vier Menschen ohne verhüllende Kleidung gegenüber und finden sich in ihrem vielstimmigen Gesang, noch lange nachdem das Licht verlöscht ist. Großer Applaus. Spannend und unbedingt sehenswert.