Unterwegs in Metropolis

von Sascha Westphal

Mülheim/Oberhausen, 12. September 2014. Eine Reise in eine Zukunft, die wir vielleicht noch verhindern können: In dem Augenblick, in dem man den Ringlokschuppen durch eine Hintertür betritt und in einem düsteren Club landet, verwandelt sich das Jahr 2014 ins Jahr 2044. Ein einziger Schritt wird zum Sprung durch die Zeit. Noch einmal tritt hier die Riot Grrrl-Band "Die Planung" auf und beschwört in ihren treibenden Songs die Stimmung des frühen 21. Jahrhunderts. Lärm und Wut pur. Ein erster Angriff auf die Sinne, der einen einstimmt auf die nächsten sechseinhalb Stunden, in denen die Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft, Wirklichkeit und Spiel, Ordnung und Anarchie immer wieder neu gezogen werden.

Die kommende Großstadt Ruhrgebiet

Seit den ersten großen industriellen Krisen in den 1960er und 70er Jahren ist das Ruhrgebiet, dieses amorphe Gebilde aus 53 Städten, die ineinander übergehen und doch auf ihre Eigenständigkeit pochen, auf der Suche nach einer neuen Identität. 2010, im Jahr der Kulturhauptstadt, lagen dann alle Hoffnungen auf der Kreativwirtschaft wie auf der Idee einer gemeinsamen Metropole. Vier Jahre später kann von einer Einheit nicht wirklich die Rede sein. Und die Verheißungen der Kreativwirtschaft sind bisher auch nicht in Erfüllung gegangen.

54stadt 560 kainkollektiv1 uAuftaktspiel: "Im Westen Neues" von kainkollektiv © Stephan Glagla

Aber wie schon ein Sprichwort sagt: Was nicht ist, kann ja noch werden. Und so entwirft Jörg Albrecht in seinem Roman "Anarchie in Ruhrstadt" die Vision der 54. Stadt, die sich im Jahr 2015, nachdem sich die nordrhein-westfälische Landesregierung aus dem Ruhrgebiet zurückgezogen hat, als Zusammenschluss der 53 Städte gebildet hat. Ein Komitee der Kreativen um den Schriftsteller György Albertz entwirft den Plan der neuen Stadt, die zu der Metropole des 21. Jahrhunderts werden soll. 29 Jahre später bricht dann alles wieder auseinander. Und zwei Liebende, die Fassbinderin Julieta Morgenroth und der Schuster Rick Rockatansky, versuchen, in dem allgemeinen Chaos zueinanderzufinden.

Der Roman "Anarchie in Ruhrstadt" von Jörg Albrecht ist Ausgangspunkt

Ausgehend von Jörg Albrechts Roman haben nun die vier freien Gruppen kainkollektiv, LIGNA, Invisible Playground und copy & waste in einem gemeinsamen Projekt vier Visionen des Jahres 2044 erschaffen, von denen die Zuschauer aber nur an drei teilhaben. Zu Beginn muss sich jeder entscheiden, ob er im mittleren Teil mit LIGNA einen "Audiowalk durch den Mülheimer Stadtraum" macht oder an dem von Invisible Playground ersonnenen "interaktiven Spiel im Oberhausener Stadtraum" teilnimmt. Und schon in diesem Zwang zur Entscheidung offenbart sich eine Facette des Ruhrgebiets: Die Vielfalt der Orte bringt eben auch ein Überangebot mit sich, so dass man immer etwas verpasst.

Crossover-Performance "Im Westen Neues" von kainkollektiv

Doch bevor sich die Wege trennen, führt erst einmal ein weißer Tunnel aus dem Club in die "Ringlokgrotte". In "Im Westen Neues", einer Performance-Installation von kainkollektiv, ist 2044 das Jahr des Falls. Ein Riss hat sich aufgetan und die Ruhrstadt im wahrsten Sinne stürzen lassen. Unter- und Oberwelt lassen sich genau wie Vergangenheit und Zukunft nicht mehr unterscheiden und erst recht nicht trennen. Die Welt ist zum Zwischenreich geworden, aber das war das Ruhrgebiet eigentlich schon immer. Und so bewegt sich auch das kainkollektiv mit "Im Westen Neues" zwischen den Formen und Künsten. Ein permanentes Zugleich bestimmt diese Arbeit, in der sich Performance und Installation, Spiel und Konzert mischen.

