Die Meistersinger von Nürnberg - Bei den Bayreuther Festspielen geht Barrie Kosky mit Richard Wagner ins Gericht
Der Antisemit mit der schönen Musik
von Wolfgang Behrens
Bayreuth, 25. Juli 2017. "Ich finde 'Meistersinger' ein furchtbares Stück. Unerträglich. Es ist mein Albtraum, in den 'Meistersingern' zu sitzen. Für mich ist das das deutsche Dorf mit all den Assoziationen dieser Menschen, dieses Volkes, dieser Gesellschaft, mit all den Regeln und dem, wie sie reden: Blablablabla!" Vor fünf Jahren hat Barrie Kosky das gesagt, in einem sehr sehenswerten Video-Gespräch im Rahmen der Ausstellung "Wagner. Künstlerpositionen" der Berliner Akademie der Künste. Kosky berichtet dann auch von psychischen Krisen, die ihn während seiner Proben für den "Ring des Nibelungen" ereilt hätten, und mithin sah alles danach aus, als habe er auf Wagner schlicht keine Lust mehr. Als Katharina Wagner ihn vor drei Jahren fragte, ob er "Meistersinger" bei den Bayreuther Festspielen inszenieren wolle, sagte er ab. Zuerst. Und überlegte es sich schließlich doch noch.
Albträume scheint er deswegen nicht bekommen zu haben. Im Vorfeld der Premiere wirkte Barrie Kosky jedenfalls gut aufgelegt, er wurde nicht müde zu betonen, dass er der erste jüdische Regisseur sei, der auf dem Grünen Hügel arbeite, und auch seine größte Angst, dass Richard Wagner auf den Proben neben ihm sitzen könne, habe sich nicht bewahrheitet. Aber wie hätte Wagner auch neben ihm sitzen sollen, wo er doch – und das gleich mehrfach – auf der Bühne steht?
Wenn sich der Vorhang zum ersten Akt hebt, werden wir Zeuge eines Tages im Jahr 1875 in der Villa Wahnfried: Richard und Cosima empfangen Besuch, Cosimas Vater Franz Liszt ist gekommen, der jüdische Dirigent Hermann Levi ebenfalls. Wagner gibt sich als aufgekratzter Gastgeber, er setzt sich ans Klavier, um mit Liszt vierhändig zu spielen, er drängt seinen Gästen seine Fantasiegestalten auf und ist ununterbrochen damit beschäftigt, ein ziemliches Gewese um sich zu machen. Nach und nach bringt er die versammelte Gesellschaft dazu, sich in seine Vorstellungswelt hineinzubegeben und für ihn und mit ihm die "Meistersinger" gewissermaßen als Familienaufstellung nachzuspielen.
Was verblüffende Volten hervorbringt. Im erwähnten Gespräch von 2012 bemerkte Kosky auch, dass Wagner in allen seinen Figuren immer selbst drinstecke. Folgerichtig springen hier plötzlich verschiedene Richards mit Samtbaretts über die Bühne, die zuletzt sowohl in die Rolle des weisen Hans Sachs als auch in die des jugendlichen Neuerers Walther von Stolzing schlüpfen. Schwiegervater Liszt muss den Veit Pogner geben, der seine Tochter – Cosima beziehungsweise Eva – dem Sieger des Wettsingens als Preis darbietet. Die Schlüsselrolle in diesem Spiel fällt jedoch Hermann Levi zu: Wagner nötigt ihm – ganz offensichtlich wider Willen – den Beckmesser auf. Es ist das eine böse Pointe: Ausgerechnet den Juden zwingt Wagner dazu, seine antisemitischen Fantasien auszuagieren. Indem Kosky diese Villa-Wahnfried-Metaebene einzieht, kann er es sich leisten, den (sowohl in seiner stimmlichen als auch darstellerischen Charakterisierung) großartigen Johannes Martin Kränzle als Levi/Beckmesser immer wieder ins gefährlich Karikierte hineinzutreiben: ins Schmierige, ins Gierige, ins Unterwürfige. Das antisemitische Klischee bleibt als Ausgeburt des Wagner'schen Denkens kenntlich.
