The Wild Duck / Die Wildente - Die Ibsen-Bearbeitung des australischen Regisseurs Simon Stone bei den Wiener Festwochen
Leben mit dem Kuckuckskind
von Kai Krösche
Wien, 18. Mai 2013. Man traut kurz seinen Augen nicht. Das Licht geht an in dem gläsernen Kubus, um den das Publikum platziert ist – und auf der leeren Bühne macht es Quack, Quack, Quack. Keine ausgestopfte, eine echte Wildente watschelt schnatternd über den grauen Boden, als wäre das Publikum gar nicht da. Das Licht geht wieder aus, erneut wird es stockfinster, klassische Musik ertönt. Und ein paar Sekunden später ist die Ente weg, sind Menschen dort und werfen sich rasante, pointierte Dialoge gegenseitig zu.
Zack, zack, zack, hier geht alles Schlag auf Schlag. Ein paar Tage (und auf der Bühne nur 75 Minuten) braucht es, und das Glück der Familie Ekdal ist vernichtet, zum Opfer gefallen dem Wahrheitsfanatismus eines bitteren Zynikers, der die eigene Forderung nach der bedingungs- und schonungslosen Offenlegung familiärer Geheimnisse eigentlich selbst gar nicht so recht begründen kann. Es muss halt so sein. Darf eben nicht anders sein.
Lüge und Familienglück
Was der 28-jährige, australische Regisseur Simon Stone und sein Ensemble hier auf die Bühne der Halle G im Wiener Museumsquartier auf die Bühne bringen, ist keine Strichfassung der Ibsenschen "Wildente", jenem fünfaktigen Kammerspiel von 1884, in dem langsam aber sicher das auf einer 15 Jahre zurückliegenden Lüge aufgebaute Familienglück einer bürgerlichen Familie unter der Last ungefragt offengelegter "Wahrheiten" zusammenbricht. Der Staub der Jahre, der die darunterliegende Kraft von Ibsens Stück bedeckt, wird radikal weggewischt, die Dialoge und Figuren ins Jetzt versetzt, der Konflikt auf seinen Kern eingedampft.
Das Ergebnis ist verblüffend: eine komprimierte Wildente, die doch fast all jene Konflikte und Konstellationen der Vorlage beinhaltet, ohne diese zu vereinfachen oder ungebührlich zu verkürzen; ein Turbo-Ibsen, der es trotz des rasanten Tempos, trotz der schnellen und pointierten Dialoge inklusive zeitgemäßen Flüchen immer wieder schafft, in Augenblicken der Ruhe zu verharren und so einen Raum öffnet für leise Gefühle und Töne.
Dass der Abend so gelingt, liegt nicht zuletzt an den Darstellern: Im sechsköpfigen Ensemble fällt keine(r) aus der Reihe, füllt jede(r) Einzelne seine Rolle. Brendan Cowell gibt den gehörnten Ehemann Hjalmar, dem seine Frau Gina ein Kuckuckskind ausgerechnet von jenem Mann andrehte, der für den Gefängnisaufenthalt seines eigenen Vaters mitverantwortlich war. Cowell zeichnet seine Figur als gewöhnlichen Durchschnittsvater, humor- und liebevoll und mit sich und seinem Leben zufrieden.
In die Physis geschrieben
Gerade in der Darstellung eines "normalen" Menschen ohne tiefe Geheimnisse oder Abgründe liegt hier die schauspielerische Herausforderung, die Cowell aufs Beeindruckendste meistert. Das kleine, in seiner Familie gefundene Glück, von dem er leise und bescheiden mit gesenktem Kopf und dem Flaschenbier in der Hand spricht, nimmt man ihm genauso ab wie die unterdrückte und zurückgehaltene Wut und Verzweiflung, die ihn beim Erkennen der Lüge innerlich aufzufressen droht.
Wenn sich Hjalmar und Gina in einem dem Stück hintangestellten Epilog noch einmal ein Jahr nach dem Selbstmord ihrer Tochter treffen, so scheint es, als wäre Cowells Hjalmar tatsächlich gealtert, als sähen wir ein Jahr der Trauer und Schuld in seine Gesichtszüge geschrieben. Blazey Best als Hjalmars Frau Gina gelingt es, die aufsteigende Panik über die drohende Entlarvung ihres Geheimnisses ohne jede Übertreibung als Blitzen in den Augen, als subtile Nervosität zwischen den Silben in ihrer (Körper-)Sprache zum Ausdruck zu bringen: Als Hjalmar sie mit der Lüge konfrontiert, sehen wir in ihrem Gesicht buchstäblich eine Welt zusammenbrechen.
