Robinson Crusoe. Projekt einer Insel - Jan Bosse gibt Anweisungen zum Überlebenstraining im Wiener Burgtheater
Wo die wilden Kerle hausen
von Reinhard Kriechbaum
Wien, 20. April 2012. Der Schiffbruch hat sich sehen lassen, im Gewitter der Stroboskop-Blitze. Jetzt taucht Robinson Crusoe auf, wie Gott ihn schuf. Grob geschätzt zwischen 14. und 17. Reihe Parkett ist er gestrandet. Nackt fühlt man sich dort unwohl, auch wenn das hochkulturelle Eiland unbewohnt scheint. Ein Stück Theatersamt ist rasch von einem der Stühle heruntergerissen und damit die allerärgste Blöße bedeckt. Recht verlegen hockt Robinson auf der Brüstung einer der Logen. Die Not-Einkleidung des Robinson wird an diesem Abend nicht die einzige Attacke bleiben auf die Ausstattung im ehrwürdigen Haus am Ring.
Daniel Defoes Romantext steht zur Begutachtung und damit überraschenderweise die Frage, wie es sich überlebt im Theater. Nein, nicht auf der Bühne, das wäre keine Hexerei. Der Zuschauerraum ist die wahre Herausforderung! Dort lässt Regisseur Jan Bosse seine Dramatisierung spielen, während sich die Publikumsreihen tief in den Bühnenraum hineinziehen.
Das oberste Gebot: Denkmalschutz!
Wir schauen also ins Parkett und beobachten Robinson beim Nahkampf mit der Materie. Anfangs kann er Panik und Desorientiertheit nur schwer verbergen. Wie Joachim Meyerhoff als Titelrollenträger herumwuselt zwischen Logen und Stuhlreihen, kommt einem Otto Waalkes in den Sinn. Aber dieser Robinson, ein durch und durch kultivierter Mensch, wächst rasch an der Wildnis aus Plüsch, Samt und Brokat. Das erste Verkosten eines indigenen Produkts – es ist der Füllstoff eines Klappsessels – bewährt sich nicht. Dafür sichert ein Stück Vorhangstoff aus einer Loge dem Auftreten sogleich eine gewisse Würde.
Zwischendurch müssen noch ein paar Sessel dran glauben, zwei Brüstungsgeländer vom Stehplatz, ein Flügel der hintersten Parketttür, ein paar Kordeln und, nicht zu vergessen, ein längeres Stück roter Teppich. Der Flurschaden ist gewaltig, so lange bis Robinson sich selbst und seiner Insel eine ordentliche Verfassung gibt: "Das oberste Gebot der Insel Speranza: Denkmalschutz!" Spricht's und krönt sich mit einem flugs aus der Wand gerissenen Kristallleuchter.
Theatertischler, Elektriker und Requisiteure sind stark gefordert. Auch wenn die Aufführung mit bloß zwei Darstellern auskommt (der zweite ist Ignaz Kirchner, erst als Robinsons Vater, dann als Freitag), dürften die Kosten nicht gering ausfallen.
Jan Bosses "Projekt einer Insel" ist also ein durch und durch theater-genuines. Freitag lernt als erstes gediegene Vokabeln wie "Klapppolsterreihe" oder "Stuhllehne mit Nussbaumapplikation". Man weiß ja nicht, wofür es mal gut ist. Später wird Freitag seinen Herrn gelegentlich mit der vorlauten Frage nerven: "Hat es eine Pause?" Wenn Freitag beim Kannibalismus ertappt wird, gibt's kein Pardon: Ab ins Stehparterre!
Frieden, Sicherheit, Glück und ein Premierenabonnement
Bosse zeigt uns einerseits ein überdrehtes Verkleidungs- und Requisitenspiel zum Totlachen und liefert zugleich eine tendenziell arglistige Abrechnung mit dem bildungsbürgerlichen Kulturverständnis. Es ist ein rechtes Theater, wenn Freitag hinaufgehoben, emporgezogen wird auf Robinsons kulturelle Höhen. Da hat er viel zu tun, Joachim Meyerhoff gibt eine pralle Theaterfigur von nicht erlahmender Energie.
