Häusliche Gewalt Wien - Bei den Wiener Festwochen zeigt Markus Öhrn den ganz normalen Missbrauch in der Dauerschleife
50 ways to hurt your lover
von Andrea Heinz
Wien, 8. Juni 2018. Es könnte überall sein. Austauschbare, weiße Möbel, ein Bild an der Wand, Blumen am Esstisch, eine Kuckucksuhr, ein Schild: Home, Sweet Home. Aber ein gesprayter Hinweis an der Wand lässt erst gar keine Illusionen aufkommen: "Häusliche Gewalt" steht da, und ein Pfeil weist den Weg. Genau das ist es, was in der fünf Stunden dauernden Performance dann auch passiert: Der schwedische Künstler Markus Öhrn hat reale, in Wien vor Gericht verhandelte Missbrauchsfälle zum Vorbild für seine gleichnamige Arbeit genommen.
Du sollst Deinen Nächsten lieben
Noch bevor man die ebenerdig in den Wiener Gösserhallen aufgebaute "Wohnung" erreicht, kommt man an einer Reihe von Statistiken und Daten der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie vorbei. Das meiste, was da steht, ist keine Überraschung: Die überwältigende Mehrheit der Gewaltopfer sind Frauen, die überwältigende Mehrheit der Täter männlich. Nur ein sehr geringer Prozentsatz sind "Fremde", die allermeisten Täter sind Partner, Freunde, Bekannte, Verwandte. Es sind Zahlen, die für jeden zugänglich sind. Die Frauenhäuser sind trotzdem chronisch unterfinanziert.
Conte d’Amour verhandelte er in ähnlich klaustrophobischem Setting den Fall Fritzl. Damals gab es eine ziemlich pervertierte Form von Familienleben zu sehen, nun ist es eine gleichermaßen verstörende Liebesbeziehung. Ein Paar lebt in dieser Wohnung. Sie (Janet Rothe) trägt ein hautenges rotes Minikleid mit Spitzeneinsätzen und macht auf hohen Hacken noch ein wenig Yoga, bevor der Gatte nach Hause kommt. Der bereits sehnsüchtig Erwartete (Jakob Öhrman) trägt Anzughose und hat eine Sporttasche umhängen, er kümmert sich nach dem Büro wohl noch kurz im Sport für die richtige Work-Life-Balance. Ein ganz normales Paar, es gibt Begrüßungsküsse und Wein. Nur: Die beiden haben statt Köpfen riesige Pappmaché-Masken. Sie sprechen auch nicht, nur ihre Körpergeräusche, Gurren, Schmatzen, Weinen oder Stöhnen ertönen unwirklich verstärkt über Lautsprecher. Wie bei einem Stummfilm kommt dazu vom Piano, das im Eck steht, Live-Musik (Arno Waschk).
Ausgangspunkt für Öhrn war eine Arbeit, mit der er bereits 2012 bei den Wiener Festwochen zu Gast war: InSchablonen von Liebe und Gewalt
Öhrn macht nicht den Fehler, die realen Fälle auszustellen. Er zeigt Karikaturen, austauschbare Schablonen von Liebe und Gewalt. Denn schließlich haben alle diese Einzelfälle einen strukturellen Hintergrund, funktionieren sie nach gewissen Schemata. Wie in einer Endlosschleife kommt die Gewalt auf der Bühne immer wieder, und jedes mal kippt die Situation ganz plötzlich – gerade küsste sich das Paar noch schmatzend, da ändert sich plötzlich seine Stimmung, er wirft ihr das Handy hin (Eifersucht!), schlägt ihr brutal ins Gesicht. Gerade noch haben die beiden beim Essen gescherzt, hat er ihr zuvorkommend aufgetan, da fängt er plötzlich an, sie zum Essen zu zwingen, kippt ihr immer mehr auf den Teller, sie würgt, sein Schlag wirft sie vom Stuhl.
Es kommt einem alles entsetzlich bekannt vor, weil man es so oder so ähnlich schon in der Zeitung gelesen, im Fernsehen gesehen hat. Was danach passiert, ist ähnlich schablonenhaft: Sie überschminkt ihre Wunden. Er weint, weil es ihm so leid tut. Sie beseitigt die Spuren in der Wohnung. Er will sich versöhnen. Sie will ihn trösten. Immer wieder derselbe Ablauf, man hält es manchmal kaum aus: scheinbare Normalität, Gewaltausbruch, Stille, Weinen, Versöhnung ...
Voyeuristischer Sog
Es gibt keinen Anfang und kein Ende, die Zuschauer*innen können jederzeit kommen und gehen. Auch reale häusliche Gewalt hat zumeist kein Ende, kommt für die Frauen genauso unberechenbar wie hier für das Publikum. Und so abstoßend und brutal es auch ist, was man zu sehen bekommt, es entwickelt einen Sog, viele schauen über Stunden zu. Natürlich ist das voyeuristisch – aber vor allem sieht man zu, weil man verstehen will. Was passiert hier, warum?
Öhrn zeigt auch den (strukturellen) Hintergrund dieser Gewalt, die Geschlechterrollen einer patriarchalen Ordnung, von denen gern vergessen wird, dass sie auch in einer modernen Gesellschaft nach wie vor existieren: Eine Frau, die gefallen will und sich bereitwillig von ihrem Mann abhängig macht. Der blättert in der Performance immer wieder in Männer-Magazinen mit muskulösen Kerlen auf dem Cover und steht gerne betont breitbeinig vor ihr. Schöne Frau, starker Mann.
Gerade das macht den Abend so wichtig und sehenswert: Weil Öhrn das Thema der häuslichen Gewalt verzerrt und überzeichnet, gelingt es ihm, Strukturen und Mechanismen zu zeigen, ohne in billige Betroffenheit zu verfallen, die man genauso schnell wieder vergessen kann. Stattdessen bringt er das Publikum dazu, über die Ursachen der Gewalt nachzudenken. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: hinzusehen. Wie ernsthaft man gegen häusliche Gewalt kämpft, ist eine politische Entscheidung. Und damit durchaus auch eine Wähler*innenentscheidung.
Häusliche Gewalt Wien
von Markus Öhrn
Regie und Bühne: Markus Öhrn, Pianist: Arno Waschk, Masken: Makode Linde.
Mit: Jakob Öhrman, Janet Rothe.
Dauer: Fünf Stunden, Kommen und Gehen jederzeit möglich.
Ab 16 Jahren
www.festwochen.at
"Aggression. Erschöpfung. Reue. Immer zur vollen Stunde ruft der Kuckuck aus seiner Uhr. Fünf Stunden dauert der Abend, die kleine Halle 5 füllt sich (bei freiem Eintritt) beständig und hält viele Besucher lange im Bann. Jede Situation kann eskalieren. Trautes Heim, Unglück zu zweit." So berichtet Michael Wurmitzer im Standard (9.6.2018) über einen starkes Stück mit "tollen Darstellern".
Öhrns "Aufführung geht in quälender Zeitlupe vor sich, eine Endlosschleife von Grausamkeit und Wiederannäherung", schreibt Barbara Petsch in der Presse (9.6.2018). Die Arbeit biete "einen Kontrast zur schnellen Medienrealität" und leiste einen spannenden Versuch, "die konventionelle Dramaturgie zu durchbrechen und das Publikum zum Innehalten, Nachdenken zu zwingen – was ja eine zentrale Funktion der Kunst ist".
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