Pralle Komödie
Nicht zuletzt ist dieser erste Akt bei Kosky aber: pralle Komödie. Wie die Meistersingerschar als hyperaktive Rasselbande in historisierenden Kostümen über die Bühne wackelt, wie sie übertrieben empathisch auf jeden neuen Reiz reagiert und sich immer wieder wie eine liebe- und körperkontaktbedürftige Kindergartengruppe zusammenknäult – das ist schon sehr, sehr drollig. Beim Putzigen freilich bleibt Kosky nicht stehen, dazu sind die "Meistersinger" dann eben doch zu "furchtbar". Am Ende des zweiten Aktes etwa – Wahnfried ist nun einer von einer idyllischen Wiese überwucherten Innenarchitektur gewichen – platziert er einen grandiosen Schockmoment: Die grobianische nächtliche Prügelei, aus der Beckmesser bei Wagner "jämmerlich zerschlagen" hervorgeht, inszeniert er als ein regelrechtes Pogrom. Und wie ein Menetekel erhebt sich über die gesamte Bühnenhöhe in Sekundenschnelle ein gewaltiger aufblasbarer Kopf: eine antisemitische "Stürmer"-Karikatur, in der man plötzlich sogar Züge Richard Wagner zu erkennen meint. Als wäre Beckmesser der, der Wagner immer Angst hatte zu sein.
Der Raum des zweiten Aktes entschlüsselt sich im dritten als der Gerichtssaal der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Kosky füllt diesen – immerhin gilt es ja das Johannisfest samt Wettsingen darzustellen – weiterhin farbenfroh mit allerlei Folklore, die in diesem Ambiente jedoch mitunter ziemlich gespenstisch anmutet. Zu Gericht gesessen wird auch: Der beim Wettsingen übel abservierte Beckmesser beschuldigt Hans Sachs des Betrugs. Sachs reagiert bei Wagner mit den Worten: "Ich bin verklagt und muss bestehn: drum lasst mich meinen Zeugen ausersehn! Ist jemand hier, der Recht mir weiß, der tret' als Zeug' in diesen Kreis!"
Wagner vor Gericht
Hier nun aber beweist Koskys Konzept seine Schlüssigkeit: Verklagt ist bei Kosky nämlich nicht Hans Sachs, sondern – siehe erster Akt – Richard Wagner. Die Anklage lautet auf Antisemitismus. Hans Sachs ruft nun als Zeugen auf: Walther von Stolzing, also – siehe erster Akt – ein weiteres Alter Ego von Richard Wagner. Und dieses andere Alter Ego, Walther, singt nun sein Preislied, es lässt gewissermaßen die Kunst sprechen. Womit die Verteidigungsstrategie Nummer eins der Wagnerianer benannt ist: Ja, okay, Wagner war Antisemit, aber, was soll's, die Musik ist doch so schön. Kosky verurteilt diese exkulpierende Haltung in seiner Inszenierung nicht direkt, aber er beharrt doch merklich auf einem Punkt: Wagner ist nur als Gesamtpaket zu haben. Und zu dem gehört der Antisemitismus dazu. Was leider furchtbar ist. Und unerträglich.
Aber die Musik ist halt so schön! Auch das wird einem in Bayreuth natürlich wieder vor Ohren geführt: Philippe Jordan bietet hierzu ein zügiges, manchmal regelrecht treibendes Dirigat an, das ab und zu in (offensichtlich szenisch motivierten) langen, sehr langen Generalpausen stillgestellt wird. Die von Eberhard Friedrich einstudierten Chöre sind Bayreuth-Standard, also formidabel. Und mit Michael Volle, der als Hans Sachs über eine atemberaubende Bandbreite an Farben und Artikulationsmöglichkeiten gebietet, mit Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, dem wuchtigen Günther Groissböck als Pogner und dem geschmeidigen Daniel Behle als David stehen wahre Meistersinger auf der Bühne.
Buhs und Bravos
Klaus Florian Vogt, der bereits in der Vorgänger-Inszenierung von Katharina Wagner den Stolzing sang, mag eine Winzigkeit von seiner damals geradezu unverschämten Mühelosigkeit eingebüßt haben, dafür hat sein so ungemein helles Timbre etwas an heldischer Kraft dazugewonnen. Anne Schwanewilms hat in diesem herausragenden Männerensemble einen schweren Stand, weil ihre Stimme für die Eva wohl zu dramatisch, zu wenig jugendlich ist (und eher zur Cosima, die sie bei Kosky ja auch spielt, zu passen scheint); trotzdem berührt einen das gnadenlose Ausbuhen, das bei derart problematischen Besetzungen in Bayreuth Gepflogenheit ist, unangenehm.
