Milo Raus Eröffnungsrede zu "Das Kongo Tribunal", gehalten am 29. Mai 2015 im Collège Alfajiri, Bukavu, Demokratische Republik Kongo
Der Frieden des Herzens und der guten Absichten
von Milo Rau
Bukavu, 29. Mai 2015. Meine Damen und Herren, wenn sich in den drei folgenden Tagen das "Kongo Tribunal" auf meine Initiative in Bukavu, Demokratische Republik Kongo, versammelt, um die wirtschaftlichen, identitätspolitischen, geostrategischen und regierungstechnischen Gründe des Krieges, der Unsicherheit und der Armut im Ostkongo zu untersuchen, dann steht dieses Tribunal in einer langen Tradition ähnlicher Tribunale. Vom "Nürnberger Tribunal" (1945) – das die Verbrechen Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg untersuchte – bis zum "Vietnam Tribunal", dem "Irak Tribunal" oder dem "Palästina Tribunal", die die Verbrechen der amerikanischen beziehungsweise israelischen Armee gegen die jeweilige einheimische Zivilbevölkerung untersuchte, hatten diese Tribunale immer einen klar politischen Charakter.
In der Tradtion des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals
Was das Nürnberger Tribunal anbelangt, das sich vor 70 Jahren versammelte, so bestand es ausschliesslich aus den Gewinnern des Krieges. Auch wenn es selbstverständlich undenkbar gewesen wäre, deutsche Experten und Zeugen zuzulassen, um die Shoah im gleichen Rahmen wie beispielsweise das strategische Bombardement deutscher Städte zu debattieren, so blieb in den Augen der Zeitgenossen diese Einseitigkeit doch ein Fleck auf dem Urteil von Nürnberg. Vergessen wir nicht, dass auch Hitler-Deutschland, sogar noch kurz vor Kriegsende, ein ähnliches Tribunal vorbereitete gegen die Allierten, das Hitler ohne Zweifel hätte durchführen lassen, wenn er den Krieg gewonnen hätte. Was glücklicherweise nicht der Fall war.
Aber der eigentliche, noch schädlichere Fleck auf der Legitimität des Nürnberger Tribunals und aller Tribunale, die darauf folgen sollten, war zweifellos ihr Mangel an Kontinuität und Universalität. Warum, zum Beispiel, ein Tribunal gegen die Kriegsverbrechen der amerikanischen Armee in Vietnam, aber niemals ein Tribunal gegen die Verbrechen, die die Streitkräfte der ehemaligen Sowjetunion in Afghanistan 15 Jahre später verüben sollten? Warum ein Tribunal, das die Strategie der Amerikaner im zweiten Irak-Krieg untersuchte, aber niemals ein Tribunal über die Verbrechen, die die russische Armee gleichzeitig in Tschetschenien verübte? Warum schliesslich ein Internationales Tribunal gegen die Völkermörder in Ruanda, aber niemals eines gegen die Kriegsverbrechen in den angrenzenden Ländern wie Burundi oder der Demokratischen Republik Kongo?
Unvollständige Gerichtsbarkeit
Auf diese Weise blieb die internationale Gerichtsbarkeit unvollständig, sogar zufällig, bis zum heutigen Tag. Dies aus zwei Gründen:
– Erstens, weil der Charakter dieser Tribunale ganz offen ein tagespolitischer war. Warum, um das offensichtlichste Beispiel zu nehmen, ein Prozess in Den Haag gegen eben diesen und nicht jenen anderen kongolesischen Milizen-Führer, gegen eben diesen afrikanischen Diktator und nicht seinen Kollegen, gegen eben diesen jugoslawischen Führer und nicht gegen irgendeinen anderen? Ohne ihre jeweiligen Verbrechen, die für immer im Gedächtnis der Menscheit eingebrannt bleiben werden durch ihre einmalige und aussergewöhnliche Grausamkeit, vergleichen oder sogar verkleinern zu wollen, so muss doch festgestellt werden, dass hinter der Auswahl der Angeklagten immer auch ein strategisches politisches Vorurteil sichtbar wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Ob ein afrikanischer oder jugoslawischer Milizenführer Teil eines Reintegrationsprogramms oder eines Prozesses in Den Haag wird, ob er politische Karriere macht oder gefasst und vor Gericht gebracht wird, hängt zu einem guten Teil von der politischen oder wirtschaftlichen Notwendigkeit ab, mit eben diesem oder jenem militärischen oder zivilen Führer zusammenzuarbeiten oder nicht. Gemäss dieser Logik wurden wir alle Zeuge von wundersamen Verwandlungen ehemaliger Partner Europas oder der USA in Monster, manchmal von einem Tag auf den anderen – so geschehen zum Beispiel im Fall Saddam Husseins im Irak, der Taliban in Afghanistan, Mobutus in der Demokratischen Republik Kongo undsoweiter. Die medialen oder juristischen Tribnale, die darauf folgten, wurden veranstaltet, um einen politischen Konsens zu untermauern, nicht um ihn zu beweisen im juristischen Sinn des Begriffs, um eine bestimmte Version der Sachverhalte öffentlich zu machen, die vorher durch die internationale Politik festgelegt worden waren. Vae Victis, wie die Römer sagten: Wehe den Besiegten!