Ignaz Kirchner setzt gerne ein Pokerface auf und brilliert als ultra-leiser, nur scheinbar demütiger "Wilder". Robinson legt sein Bekehrungswerk gründlich an, und die Religion bleibt nicht außen vor. Da wird's dann aber sogar dem geduldigen Freitag zu bunt, und er will partout nicht begreifen, warum der allmächtige Gott den Teufel einfach so gewähren lässt. Rasch kommt Robinson in Erklärungsnotstand.
Für wen mag eigentlich so eine Robinson'sche bildungsbürgerliche Plüschtheaterinsel gut sein? Jan Bosse legt uns da eine gar verdächtige Fährte, denn am Beginn muss sich der arme junge Robinson eine gewaltige Standpauke anhören von seinem Vater, der ihm die Segnungen eines Lebens im "gehobenen Mittelstand" einzubläuen trachtet. Dort und nur dort seien Frieden, Sicherheit, Glück und Gesundheit zu Hause. Wahrscheinlich auch ein Premierenabonnement, aber das unterschlägt der alte Crusoe seinem Sohn, den es partout hinauszieht aufs Meer. Manche Lebenserfahrung muss man halt selbst machen.
Robinson Crusoe. Projekt einer Insel
nach dem Roman von Daniel Defoe
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath
Mit: Joachim Meyerhoff und Ignaz Kirchner
www.burgtheater.at
Eine "Art 'Endspiel' im Beckett'schen Sinne" werde an diesem Abend gegeben, schreibt Barbara Petsch für die Presse (22.4.2012). Bosse biete "Kalauer und Tiefsinn"; es gebe "mehrere Deutungsstränge: Das Theater als Versuchslabor, das hat mit der Geschichte zwar nichts zu tun, ist aber effektvoll. Die Idee, die Bühne als Spielplatz für das postutopische Leben zu benutzen, wird nicht allzu weit verfolgt. Es bleibt über weite Strecken bei Witzeleien." Die Gespräche Robinsons mit Freytag seien "(l)ehrreich-lustvolle Unterhaltung". Die Kritikerin würdigt die beiden Darsteller und die Verweigerung einer realistischen Umsetzung, mit der man der "Opulenz des Romans" nicht gerecht geworden wäre. "Da hat Bosses minimalistische Inszenierung, in der die Akteure, der eine seine nervöse Vitalität, der andere sein Charisma, zur Geltung bringen können, große Qualitäten. Auch eine gewisse Kühle des Spiels ist ein passender Kontrast zum Pathos des Buches." Fazit: "Ein Erlebnis, fast ein Geniestreich."
"Ein entfesselter Joachim Meyerhoff" sei am Burgtheater zu erleben, berichtet Gerald Heidegger für den ORF (22.4.2012). Die Inselreise biete "großen Slapstick: Das Mobiliar des Burg-Zuschauerraums, etwa ein Logenvorhang, wird für Meyerhoff, der lange nackt durch die Sitzreihen und das denkmalgeschützte Inventar turnt, zur Grundausstattung für die Rezivilisierung." Bosses Stückfassung, "die sehr auf die Imagination setzt und mit der Differenz von Hochkulturwildnis spielt", lasse die intellektuelle Komplexität des Defoe'schen Originals, das "ein hoher Traktat über Staatskunst und die Position eines neuen Bürgertums" sei, gelegentlich durchscheinen. Sie wirkt für den Rezensenten wie "eine Unplugged-Version des Theaters von Robert Lepage".