Und übrigens: Auch Barrie Kosky bekam am Ende ein paar Buhs. Die aber gingen im Zuspruch unter. Denn selbst beim als krachkonservativ verschrienen Bayreuther Publikum dürfte mittlerweile angekommen sein, dass Richard Wagner nicht freizusprechen ist. Jedenfalls nicht in allen Punkten der Anklage.
Die Meistersinger von Nürnberg
von Richard Wagner
Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Philippe Jordan, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüm: Klaus Bruns, Licht: Frank Evin, Video: Regine Freise, Dramaturgie: Ulrich Lenz, Chor: Eberhard Friedrich.
Mit: Michael Volle, Günther Groissböck, Tansel Akzeybek, Armin Kolarczyk, Johannes Martin Kränzle, Daniel Schmutzhard, Paul Kaufmann, Christopher Kaplan, Stefan Heibach, Raimund Nolte, Andreas Hörl, Timo Riihonen, Klaus Florian Vogt, Daniel Behle, Anne Schwanewilms, Wiebke Lehmkuhl, Georg Zeppenfeld, Festspielorchester, Festspielchor.
Dauer: 6 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen
www.bayreuther-festspiele.de
"Erstaunlich unterhaltsam und überzeugend", fand Reinhard J. Brembeck von Spiegel Online (26.7.2017) Koskys Inszenierung. Sein Beckmesser agiere zwischen Eitelkeit, Bigotterie und schlichter Einfalt, "sodass statt des seinerzeit gesellschaftlich akzeptieren Antisemitismus Wagners die aggressive Judenfeindlichkeit generell thematisiert wird". Beckmesser bekomme einen hässlichen karikaturhaften Judenkopf aufgesetzt, während selbige Karikatur gleichzeitig als riesiger Ballon und Pogrom-Menetekel auf der Bühne aufpoppt. "Komisch und schrecklich zugleich: ein Stilmittel des doppelbödigen Kosky-Wagner-Kosmos."
"So weit, so unterhaltsam und komödiantisch virtuos", resümiert Christine Lemke-Matwey auf Zeit Online (26.7.2017) den ersten Akt. Der Rest biete Grund zu Spekulationen: "Die Nürnberger Prozesse als Polit-Deko für Richard Wagner? Einmal antisemitisch, schon immer antisemitisch?" Koskys abgeräumte Bühne drücke sich letztlich, beziehe keine Position. "Außer dass die Wagner-Kunst Wahn sein kann, Droge, Rausch."
Das Tempo des Anfangs könne Kosky "unmöglich vier Stunden halten. Aber er hält eine Weile die Höhe des Witzes", schreibt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen (27.7.2017). Aber dann schleppe sich denn der zweite "einfallslos und verlegen dahin". Kosky habe kein Interesse daran, die "Meistersinger "aus der Zwangskopplung mit dem deutschen Nationalsozialismus zu lösen. Dafür gibt es gute Gründe. Doch warum ist das Stück trotzdem mehr als ein Exempel im Staatsbürgerkunde-Unterricht?" Was könne an ihm "über die Riten und Reflexe der Re-Education hinaus noch interessant sein? Man hätte es in dieser handwerklich virtuosen, am Ende kapitulierenden Inszenierung gern erfahren."
Kosky habe "genau gesehen, dass sich der durchaus nie uneitle Wagner in den 'Meistersingern' gleich zweimal selbst porträtiert. Einmal in dem längst gesellschaftlich etablierten alten Volkstribunen Hans Sachs, zum anderen in dem jungen Schnöselavantgardisten und Menschheitsverächter Stolzing", schreibt Reinhard J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (27.7.2017). Auch dass Beckmesser "nach und nach zu jener Judenkarikatur" werde, "die Wagner und seine Anhänger mindestens bis hin zu Hitler für die Wirklichkeit hielten", habe Kosky "genial gesehen". Schade allerdings, dass Kosky "mit den von Wagner bis zur Erschöpfung zelebrierten kunsttheoretischen Diskursen dieser Oper so gar nichts anzufangen weiß, obwohl die für den Komponisten ein zentrales Anliegen sind".
Neu sei "der Lernstoff dieser fünf Geschichtsstunden sicher nicht, es gibt weder Theaterrevolution noch Erleuchtung – stattdessen kluge Fragen, Brüche und handwerklich immer gekonntes Theater", meint Bernhard Neuhoff auf Bayern Klassik (26.7.2017). Gut sei "Kosky auch dann, wenn er unter seinen Möglichkeiten bleibt". Musikalisch sei es dagegen "ein großer Abend". Letztlich trage die Glaubwürdigkeit von Michael Volle, "dieses großartigen Darstellers", den Abend – "Volle ist Sachs, Volle ist Wagner, Volle singt von Wahn und Liebe und zeichnet einen Charakter von faszinierender Ambivalenz".