Ideologische Einseitigkeit
– Aber der zweite und noch bedeutendere Grund für die Disfunktionalität dieser Tribunale war ihre ideologische Einseitigkeit, die ich bereits erwähnt habe. Halten wir fest, dass am "Vietnam Tribunal" kein einziger offizieller Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika teilnahm, weder als Experte noch als Zeuge. Das gleiche gilt für das "Irak Tribunal" oder, erst kürzlich, das "Palästina Tribunal", zu dem kein einziger Vertreter der Armee oder der Regierung Israels zugegen war. Obwohl es sich nicht um besiegte Mächte handelte, so war das Urteil doch bereits gefällt und die Jury, die ausnahmslos aus Kritikern der jeweiligen Mächte bestand, sah ihren einzigen Auftrag darin, sie öffentlich bekannt zu machen. Auf diese Weise blieb die Motivation der Abwesenden völlig im Dunkeln, und ihre Kriegsverbrechen – die sie zweifellos begangen hatten – wurden aus ihrem Zusammenhang gerissen und auf diese Weise depolitisiert. Anstelle (im Fall Vietnams) die verheerende Dynamik eines totalen ideologischen Kriegs zu untersuchen oder (im Fall Palästinas und Israels) eines Krieges, der seit bald 70 Jahren zwischen zwei Nationen geführt wird, die den gleichen Lebensraum teilen und von ihren jeweiligen Führern als Geiseln genommen wurden, trat die Illustration der Grausamkeit totaler Kriege gegen Zivilisten an sich.
"Das Kongo Tribunal", an dem wir in den drei folgenden Tagen teilnehmen werden, stellt sich durch seinen Namen in diese lange Reihe internationaler Tribunale, die mit dem Nürnberger Tribunal 1945 begannen. Wie seine Vorgänger sieht es sich im Dienst des Volkes: des kongolesischen Volkes, eines der reichsten Völker in der Geschichte der Menschheit, das aber seit 20 Jahren aus zahllosen Gründen seiner Reichtümer beraubt wird, in Geiselhaft gehalten von Widersprüchen gleichmassen lokaler wie internationaler, politischer wie wirtschaftlicher Natur. Ein guter Teil dieses Tribunals wird also der prozeduralen Logik folgen, die von den Alliierten 1945 in Nürnberg und von Jean-Paul Sartre und Bertrand Russel 1967 in Stockholm installiert wurde, sich so auf die Seite der Entrechteten begebend, der Misshandelten, jener, wie man sagt, die keine Lobby haben. Es wird darum gehen, die Stimme jener hörbar zu machen und anzuhören, die nie gehört werden: die Stimme der ländlichen Gemeinschaften, der Bürgerinnen und Bürger des Kongo, der einfachen Minenarbeiter und der Kleinhändler, dieser Millionen Frauen, Männer und Kinder, die man die "Zivilgesellschaft" nennt und die mit der blinden Effizienz der globalisierten Wirtschaft konfrontiert sind.
Die Wahrheit eines politischen Wirtschaftskriegs
Denn Sie alle kennen die Wahrheit, Sie alle kennen dieses Negativ der schönen Statistiken der Weltbank und der OECD: Es ist die Wahrheit eines politischen Wirtschaftskriegs, der täglich gegen die kongolesischen Kommunen geführt wird, gegen eine Gesellschaft, die sich gerade erst aus ihrer traditionellen Verfasstheit löst, ein Krieg, der durch Umsiedlungen, Massaker und, wie wir sehen werden, sogar durch neue Gesetze geführt wird. So etwa im Fall des sogenannten Dodd-Frank Act des amerikanischen Kongresses, der, gemäss zahlreicher Aussagen, die unsere Untersuchungsrichter aufgenommen haben, eine über Jahrzehnte hinweg etablierte lokale Wirtschaft kriminalisiert, die Politik der grossen Unternehmen bevorzugt und die Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit und zu neuen Rebellionen treibt.