Anthony Phelan in der Rolle des alten Ekdal scheinen die Rückschläge seines Lebens in die Physis eingeschrieben: Aus seinen wilden Augen spricht ein fragiler Frieden, den der alte Mann mit sich selbst und seiner Welt gemacht hat. Wenn er von seiner verstorbenen Frau, der großen Liebe seines Lebens spricht und davon, dass diese große Liebe eigentlich einen anderen liebte, dann mischen sich der Schmerz der Zurückweisung mit der stillen Bescheidenheit desjenigen, der den absoluten Anspruch der Liebe aufgegeben hat zugunsten eines vielleicht nicht totalen, nur kleinen, aber desto tiefer empfundenen Glücks.
Reines Gefühl, großes Schauspiel
Stones Regie verlässt sich auf die Stärke seiner – beim Applaus euphorisch bejubelten – Darsteller, befreit die Inszenierung von allem ablenkenden Schnickschnack. Was bleibt, sind reines Gefühl und großes Schauspiel. Das fiese Gefühl, dass all die Geschehnisse dieses Stücks vielleicht gar nicht so weit entfernt sind von der Welt, in der wir uns befinden. Und damit einhergehend die gar nicht fiese Erkenntnis, dass "Die Wildente", mit ein bisschen (oder ein bisschen mehr) Mut zum Eingriff nichts von ihrer Stärke verloren hat.
The Wild Duck
von Simon Stone und Chris Ryan nach "Die Wildente" von Henrik Ibsen
Regie: Simon Stone, Bühne: Ralph Myers, Kostüme: Tess Schofield, Licht: Niklas Pajanti, Komposition und Sound Design: Stefan Gregory, Dramaturgie: Eamon Flack.
Mit: Brendan Cowell, Blazey Best, Damon Herriman, John Gaden, Eloise Mignon, Anthony Phelan.
Dauer: 1 Stunden 15 Minuten, keine Pause.
www.festwochen.at
Kritikenrundschau
Sophia Felbermair schreibt auf der Website des Österreichischen Rundfunks ORF.at (19.5.2013): Für seine "rasante Inszenierung" habe Simon Stone Henrik Ibsens Vorlage "völlig auseinandergenommen" und neu zusammengesetzt. Er finde, sagt er, "klassische Stücke nützlich, weil sie sich schon bewährt haben und nachweislich starke Geschichten erzählen". In seiner „Wildente" höre man allerdings so gut wie kein Wort von Ibsen. Man müsse die Geschichten mit der eigenen Sprache erzählen, um das Publikum zu erreichen, so Stone. Die Handlung sei "emotional verdichtet und fokussiert auf den zentralen Grundkonflikt: die Lebenslüge", ein 75-minütiger "Bühnenkrimi", dem es an nichts fehle. "Schauspielerisch auf höchstem Niveau" sei die Inszenierung "präzise umgesetzt". Ein "ausnahmslos grandioses Ensemble" sorge dafür, dass "schnelle Schnitte und ein rasendes Ping-Pong-Spiel mit Worten voller Sprachwitz und unglaublicher Direktheit" den Abend dominieren, ohne dass Emotionen und Ausdruckskraft darunter litten. Ein großer Höhepunkt der Festwochen.
Geradeheraus "sehenswert" findet Barbara Petsch in der Presse (21.5.2013) diese Aktualisierung der "Wildente". Bei der "rasant" ablaufenden Inszenierung stelle sich einzig die Frage: "Wie weit kann das Tempo hochgedreht werden, ohne dass die Verständlichkeit leidet?" Antwort: "Nicht mehr weit." Nach kurzer Zeit habe man "glatt vergessen, wie stark das Stück umgeschrieben wurde. Ibsens Text ist großartig, aber Stones Text ist zeitgemäßer. Was will man mehr?"
Stones "Inszenierung eilt im Zeitraffer" durch den Ibsen'schen Familienkrimi, schreibt Christina Böck in der Wiener Zeitung (20.5.2013). "Die Schauspieler agieren – mit nonchalanter Ernsthaftigkeit – in einem Glaskasten, vom Publikum getrennt"; man erlebe eine "Operation am offenen Familienherz". Dabei bleibe der "Nukleus von Ibsens Drama" erhalten, "er ist effektvoll, aber nicht effekthascherisch ins Heute geholt. Die Familie, sie ist nach wie vor das stärkste und gleichzeitig gefährdetste Element der Gesellschaft."
"Radikal gekürzt, in unerhörtem Tempo gespielt und in unsere Tage verlegt, bestaunen wir da eine Ibsen-Bearbeitung, die in allem, besonders durch schauspielerische Leistungen, überzeugt", schreibt Martin Lhotzky in einem Überblickstext über das Festwochenprogramm in der Neuen Zürcher Zeitung (13.6.2013). Die tragische Geschichte von familienzerstörerischen Eskapaden, Lügen und Geheimnissen werde ganz nahe an uns herangeführt.
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