In Koskys Perspektive scheine "die ganze 'Meistersinger'-Handlung einzig darauf zu gründen, dass Beckmesser den anderen – den anderen Meistersingern, den Nürnbergern, den Deutschen – zuwider ist und entfernt werden muss. Hier wird, Fliederduft hin, Fliederduft her, kein buntes Frühlingsfest gefeiert, keine junge Liebe gestiftet und erst recht keine Kunsttheorie gewälzt. Es geht nur darum, einen rauszumobben", schreibt Lucas Wiegelmann in der Welt (27.7.2017). Merkwürdig sei indes, "wie wenig Kosky neben dieser einen großen Beckmesser-Erzählung an Details eingefallen ist, die das Ganze hätten beleben können. Es gibt sie ja, die witzigen Szenen in den 'Meistersingern', aber die ziehen fast alle unbemerkt vorüber."
Diese "Meistersinger" seien ein "mit Riesenbeifall und Getrampel aufgenommener Konsens-Wagner für Landtagsabgeordnete, die einmal im Jahr zur Festspieleröffnung in die Oper gehen", meint Robert Braunmüller in der Münchner Abendzeitung (27.7.2017). "Ein paar Amerikaner wundern sich vielleicht noch darüber, wie demokratisch wir heute sind. Sonst keiner. Und so muss man leider konstatieren: Kosky tut er niemandem weh. Das ist ziemlich langweilig."
Koskys Inszenierung stehe "in der neuen Tradition Bayreuther Selbstreferenzialität", schreibt Peter Uehling in der Berliner Zeitung (27.7.2017): Katharina Wagner habe "vor zehn Jahren zum eher plumpen Bildersturm auf die braune Karriere des selben Werks geblasen", Stefan Herheim den "Parsifal" "als Gang durch die deutsche Geschichte angelegt". Kosky lasse "sich im Vergleich zu seinen Kollegen am wenigsten vom Wagner-Komplex herunterziehen. Er gönnt dem Zuschauer eine Distanz zu den 'Meistersingern', ohne das Stück zu verjuxen."
Koskys Inszenierung funktioniere "strenggenommen nur unter der Prämisse, dass man die Grundüberzeugung Koskys teilt, wonach das Stück in Gestalt des Sixtus Beckmesser die diffamierende Karikatur eines Juden enthalte", postuliert Christian Wildhagen in der Neuen Zürcher Zeitung (27.7.2017). Nun liege "diese These angesichts von Wagners beschämenden antisemitischen Entgleisungen in seinen Schriften zwar nahe, wird sich aber im Werk kaum je abschliessend beweisen lassen. Als Spielhypothese für eine Regiedeutung könnte sie immerhin aufschlussreich sein. Nur macht Kosky zu wenig daraus." Weite Teile des zweiten und des dritten Aktes blieben "im Spielopernhaften stecken – handwerklich solide, aber fad".
Kosky nehme "die Unschuldsvermutung gegen das Werk, die wir uns angewöhnt haben, wenn es um Wagner geht", nicht hin und führe "drastisch vor, dass Musik und Text selbst gegen Fremdes, Anderes zielen, nicht nur, aber vor allem das tatsächlich jüdische Geistesleben in ganz Europa", meint Niklaus Halblützel in der tageszeitung (27.7.2017). Kosky höre "genau zu". Am Ende spreche sein Gericht kein Urteil. "Es zieht sich zurück, einsam muss Volle Wagners Selbstverteidigung zu Ende singen: 'Verachtet mir die deutschen Meister nicht.' Nein, gerade Kosky will das nicht. Mehr Respekt hat dieses Werk noch nie gefunden."
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"Verteidigungsstrategie Nummer Eins". Unterschätzen Sie nicht das Publikum. Meine Erfahrung ist, dass "die Wagnerianer", auch und *gerade* die in Bayreuth, sehr wohl differenzieren können, und niemand versucht, Wagners Antisemitismus zu verteidigen. In der Tat gibt es ihn nur als Gesamtpaket und das besteht aus *weit* mehr als Antisemitimus und "schöner Musik".
Volle und Kränzle haben nicht nur toll gesungen, sondern auch eine unglaubliche schauspielerische Leistung abgeliefert. Im Kino kam das vermutlich sogar noch besser rüber.