Die Universalität des "Kongo Tribunals" besteht also in der völligen Subjektivität der Zeugenaussagen, gegriffen aus dem oft grausamen und unmenschlichen Alltag, diesem gewaltigen Prozess, der in der Sprache der Wirtschaftswissenschaftler Entwicklung heisst. "Das Kongo Tribunal" ist ein Tribunal, das im eigentlichen Wortsinn denunziert, das als Mass für seine Gerechtigkeit nicht die Zwänge und wirtschaftlichen oder politischen Logiken unserer Tage nimmt, in denen das einzelne Individuum nicht viel bedeutet. Nein, der Versuch dieses Tribunals besteht darin, das Recht jeder einzelnen Bürgerin und jedes einzelnen Bürgers auf Sicherheit, Glück und Redefreiheit öffentlich wiederherzustellen, so wie es in der Erklärung der Menschenrechte und der Verfassung der Demokratischen Republik Kongo geschrieben steht. Jede Stimme wird hier den gleichen Wert haben, so unbedeutend auch ihr Platz sein mag in dem grossen Krieg der Meinungen, der Waffen, der wirtschaftlichen Werte, der Landrechte und der Identitäten, die den Krieg im Osten des Kongo antreiben. Die Universalität dieses Tribunals besteht also im Versuch, auf der Bühne zu verwirklichen, was Patrice Lumumba in seiner berühmten Rede anlässlich der Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Kongo gesagt hat: "Wir werden also nicht den Frieden der Gewehre und Baionette herrschen lassen, sondern den Frieden des Herzens und der guten Absichten."
Dialektisches Voranschreiten
Es versteht sich von selbst, dass auch diese "guten Absichten" universal, also gegenseitig sein müssen – denn sonst würde es sich um kein echtes Zuhören handeln, sondern um eines, das den Makel des Vorurteils trägt. Im Gegensatz zu allen Tribunalen, die dem hier versammelten vorangegangen sind und deren Namen und Funktionsweise ich erwähnt habe, wird "Das Kongo Tribunal" versuchen, mehr als nur ein Tribunal zu sein: Es wird auch ein Prozess sein, so hoffe ich, also ein offenes und dialektisches Voranschreiten, das nicht nur denunzieren wird, was man allgemein die "Entwicklung" nennt, sondern auch versuchen wird, Wege zu zeigen jenseits jener Widersprüche, die sich zwischen der traditionellen Wirtschaft der lokalen Kommunen und der modernen Industrie aufgetan haben, Widersprüche, die sich unter identitärer oder politischer Fahne in tödliche Kriege im Schoss jener Kommunen selbst verwandelt haben. Die Fragen, die das "Kongo Tribunal" sich also stellen muss, sind folgende: Ist eine Entwicklung, die für alle Seiten gewinnbringend ist, möglich? Wie kann eine soziale Wirtschaft installiert werden? Und auf welche Weise schliesslich kann die Industrialisierung von der kongolesischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft kontrolliert werden, damit die Sicherheit und das Glück des kongolesischen Volkes garantiert ist?
Ein Volk in Geiselhaft
Denn während unserer Recherchen haben wir weise Männer und Frauen getroffen, die – das Wohl des Volkes vor Augen – sich für die Industrialisierung stark machen und offen die Mängel der traditionellen Wirtschaft anprangern, auch sie Quelle so vieler Konflikte und Menschrechtsverletzungen. Denn unserer Ansicht nach ist die Tragödie des kongolesischen Volkes zweigesichtig: Einerseits wird dieses grosse Volk in Geiselhaft gehalten von einem Wirtschaftskrieg, dessen Ziel es ist, die Reichtümer des Landes zu monopolisieren, ein Krieg, der sich die ethnischen Konflikte des Kongo zunutze macht, um die Widerstandskraft der einzelnen Gemeinschaften zu schwächen und sie so einfacher enteignen zu können, gemäss der Logik des "divide et impera".