54stadt 560 kainkollektiv2 u"Im Westen Neues": Bianca Künzel und Kerstin Pohle © Stephan Glagla

Im Zentrum des Raums steht ein achteckiges Gerüst mit acht großen, in etwa 2 Meter Höhe angebrachten Leinwänden, auf die immer wieder Fotos von Menschen und Orten des Ruhrgebiets projiziert werden. Während man an einer der Seiten des Raums sitzt oder sich frei in ihm bewegt, drängen neben Live-Videos und den Bildern des englischen Fotografen Jamie Fyson Howard noch die Stimmen von vier Chören sowie die Reflexionen einer doppelten Julieta Morgenroth, die zugleich von der Schauspielerin Bianca Künzel und der Sopranistin Kerstin Pohle verkörpert wird, auf einen ein. Aus diesem Geflecht von Klängen und Ideen, Porträts und Klagen entsteht noch einmal ein Bild der Ruhrstadt, die Moloch und Metropolis, Ort der Hoffnung und Zentrum der Verzweiflung ist.

Das interaktive Spiel "Parlament der Straße" von Invisible Playground

Aus diesem Raum der Überforderung, der eine Welt unter der Welt offenbart, geht es dann ins Freie. Auf die beinahe sakrale Erkundung der Stadt mit den Mitteln der Kunst folgt für alle die, die sich für das interaktive Spiel "Parlament der Straße" entschieden haben, eine Art Schnitzeljagd, bei der man zum Anarchisten wird und in "Aktion 54" versucht, die "5 Säulen der Demokratie" zu retten.

Ausgerüstet mit einem postkartengroßen Stadtplan von Oberhausen eilen jeweils fünf Teilnehmer gemeinsam von einem sogenannten Fluchtpunkt zum nächsten. Dort treffen sie auf Oberhausener Bürger, die ihnen Aufgaben erteilen und sie dann mit einem Teil der 5 Säulen entlohnen. Auf den Wegen zwischen den Fluchtpunkten muss man zudem noch marodierenden Bankstern und Rockern ausweichen, die Jagd auf Anarchisten machen. Und genau dieses Moment der Bedrohung zieht einen sofort in die Welt des Spiels hinein. Ständig geht der Blick zur Seite oder nach hinten. Überall lauern Gefahren. Jeder Passant könnte ein Feind sein.

54stadt 560 copyandwaste uFinale: "Anarchie in Ruhrstadt" von copy & waste © Stephan Glagla

Doch so interessant die klandestinen Wege durch die Stadt waren, als so banal erwiesen sich dann die Erfahrungen an den Fluchtpunkten, zumindest an denen, an denen unsere Gruppe vorgelassen wurde. Wenn eine andere Gruppe da war, mussten wir weiterziehen. Schließlich hatten wir doch noch Glück und kamen in ein bizarres Gefängnis, in dem wir ein vierstrophiges Widerstandsgedicht schreiben mussten. Ein anderes Mal sollten wir unsere Ängste malen. Aus dem Spiel um die Zukunft der Ruhrstadt wurde eine Art Partyspielchen, das nichts über die Menschen und Orte erzählte. Dazu passt auch, dass man zwar im Namen der Anarchie unterwegs ist, aber ständig mit Regeln und Verboten konfrontiert wird, die jeden anarchistischen Geist unterdrücken.

Bühnenshow "Anarchie in Ruhrstadt" von copy & waste im Theater Oberhausen

Zum Abschluss präsentiert dann copy & waste ihre Adaption von Jörg Albrechts Roman im Theater Oberhausen. Es ist der mit Abstand konventionellste Teil dieser Theatertour. Albrechts sich im Gewirr der Stimmen und Zeiten verlierende Dystopie, die aber aus dem Chaos eine überwältigende Kraft zieht, schrumpft in Steffen Klewars Inszenierung zu einer atemlos bunten Bühnenshow mit zugegebenermaßen mitreißenden Songs, wunderbar ironischen Videos und melodramatischen Zwischenspielen zusammen.

Das alles macht durchaus Spaß, zumal sich Martin Hohner, Janna Horstmann, Moritz Peschke und Anna Polke mit einer anarchischen Lust in ihre unzähligen Nebenrollen stürzen. Doch weder sie noch Silvia Medina, die dem ganzen Projekt in einem grandiosen Monolog eine äußerst berührende historische Perspektive gibt, können dauerhaft den Eindruck inszenatorischer Beliebigkeit überdecken.