Die Slapstick im ersten Akt hat mich ziemlich verwirrt, aber vom Ende her betrachtet ergibt es Sinn. Bei den headbangenden Meistersingern musste ich wirklich lachen. Da versteht Barrie Kosky sein Handwerk!
Buhrufer sind echt ärgerlich und zum Fremdschämen. (hier kann ich das Bayreuther Publikum dann doch nicht vollständig in Schutz nehmen).
Ich frage mich, wie diese Grenze kenntlich bleiben kann, wenn in der Inszenierung ganz klar eingeführt wird, dass Herman Levi und eben nicht einer der vielen Wagner-Doppelgänger dazu verdonnert wird, Beckmesser zu spielen. Das kann man ganz leicht und sicher von der Regie ungewollt so lesen, dass er mit dieser Rolle und seiner Spielweise alle fratzenhaften Klischees vom verschlagenen, mißgunstigen Juden bestätigt - "Hat der Wagner also Recht gehabt!".
Auch weil die Regie nur immer wieder Sachs als Wagner aus diesem Spiel aussteigen lässt, während Levi nach einmaliger Verwandlung Beckmesser bis zum Schluss bleiben muss.
Sicherlich ist das Spiel mit dieser Grenze kein ungefährliches Spiel. Ich allerdings habe die Setzung Wagners als Regisseur des Ganzen am Anfang so stark empfunden, und auch die Opfer-Stigmatisierung Beckmessers im 2. Akt als so brachial, dass ich die Klischees nicht als Levi/Beckmesser "wesensmäßig" zugehörig erkennen konnte, sondern als eine durchweg zugedachte Rolle. Wie gesagt, der Grat ist schmal … In meiner Wahrnehmung ist aber Kosky nicht abgestürzt.
Dass finde ich insofern wirklich faszinierend, da diese Setzung "Wagner ist der Regisseur" ja auch nicht wirklich stark ausformuliert ist: es werden die Stühle zum Gottesdienst hingestellt und dann geht das Spiel im Spiel los und Regisseur Wagner sitzt ja meistens nur in der Ecke oder reicht mal ein Requisit an - aber alle wissen was sie im Spiel zu tun haben, egal ob gedoppelter Wagner oder Liszt/Pogner oder Levi/Beckmesser.
(Einen Aspekt im Zusammenhang mit dieser Wagner-Doppelei, den ich nebenbei noch in keiner Kritik erwähnt fand: der zweite Akt funktioniert auch deshalb so schlecht, weil wenn Wagner Sachs und Stolzing gleichzeitig ist, es überhaupt keinen tatsächlichen Konflikt um Eva/Cosima gibt, sondern das aller Männerzwist nur -wie zu sehen- absolut leere Behauptung bleibt).
Zur Opfer-Stigmatisierung würde mich auch noch interessieren, warum Sie die so widerspruchsslos hinnehmen: im Stück werden die Bürger durch den immer lauteren Gesang Beckmessers aus ihren Betten geweckt und auf die Strasse geholt, dann gibt es noch die Verwechslung, dass David denkt, Beckmesser singt für seine Geliebte Lene am Fenster, daraus entsteht der "Wahn" (wie auch immer der dann aussehen mag), den Sachs im Dritten Akt besingt und an dem er selber seinen Teil hat. In dieser Aufführung rennt ohne ersichtlichen Grund der Chor herein und dann wild durcheinander, bleibt dann pünktlich zu seinem Gesangseinsatz stehen, während ein paar Statisten dem Beckmesser die Laute zerschlagen und ihm diesen Nazikarrikatur-Kopf eines Juden aufsetzen, während sich parallel aus dem Rednerpult der gleiche Kopf von alleine überdimensional aufbläst. Diese Sündenbock-Stigmatisierung oder dieser "Progrom" wie auch zu lesen war, passiert aus der Inszenierung gelesen ohne irgendeine, inhaltliche Logik. Könnte man da nicht ganz ketzerisch fragen, ob die Regie hier nur in erster Linie Beckmesser, aber für ihre Zwecke eigentlich Wagner zum Sündenbock macht, der (hier) scheinbar grundlos Beckmesser verprügeln lässt?
Ich finde es toll, wenn Theater Fragen aufwirft - allerdings scheinen mir diese Fragen so unscharf formuliert, dass ich den Verdacht habe, hier wird nur eine Scheindiskussion angezettelt.
