New Hamburg loves Veddel - Das Hamburger Schauspielhaus migriert auf eine Elbinsel
In der Köfteschlange
von Falk Schreiber
Hamburg, 18. Mai 2014. Die Veddel also. Ein kleiner Stadtteil Hamburgs auf einer Insel in der Elbe, zwei S-Bahn-Stationen südlich des Hauptbahnhofs. Keine 5000 Menschen leben hier auf rund viereinhalb Quadratkilometern, 5000 Menschen, davon 70 Prozent mit Migrationshintergrund. Die Veddel wird gerne als Problemstadtteil gelabelt: Knapp 30 Prozent der Einwohner beziehen Leistungen nach SGB II, der Wert ist dreimal so hoch wie im gesamten Hamburg. Auch die Kriminalität liegt höher als im Rest der Stadt, dafür ist die Quote der Schüler, die aufs Gymnasium gehen, extrem niedrig. Aber: Die Veddel ist auch ein sehr junger Stadtteil, knapp 22 Prozent der Einwohner sind unter 18 Jahren. Und: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt unter dem Schnitt (alle Zahlen hier).
Mischung aus Sozialarbeit, Stadterkundung und Theater
Das Hamburger Schauspielhaus hat sich die Veddel ausgeguckt, um sich in den Stadtraum zu verbreiten. Das liegt nahe: Migration und Kolonialismus sind zentrale Elemente im Schauspielhaus-Spielplan, und nirgendwo manifestiert sich der Charakter Hamburgs als einer von Migration geprägten Stadt so deutlich wie auf der Veddel. Hier standen ab 1900 die Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie, in denen alle Emigranten auf ihre Schiffspassage warteten, um später rund um den Globus "New Hamburgs" zu gründen, in New York, Kalifornien und Brasilien etwa – Hallen, von denen es einen direkten Link zum Schauspielhaus-Repertoire gibt: Anna Viebrock zitierte die Gebäude in ihrem Bühnenbild zum Marthaler-Abend Heimweh und Verbrechen. Und heute findet hier ein Großteil der Immigranten in die Einwandererstadt Hamburg ein erstes Quartier.
Für das Schauspielhaus haben Björn Bicker, Malte Jelden und Michael Graessner auf der Veddel den Themenkomplex "New Hamburg" entwickelt, eine Mischung aus Sozialarbeit, Stadterkundung und auch Theater, das vom 3. bis 25. Oktober in ein Festival münden soll. Bicker, Jelden und Graessner haben ähnliche Projekte schon für die Münchner Kammerspiele ("Bunnyhill") und das Theater Neumarkt in Zürich ("Arrivals") realisiert, Ende Juni planen sie Vergleichbares in Stuttgart – als mäkeliger Kritiker hat man so schnell das Bild eines Künstler-Jetsets vor Augen, der aus der Brennpunkt-Recherche ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelt. Man kann aber auch anerkennen, dass man es hier mit Profis zu tun hat, mit Leuten, die wissen, was sie tun, die wissen, dass es erst einmal nicht darum geht, große Kunst zu machen, sondern darum, Vertrauen herzustellen in einem theaterfremden Umfeld – die Kunst mag dann später kommen.
Keine exklusive Christenveranstaltung
Wichtig ist zunächst ein Netzwerk, wichtig sind Mitstreiter. Ein Mitstreiter ist Ulfert Sterz, Pastor der evangelisch-lutherischen Immanuelkirche, dessen Arbeit sich dadurch auszeichnet, dass sie im Grunde verschwunden ist. Sterz spricht von rund 700 Christen, die auf der Veddel leben, von denen seien aber gerade mal 50 hin und wieder in der Kirche. Seelsorge im eigentlichen Sinne lässt sich da nicht betreiben. Sterz' Pastorenstelle wurde gestrichen, also hat er das Kirchengebäude geöffnet für Kirchenfremdes, für Musik, Film, Theater, Sport und andere religiöse Gemeinschaften – und jetzt auch für "New Hamburg", für das die Immanuelkirche ein Stadttheater sein soll. Ein Ort, an dem die Themen und Geschichten der multikulturellen Stadtgemeinschaft verhandelt werden, von Künstlern, aber auch von Anwohnern und Akteuren des Stadtteils.