Sven Ricklefs würdigt in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (21.4.2012), wie Bosse mit "seiner überaus amüsanten theatralen Fingerübung, die auf eine Idee von Joachim Meyerhoff zurückgeht", gleich "zwei Fliegen mit einer Klappe" schlägt: "zunächst decouvriert er im Nebenbei Daniel Defoes über die Jahrhunderte so beliebten Roman als das was er ist: Als zumeist unreflektierte Urgeschichte unserer noch immer geltenden überaus zweifelhaften Ideologie, die sich eingenistet hat zwischen Kolonialgestus, Herrenmenschentum und Wachstumsorientierung. Und zugleich bespiegelt Bosse auf höchst intelligente Weise den Kulturbürger im samtroten Klappsessel. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes zum Totlachen."
"Schauspieler-Vorführtheater" sah hingegen Hartmut Krug im Deutschlandradio Kultur (22.4.2012): Gerade gegen Ende verspiele sich "die Inszenierung in ihren Einfällen, die meist recht nett sind, aber insgesamt doch keine dringliche Aufführung ergeben. Man schaut den Schauspielern Meyerhoff und Kirchner immer mal wieder gern zu, doch einen Spannungsbogen besitzt der Abend nicht."
Die Zerlegung des Saals mache "Spaß, ohne allzu kulinarisch zu sein", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (23.4.2012): Das Konzept habe Hand und Fuß, und außerdem trage niemand "einen Hasenfellhut so, wie Ignaz Kirchner das tut. Er ist ein ganz großer, kluger Diener seiner Zunft."
Dirk Pilz hingegen feiert in der Frankfurter Rundschau / Berliner Zeitung (23.4.2012) vor allem Joachim Meyerhoff: "Ein Silbenclown, der wie alle Clowns traurig und komisch, verloren und verliebt gleichermaßen ist. Er kann damit Texte, also Welten, zum Schweben oder Umsturz bringen: Er ist als Schauspieler immer ein Tänzer auf des Messers Schneide. Dieser Abend ist vor allem eine Lehrstunde dieser seiner Kunst. Meyerhoff: u-m-w-e-r-f-e-n-d." Am Ende sei das Theater demoliert, "die Träume sind beschädigt. Toll."
Ganz anders Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (23.4.2012), für den der Abend ins Theater der Jugend gehört: "Zu sehen sind zwei hervorragende Schauspieler, die ihr Publikum recht ordentlich unterhalten. Und es mag ja auch sein, dass angesichts der hohen Subventionen die Burg tatsächlich eine Insel ist, eine Insel der Seligen. Aber eben auch eine Burg, nicht irgendein Stadt- oder Staatstheater. In solcher Hinsicht bleibt dieser Abend eine beklagenswerte Petitesse."
Ein Abend, von Späßen auf recht tiefem Niveau nicht gerade arm, befindet auch Martin Lhotzk in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.4.2012): "ein bisschen verschärfte Zivilisationskritik", in geringen Dosen "und mehr durch Taschenspielertricks als durch der Worte Weisheit über den Abend verteilt". Bisweilen sei das tatsächlich lustig, Meyerhoff und Kirchner ließen die Sau raus. "Warum aber im Burgtheater? Für diese läppische Inszenierung reicht ein Container auf dem Vorplatz."
In der Welt (24.4.2012) gibt Ulrich Weinzierl Entwarnung: "Niemand braucht sich zu sorgen: Zerdeppert wird nur, was Stéphane Laimé zuvor im Auftrag des Regisseurs Jan Bosse täuschend echt nachbauen ließ. Das denkmalgeschützte Interieur bleibt unversehrt." Die sehr vergnügliche Demolierung des Burgtheaters zeige: "Robinsons Privatzivilisation entsteht aus den Trümmern unserer Kultur." Allerdings sei die nette Idee, den Tempel der Hochkultur Burgtheater zur "Insel Burg" zu erklären, bei allem Witz und der großartigen Schauspieler von beschränkter Tragfähigkeit.
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