Lieber Herr Spitzer, ich bin nicht promoviert - das nur nebenbei. Jeder Regisseur muss sich einer Bewertung stellen. Den professionellen Kritiken in den (zumeist Print-)Medien und auch dem Publikum am Ende einer Premiere. Und das ist auch gut so. Da kann es Zustimmung oder Ablehnung geben oder gemischte Kritiken. Ich habe mir Buhs erlaubt und dazu stehe ich. Ich habe die Aufführung, der ich beigewohnt habe, mit meinen Buhs entsprechend "bewertet". Und ich lasse es mir nicht nehmen, zu buhen, wenn mir persönlich eine Regie nicht gefällt. Ob das anderen Leuten passt oder nicht. Andere dürfen gern anderer Meinung sein und entsprechend ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen. Was Kosky in den kommenden Jahren durch den Bayreuther Werkstatt-Gedanken an der Inszenierung noch überarbeitet und verändert, bleibt für's Erste dahingestellt und kann dann erneut bewertet werden. Alles Gute für Sie und noch viele schöne, gute und anregende Opernaufführungen.
Der "Antisemit mit der schönen Musik". Semiten sind alle Völker des Nahen Ostens. Ist das hier gemeint? Im dritten Reich war Bayreuth das kulturelle Aushängeschild der Nazis und der durch sie geprägten Gesellschaft und damit einer Ideologie, die neben anderen Wahnen fälschlicherweise daran glaubte, es gäbe menschliche Rassen. "Juden" waren zu einer "Rasse" gestempelt worden und ihre Vernichtung erklärtes Ziel mit dem Holocaust als Folge. Hat Wagner so etwas voraussehen können? Und wenn ja, wäre er bei seiner Position geblieben? Der Regisseur Kosky ist Jude lese ich, er verwendet "Judenköpfe" als Stilmittel. In welchem Sinne muss ich hier den Begriff Jude verstehen? Im naheliegenden und platten Kontext, der von Wagner über Bayreuth zum Holocaust seinen Bogen spannt? Rassistisch? Oder im Sinne eines Vertreters der Weltreligion? Wenn Letzteres, warum wird es überhaupt erwähnt?
Dass die Begriffe wie Antisemitismus, Rassismus und leider auch Jude in unserer öffentlichen Diskussion so unscharf verwendet werden, wie hier, verursacht mir Übelkeit.
Während des ersten Auftritts gibt es zwar einige hübsche Szenen, insgesamt ist er zu unruhig, klamaukig, um ihn gegenüber den beiden anderen zu loben. Ebenso schön bunt wie unpassend zu Zeit und Handlungsablauf sind die Kostüme (warum trägt die Cellistin Beckmessers ein Trauerkleid?). Der Nürnberger Gerichtssaal des 2. und 3. Akts ist sterile Dekoration ohne Funktion. Was soll die vorwärts und dann rasch wieder rückwärts laufende Wanduhr? Was soll der rechts stramm stehende (bedauernswerte) GI?
Diese Unstimmigkeiten, Fehler, Mängel und Schwächen werden nicht durch die vielen kleinen eindrucksvollen Momente der Personenführung oder der Lichtregie und größere Szenen der Inszenierung (wie der Monolog von Sachs und das Gespräch Sachs-Beckmesser im 2. Aufzug, der Schlussauftritt von Sachs am Ende) kompensiert.
Kritikwürdig mag das Buhen sein, mehr noch das Gebrüll des Publikums am Ende in Bayreuth, in Salzburg und anderswo. Die Zustimmung schlägt um in eine decouvrierende Selbstdarstellung, - die eben noch vornehm sich dünkenden, arrogant in der Pause herum stolzierenden Herrenmenschen entpuppen sich plötzlich als außer Rand und Band tobende, von Sinnen beraubte Fußballfans.
Befremdlich wirkt die (wiederholte) Betonung, dass nun ein "jüdischer" und schwuler Regisseur in Bayreuth und dazu noch „Die Meistersinger“ inszeniert hätte. Lesen wir demnächst ein Muslim inszeniert „Parsifal“, ein Transgender „Lohengrin“? Ist Bayreuth nun endgültig „entnazifiziert“ und Wagner als Mitläufer entlastet? Wer etwas bereicherndes zum Verhältnis Levi-Wagner auf der Bühne erleben will, sehe sich die musikalisch und szenisch hinreißende Oper „Wahnfried“ von Avner Dorman an, die in der nächsten Spielzeit wieder in Karlsruhe zu sehen sein wird.