Andererseits aber sind es die ethnischen Konflikte selbst, die rückwärts gerichteten Überzeugungen innerhalb der einzelnen Gemeinschaften und die Traumata aus 20 Jahren Krieg, die zur Quelle einer Selbstbezogenheit geworden sind, eines gefährlichen Sentimentalismus, der jeden Wandel und jeden rationalen Kompromiss verunmöglicht, der die Beziehungen der Gemeinschaften untereinander verbessern könnte. Vergessen wir nicht, dass es vom notwendigen Kampf für das Glück und die Sicherheit dieses Individuums, dieser Familie, dieser Kooperative oder dieses Dorfs oft nur ein einziger Schritt ist zum Lokal-Egoismus, der dem Glück des ganzen Landes abträglich ist.
Die Jury ist nach der Logik des Diskurses zusammengestellt
So ist denn auch die Jury des "Kongo Tribunals" nicht nach der Logik des Urteils, sondern der Logik des Diskurses zusammengestellt: An diesem Tisch sitzen scharfe Kritiker der Industrialisierung, wie sie sich aktuell im Ostkongo etabliert, ebenso wie Stimmen, die versuchen, zwischen Industrie und Zivilgesellschaft und zwischen Zivilgesellschaft und Regierung zu vermitteln. Dazu kommen, in der Jury, zwei internationale Beobachter sowie an einem speziellen Tisch, zwei Untersuchungsrichter aus Den Haag, die den strikt legalen und formalen Ablauf des Tribunals garantieren werden: die freie Konfrontation der Erinnerungen, der Meinungen, der Schmerzen genauso wie der Hoffnungen.
Sie alle wissen es: Dies ist ein fiktives Tribunal, das von keinem Staat, von keiner internationalen Organisation, also von niemandem abhängt. Es ist ein symbolisches Tribunal, ein Volkstribunal, ein Tribunal, das sich nur der öffentlichen Meinung verantwortlich fühlt. Sosehr unser Versuch zur Parteilosigkeit in der Wahl der Beteiligten und in der Ablaufslogik des Tribunals festgelegt ist (gemäss derer strikt der gleiche, völlig offene und kritische Fragen-Prozess auf alle Beteiligten angewendet wird, sei er Minister oder Minenarbeiter), so wissen wir doch, dass das "Kongo Tribunal" seine Legitimität erst a posteriori finden wird: Durch die Hilfe, die es zur Entwicklung – nehmen wir dieses Wort in seinem positiven Sinn – zur Entwicklung dieses wunderbaren Landes beitragen wird, welches der Kongo ist. Auch wenn diese Hilfe in nichts anderem bestehen wird, als die Wahrheit hören zu lassen, nichts als die Wahrheit.
Und auch wenn am Ende dieser drei Tage die Jury ihr Urteil präsentieren wird, so werden es offensichtlich doch Sie sein, meine Damen und Herren, die daraus Ihre Schlussfolgerungen zu ziehen haben.
Milo Rau mit seinem Team im Ostkongo das "Kongo Tribunal" vor, das vom 29. bis 31. Mai 2015 in Bukavu 40 Zeugen und Experten zu einem dreitägigen Tribunal zu den wirtschaftlichen Hintergründen des seit 20 Jahren andauernden Kongo-Kriegs versammeln wird. Vor die internationale Jury, die von zwei Anwälten des Internationalen Strafgerichtshofs von Den Haag präsidiert wird, werden Angehörige der Regierung genauso wie der Opposition, der kongolesischen Streitkräfte und Milizen, Minenarbeiter, Geologen, Diplomaten, Frauenvertreter, internationale Beobachter und UNO-Angehörige treten. Vom 26. bis 28. Juni 2015 werden in einem zweiten Tribunal-Teil in Berlin die Rolle der EU, der Weltbank und der internationalen NGOs im kongolesischen Bürgerkrieg diskutiert. Für Berlin wird Raus Jury u. a. durch die Soziologen Harald Welzer und Saskia Sassen sowie den Snowden-Anwalt und Spezialist für internationale Wirtschaftskriminalität Wolfgang Kaleck erweitert. Der Kino-Film zu Milo Raus "Kongo Tribunal" kommt im Jahr 2016 in die Kinos.
Seit über einem Jahr bereitet der Autor und Regisseur
In einer Kritik der Eröffnungsrede antwortet Nachtkritikerin Esther Slevogt auf Milo Rau.
Über seine Arbeit am "Kongo Tribunal" schrieb Milo Rau für die taz: Oberhalb des Radars.
Hier der französische Text der Eröffnungsrede.
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