JINXXX - Thomas Bo Nilssons neue Horror-Installation am Schauspielhaus Wien
Lebend davongekommen
von Martin Pesl
Wien, 1. Dezember 2016. Die Dame an der Kasse begrüßt mich mit Namen. Sie hat leicht raten, denn für jeden Viertelstundenslot ist nur genau eine Person angemeldet. Ich soll warten, bis ich dran bin – 20:45 Uhr – und dann beim Nebeneingang klingeln. "Wo es so puffmäßig aussieht." Alle dürfen bis Mitternacht bleiben in Thomas Bo Nilssons Performance-Installation. Es ist bereits seine zweite im Wiener Schauspielhaus dieses Jahr.
Schundromane und ein gruseliger Trailer
"JINXXX" ist kleiner angelegt als Cellar Door im April. Damals war das gesamte Theater zum Sado-Maso-Labyrinth umgebaut, diesmal steht nur ein schmaler Teil zur Verfügung, der dafür ähnlich detailverliebt umdekoriert, in laszivem blassrosa Vintage-Stil gehalten und mit schaurig dreckigen Puppen, Stofftieren und Schundromanen zugemüllt ist. Außerdem gibt es nur acht statt über 40 Performer und keine digitale Interaktionsmöglichkeit, lediglich einen gruseligen Trailer.
Puffmäßig also. Den Eindruck bekräftigt die leicht bekleidete Ranja (Lena Bösch), die mich empfängt und mir auf VHS ein amateurhaftes Einführungsvideo in die jahrhundertelange Tradition des Etablissements Aschenbach mit dem zugebauten JINXXX-Kino vorspielt. Auch die "Gastgeberin" hat etwas Puffmuttriges. Der großgewachsene Schwede Thomas Bo Nilsson nutzt die Transvestitenrolle, um bei laufendem Betrieb etwas Regie zu führen und eine ausgeglichene Verteilung der Gäste über die wenigen engen Räume zu gewährleisten. Er führt mich zunächst in eine von drei Videokabinen. Auch die Filme dort sind im avantgardistischen Horror-Homevideo-Stil gehalten und ersticken etwaige Sexfantasien sogleich im Keim.
My Heart Will Go On, Herzerlfresser
Immer wieder reißt einer der beiden Aschenbach-Brüder (Georg Bütow, Julian Wolf Eicke) die Kabinentür auf und bietet mir Getränke an. Nebenan betreiben sie eine gemütliche Bar. Hosen tragen sie keine, dafür Seidenhemden, Cowboyhüte und -stiefel. Der eine spielt mir auf der Flöte My Heart Will Go On vor, weil das so gut zu dem Video passt, das ich mir gerade ansehe (äh, nein!). Nachher würde man mich ja gerne in der luxuriösen "Wedding Suite" mit herzförmiger Badewanne unterbringen, aber die ist leider, leider bis Mitternacht belegt. Auch die Sauna.
Was immer geht, ist die "Waldhütte". Dort befindet sich auch Mutti (Jens Lassak), ein halbtotes Wesen mit Wollweste, Perücke, Perlenketten und falschen Zähnen. Beim Durchblättern eines Familienfotoalbums erfahre ich, dass diese Aschenbach-Mutti seit 1866 in unterschiedlichen Körpern wohnt, in die sie (plötzlich ergibt auch der Trailer Sinn!) gewissermaßen "hineinoperiert" wurde. Und hinten in dem Album, das ehemalige Gäste und ihre grausamen Todesarten zeigt, sind noch ein paar Seiten frei. Schon verstanden: Wenn ich will, darf ich mich fürchten.
Durch den Geheimgang in die Waldhütte
In Begleitung einer der Eskort-Damen krieche ich durch eine Art Geheimgang in die "Waldhütte", wo Mutti vor sich hin vegetiert, in Anwesenheit eines Liebespaares, dem eindeutig ein Eintrag im Album des Grauens blüht. Die regelrecht exorzismusbedürftig krächzende Elsa (Ute Reintjes) und ihre voller Todessehnsucht mit scharfen Klingen hantierende Freundin Jelena (Vera von Gunten) hasslieben einander mithilfe von Poesie, Drohungen und physischer Gewalt. Mutti stöhnt, es seien der Gäste zu viele, ich krieche wieder Richtung Bar.
Und dann? Gibt es nichts mehr zu entdecken, selbst auf Nachfrage führt man mich an keine neuen Orte. Während bei "Cellar Door" die schiere Undurchschaubarkeit des räumlichen und narrativen Komplexes verblüffte, scheint man hier nach relativ kurzer Zeit nicht mehr viel mit mir anfangen zu können. Auch die Story habe ich geschnallt: Offenbar treibt die JINXXX-Familie alle, die sie besuchen kommen, in den tödlichen Wahn.
So setze ich mich eine Weile ins Vorzimmer und schaue mit Eskort-Dame Mostella (Pia Wurzer) und ein paar anderen Gästen einen alten französischen Splatterfilm. Zur Mitternacht gibt es dann sogar ein – wenn auch vorhersehbares – Ende: Jelena wird endlich von Elsa erstickt, das Hotel/Kino-Personal hat sein Ziel erreicht und beschaufelt sie zeremoniell mit Erde.
Es stimmt, auch mehrfach SIGNA- und Nilsson-erprobt ist es immer noch verstörend, in einem unheimlichen Raum mit einen anzüglich lächelnden oder sonstwie intensiv performenden Menschen allein zu sein. Über kontrollierten Ekel geht Thomas Bo Nilssons Zauber in diesem Fall aber nicht hinaus. "JINXXX" ist nicht mehr und nicht weniger als eine hübsche kleine Fingerübung in immersivem Theater.
JINXXX
Installation von Thomas Bo Nilsson
Uraufführung
Realisation: Thomas Bo Nilsson, Regie: Thomas Bo Nilsson, Jens Lassak, Julian Wolf Eicke, Bühne und Kostüme: Thomas Bo Nilsson, Julian Wolf Eicke, Sounddesign: Jacob Suske, Dramaturgie: Tobias Schuster, Anna Laner.
Mit: Lena Bösch, Georg Bütow, Julian Wolf Eicke, Vera von Gunten, Jens Lassak, Thomas Bo Nilsson, Ute Reintjes, Pia Wurzer.
Dauer: bis zu 6 Stunden je nach Slot, keine Pause
www.schauspielhaus.at
Aus Sicht von Petra Paterno vermag "Jinxxx" nur lose Skizzen rund um die Faszination am Bösen zu entwerfen, während die "tausend dunklen Gründe", von denen Baudelaire etwa in seinen "Blumen des Bösen" gesprochen habe, unerforscht blieben – wie sie in der Wiener Zeitung (3.12.2016) schreibt. Im Vergleich zu "Cellar Door" im vergangen Jahr, das die Kritikerin als "ein grandioses Theater-Inferno rund um Online-Gamer und Dark-Net-User" empfand, bleibe Nilssons neuer Abend "bedauerlicherweise wesentlich kleiner dimensioniert, beinahe kammerspielartig".
Eine "prächtig verlotterte Installation" besuchte Norbert Mayer von Die Presse (4.12.2016). "Das Grundprinzip: Den Schrecken im Kopf erzeugen die Besucher selbst, die Darsteller bringen sie nur zuvorkommend, aber bestimmt in eine Endlosschleife. Wer in diese Performance selbst viel einbringt, kriegt auch weit mehr zurück." Dann könne "diese herzige Begegnung richtig kreativ sein".
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