Während aber das "Laienspiel" bei Kratzer funktioniert, weil es die trostlose Hoffnung auf ein Wunder aus der politisch verfahrenen Situation erklärt, geht in Bayreuth die doppelte Optik völlig ins Leere. Hat Kratzer die zwei Bedeutungsdimensionen - dir direkte der "Lohengrin"-Handlung und die indirekte des "Laienspiels" konsequent aufeinander bezogen und dadurch legitimiert, fehlt diese Bedeutungsebene bei Kosky völlig und bleibt Wahnfried-Kasperletheater.
Ganz nebenbei: Dass Kratzers Karlsruher "Meistersinger" die gedankenarme Bayreuther Inszenierung weit hinter sich lässt, sei nur erwähnt. Aber auch hier bedient sich Kosky bei Kratzer: Der zum Schluss doch noch zum Hochschulprofessor avancierte Stolzing dirigiert (in "Civil) den Schlusschor (in "Civil") auf der Bühne. Bei Kosky macht das halt der Meister selber.
(Lieber Hannes Grömer, die Formulierung "bedient sich bei … " impliziert einen Vorwurf, den wir so nicht unterstützen, weil ja nicht einmal geklärt ist, ob Kosky die entsprechenden Inszenierungen überhaupt kennt. Da aber die Sachhaltigkeit des Kommentars interessant genug ist, ihn zur Diskussion zur stellen, haben wir ihn veröffentlicht. Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Wolfgang Behrens / Esther Slevogt)
Trotzdem: Danke und freundliche Grüße, Hannes Gröner.
Die Bayreuther Festspiele wurden dieser Tage mit den "Meistersingern von Nürnberg" eröffnet. Ich habe den Premierenabend am Hörfunk verbracht und inzwischen auch eine Fernsehaufzeichnung samt Pausen-Interviews mit dem Regisseur Barrie Kosky und einigen Sängerdarstellern gesehen. In den Medien und auch im Bekanntenkreis wird lebhaft und streitbar diskutiert, was ja allein schon für den außergewöhnlichen Charakter der Inszenierung sprechen mag.
Die "Meistersinger" sind meinem Herzen von allen Wagner-Opern am nächsten. Weitgehend liegt das wohl daran, daß ich sie in jener Lebensphase zum ersten Male gesehen und gehört habe, in der meine Liebe zum Musiktheater tiefer und dauerhaft begründet wurde, wenngleich ich vorher schon einige Felsenstein-Inszenierungen in Berlin mit Bewunderung gesehen hatte: während meines Engagements am Meininger Theater als junger, eben erst diplomierter Dramaturg. Bei der (am Ende schwachen) Inszenierung des Werkes sah ich mir vor der Premiere schon Proben an und verliebte mich immer mehr in die Musik, die Figuren, die Geschichte, die als genial empfundene Dramaturgie, in Geist und Atmosphäre des Stückes. Bei letzteren störten mich zwar einige nationalistisch-deutschtümelnde Sätze in Hans Sachs' großer Schlußansprache "Verachtet mir die Meister nicht!" — aber ich sah das damals als eher kleinen Schönheitsfehler, den nationalen Einheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts geschuldet. Verzeihlich also, zumal uns jungen Leuten die Sehnsucht nach einer deutschen Wiedervereinigung, die ja um 1960 selbst von der DDR-Führung noch offiziell erstrebt wurde, durchaus nicht fremd war.
Meine Liebe zum Werk entsprang der durchaus naiven Betrachtungsweise eines 24jährigen. Was sah ich? Einen Hans Sachs, der seine Liebe zu Eva zugunsten eines Jüngeren hintanstellt und tiefgründig-schopenhauerisch über den "Wahn" in Mensch und Welt philosophiert, der seine schöne Heimatstadt Nürnberg im Fliederduft der Johannisnacht und dann in nächtlicher Gassenhauerei erlebt. Und natürlich die Liebesgeschichten vom dichtenden Ritter und seiner Liebsten, vom Lehrjungen David und seiner Jungfer Lene. Ich sah eine wunderbare Parabel auf die Kunst als "meisterlich" gepflegte Tradition, als Neuerung (Stolzing) und als Handwerk, das in dogmatische Handwerkelei ausarten kann (dafür stand Beckmesser), schließlich als zu preisende Vereinigung beider Seiten zu einer auch handwerklich meisterhaften Kunst. Und ich liebte über die Maßen Wagners Musik. Kurzum: Ich sah in aller Naivität, trotz jener Irritation, in den "Meistersingern" eine tief humane komödische Volks- und Nationaloper, bei allen Unterschieden vergleichbar dem russischen "Boris Godunow" ,vielleicht auch der tschechischen "Verkauften Braut". Beide Stücke wurden gleichfalls in dieser Spielzeit 1960/61 am Meiniger Theater gespielt.