Die Schauspielhaus-Crew derweil: stellt Vertrauen her. Und das macht man am Besten, indem man ein Straßenfest veranstaltet. Städtebaulich ist die Veddel im Grunde eine einzige, große Wohnsiedlung aus den 1920ern, hohe Rotklinkerbauten, einheitliche, großstädtisch anmutende Architektur, die ein wenig in die Jahre gekommen ist. Bei Schmuddelwetter wirkt das düster und abweisend, pünktlich zum programmatisch "New Hamburg loves Veddel" benannten Fest aber scheint die Sonne. Das Viertel ist einladend, überraschend grün, man spürt die Nähe des Wassers, man spürt, dass man auf einer Insel ist, man kann die Bahntrassen im Westen und die Autobahn im Osten ausblenden. Trotz der Location Immanuelkirche wird Wert darauf gelegt, dass "New Hamburg" keine exklusive Christenveranstaltung ist, die einleitenden Worte sprechen Pastor Sterz, Imam Mehmet Esat Yesil und Pastor Beruwa von der Renewual Ministry gemeinsam.
Was zumindest das Straßenfest ebenfalls nicht sein will: eine Kunstaktion. Mehrfach betont Malte Jelden, dass man heute kein Theater machen werde, sondern ausschließlich Konzerte, Stadtteilspaziergänge und Kinderprogramm plane. Wobei: Wenn Theatermacher Performatives machen, das zudem unter dem institutionellen Dach des Schauspielhauses passiert – kann das etwas anderes als Theater sein? Wenn Sachiko Hara Origami-Blumen bastelt oder Markus John Kinderbücher vorliest – dann ist das doch Theater? Außerdem soll "New Hamburg" natürlich irgendwann sehr wohl eine theatrale Form werden, ein chorisches Theaterstück mit dem Arbeitstitel "Die Insel" etwa ist geplant, die biografische Recherche "Home of Stories" oder die Musikperformance "Songs of Gastarbeiter".
Zudem bekommt das Straßenfest im Laufe des Nachmittags selbst immer mehr Züge einer sozialen Skulptur, wenn die Muslima mit dem Evangelikalen plaudert, wenn der lokale Fußballverein Vatan Gücü SC gegen die Schauspielhaus-Auswahl kickt oder wenn der Münchner Dramaturg neben dem ghanaischen Arzt darauf wartet, dass die Köfte endlich durch sind. Was sich zwischendurch ohnehin als drängendstes Problem erweist: dass die Versorgung mit Essbarem dem Ansturm der "New Hamburg"-Begeisterten nicht gewachsen ist.
Es geht nicht um Armut und soziale Brennpunkte, sondern um Migration
Bei den Stadtteilspaziergängen hingegen hat man schnell den Eindruck, dass sich die Szenen doch nicht so mischen, wie gewünscht. Wobei, wenn man sich ausgerechnet für den Spaziergang "Veddel für Almans" anmeldet, findet man sich natürlich unter bildungsbürgerlich beseelten Schauspielhausgängern wieder, die von Derya Yildirim unglaublich charmant durch den Dschungel der Elbinsel geführt werden. ("Wir kommen jetzt zum Penny-Platz, den nennen wir so, weil da ein Penny-Markt steht.") Immerhin führt Yildirim den Bildungsbürgern so recht deutlich vor Augen, dass es bei "New Hamburg" nicht um Armut geht oder um soziale Brennpunkte, sondern um Migration. Und dass diese manchmal mit Problemen einher geht, ist ein Nebenaspekt, aber nicht das Thema des Projekts.
In der Zeit mutmaßte Ulrich Stock vor zwei Wochen, dass das gediegen hanseatische Theaterpublikum nicht den Weg auf die verrufene Elbinsel finden dürfte, genauso wenig wie die Veddeler zukünftig ihre Probleme auf der Bühne des Schauspielhauses verhandelt sehen würden. Mag ja sein. Aber vielleicht ist das gar nicht der Punkt. Vielleicht geht es weder darum, im Oktober ein A-Klasse-Theaterfestival in der Immanuelkirche zu veranstalten, noch darum, dem Theater ein neues Publikum heranzuzüchten. Vielleicht geht es einfach nur darum, einen offenen Diskursraum herzustellen, in dem Themen überhaupt erstmal benannt werden. Falls das das Ziel von Bicker, Jelden und Graessner sein sollte, dann war "New Hamburg loves Veddel" schon mal ein erster, wichtiger Schritt.
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