Die 54. Stadt. Das Ende der Zukunft
Eine Theatertour von kainkollektiv, LIGNA, Invisible Playground, copy & waste

Teil 1: Im Westen Neues
von kainkollektiv (Fabian Lettow / Mirjam Schmuck)
Regie: kainkollektiv (Fabian Lettow / Mirjam Schmuck), Musik: Carsten Langer, Rasmus Nordholt, Bühne: herrwolke, Kostüm: Aleksandra Pawlik, Fotos: Jamie Fyson Howard.
Mit: Bianca Künzel, Kerstin Pohle (Sopran), Paradeiser Geräusch-Chor (Chorleitung / Komposition: Kai Niggemann), Nefes – Chor & Orchester (Musikalische Leitung: Enver Yalçin Özdiker), Klosterspatzen Oberhausen (Chorleiter: Veit J. Zimmermann), Chor der Niederrheinischen Kantorei (Chorleiter: Werner Seuken)

Teil 2a: Die letzte Kommune
von LIGNA
Konzeption, Regie und Choreographie: LIGNA (Ole Frahm, Michael Hueners, Torsten Michaelsen), Ton: Günter Reznicek, Ausstattung: Christine Ebeling.
SprecherInnen: Maren Eggert, Ole Frahm, Torsten Michaelsen, Peter Moltzen, Helmut Mooshammer. Mit: Chapeau Club.

Teil 2b: Parlament der Straße
von Invisible Playground
Konzeption: Invisible Playground (Jennifer Aksu, Daniel Boy, Josa Gerhard, Anna Hentschel, Christiane Hütter, Sebastian Quack), Produktionsleitung: Inga Schwörer, Technik: Oli Hütten, Kai Läse.
Besetzung der Fluchtpunkte: Mathias Mertens und Daniela Scheulen, Sabine und Thilo Kaiser, Frau Gerusel und Herr Ehrlinger, Jugendzentrum St. Marien, Bastian Sturm, Frauenberatungsstelle Oberhausen, Fasia-Jansen-Gesamtschule, Wilhelm-Knappmann-Haus der Caritas Oberhausen, Geschmackszentrum Ost, die Band Kairo, Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, Naturkostladen Keimblatt, Julia Sandforth, Klaus Steffen, Detlef und Doris Mund, SB Wasch-Center am Friedensplatz, Nola Friedrich.

Teil 3: Anarchie in Ruhrstadt
von Jörg Albrecht
Regie: Steffen Klewar, Bühne und Kostüm: Caspar Pichner, Video: Roman Hagenbrock, Stephanie Kayß, Musik: Lenard Gimpel, Dramaturgie: Tamina Theiß, Konzeptionelle Mitarbeit: Wilma Renfordt.
Mit: Martin Hohner, Janna Horstmann, Silvia Medina, Peter Niemeyer, Moritz Peschke, Anna Polke, Hartmut Stanke, Sebastian Thiers.

Dauer: insgesamt 6 Stunden 30 Minuten, zwischendurch kurze Pausen

www.urbanekuensteruhr.de
www.ringlockschuppen.de
www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

Als "furiose Theater-Tour" bezeichnet Wolfgang Platzeck "Die 54. Stadt" auf dem WAZ-Portal Der Westen (14.9.2014). Er erfreut sich am "bild- und klanggewaltigen Happening" des kainkollektivs und an den "skurrilen Aufgaben", die ihm die Gruppe "Invisible Playground" aufgab. Die finale Inszenierung von copy & waste falle hingegen ab und offenbare in "ihrer Dialoglastigkeit, in ihrem Übermaß an unsinnlichen Fakten und Theorien jene Mängel, die auch die Lektüre des Romans zu einem eingeschränkten Vergnügen machen. Man hätte copy & waste-Mitbegründer Albrecht etwas mehr Distanz zum Text des Autors Albrecht gewünscht."

Max Florian Kühlem ist in den Ruhr-Nachrichten (15.9.2014) vom Teil des kainkollektivs angetan: "Die Gruppe beschwört durchaus stimmig eine Dystopie, in der das von Bergbauschäden bedrohte Ruhrgebiet in eine Oberwelt und eine Unterwelt zerbirst und ein Aufstand sich ankündigt." Der Audio-Walk der Gruppe Ligna sei sogar "schlichtweg genial", während das Finale von copy & waste an seiner "Vielstimmigkeit, am nervösen Gezappel retrofuturistischer Figuren und dem zähen Fluss aus Videobildern und gespielten Szenen" ersticke.

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