Auch heute noch halte ich nicht alles, was ich damals dachte, für falsch und unbrauchbar hinsichtlich einer denkbaren theatralen Lesart des Stücks. Aber nun traf mich Barrie Koskys Aufführung wie ein Keulenschlag. Ein größerer Kontrast zu meinem lange verinnerlichten Werkverständnis ist nicht denkbar. Und ich bin nicht enttäuscht, sondern aufregend überrascht und teilweise begeistert. Kosky, der als australischer Jude die deutsch-nationalistische und (in der Gestalt Beckmessers) antisemitische Dimension des Werkes als dessen Kern betrachten mußte, konnte sich zunächst nicht vorstellen, die Offerte vom grünen Hügel anzunehmen — bis er dann seinen entscheidenden Einfall hatte: die "Meistersinger" so zu inszenieren, wie sie Wagner selbst zu Lebzeiten vorgeführt hätte. Eine Metaebene also, sehr konsequent etabliert im ersten Akt, der im großen Salon der Villa Wahnfried spielt, wo Richard Wagner seinen Angehörigen und Freunden Cosima (die im folgenden zur Eva mutiert), Liszt (später Veit Pogner), dem jüdischen Dirigenten und Wagnerianer Hermann Levi (dann Beckmesser) das neue Stück vorspielt. Wagner selbst wird Hans Sachs sein, aber in dessen alter ego auch der Ritter Stolzing. Diese Spielidee, die den Abstand garantiert und ihn im 1. Akt durch teilweise derbkomische Mittel noch verstärkt, wird dann trotz etlicher Ungereimtheiten einigermaßen durchgehalten. Sie wird durch eine große Verfremdung zur prinzipiellen Distanzierung: der zweite Aufzug spielt im angedeuteten, der dritte im detailliert ausgestalteten Nürnberger Schwurgerichtssaal, in dem 1945/46 der historische Prozeß gegen die Naziverbrecher stattfand. Die Merkwürdigkeit, daß in diesem Ambiente in Renaissance-Kostümen agiert wird und in einer durchaus psychologisch-realistischen Spielweise, so daß sich einige Rezensenten an eine alte Wolfgang-Wagner-Inszenierung erinnert fühlen konnten - diese (jedenfalls für den ersten Blick) Seltsamkeit kann man kritisieren oder als geistige wie auch künstlerische Konsequenz der Grundentscheidung betrachten. Ich entscheide mich für die letztere Möglichkeit.
Barrie Koskys Verhältnis zum Stück ist die Abscheu eines, fast gegen seinen Willen, auch Liebenden. Er beschrieb im Pausengespräch (das ich hier inhaltlich, aber nicht wörtlich erinnern kann), daß er das Werk am Montag abscheulich finde und am liebsten abreisen wolle, am Dienstag bewundere er dessen Genialität, am Mittwoch genieße er den Probenprozeß an einzelnen wunderbaren Szenen bei gleichzeitiger Ablehnung des Ganzen, am Donnerstag wolle er, diesmal endgültig, erneut abreisen, bis dann gegen das Wochenende Lust und Bewunderung wieder zunähmen. Mit der gewählten, metasprachlichen Erzählperspektive kann er beides: das Werk auf die Bühne bringen und es zugleich in seiner ganzen Fragwürdigkeit, wie er sie sieht, ausstellen. Er ist es ja nicht, der das alles mitsamt den Renaissancekostümen inszeniert hat — es ist Wagners Aufführung vor den Seinen. Es ist gleichsam Wagner, nicht Kosky, der dem Beckmesser-Darsteller während der Prügelfuge einen abscheulichen, riesigen, den widerlichen "Stürmer"-Karikaturen entnommenen Judenkopf überstülpt. Aber Kosky (gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Rebecca Ringst) stellt das Ganze vor die Nürnberger Gerichtsbarkeit des Jahres 1946, verbirgt sich hier nicht mehr hinter der Meta-Ebene und stellt klar: Wagners Nürnberg war auch hier. Vergleichbar trotz aller Unterschiede mit der Zurücknahme der Neunten Sinfonie durch Thomas Manns Tonsetzer Adrian Leverkühn, nimmt Barrie Kosky die "Meistersinger von Nürnberg", die er zugleich ins hellste Rampenlicht stellt, zurück.