Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja: Warum dauert es so lange? - Andreas Wilckes Backstage-Film über die letzte Volksbühnen-Saison unter Frank Castorf
Trommelfeuer der Erinnerung
von Christian Rakow
Berlin, 15. Mai 2019. An einschlägigen Berliner Orten wie dem Alexanderplatz oder dem Checkpoint Charlie stößt man auf wackere Händler, die mit Souvenirs einer versunkenen Epoche ihren Unterhalt verdienen. DDR-KFZ-Kennzeichen finden sich dort auf den Tischen, Matrjoschkas, Fähnchen und natürlich zuhauf Militärkram, Abzeichen, Offiziersmützen, Gasmasken. Als Objekte einer Erinnerungskultur haben sie längst ausgedient. Ihren zweifelhaften Wert beziehen sie aus der maximalen Distanz zum Herkunftskontext. Wer hier kauft, muss über die NVA oder die Rote Armee so wenig wissen wie über Trabis oder Demonstrationen am 1. Mai mit Arbeiterfähnchen. Die jeglicher Signifikanz beraubten Gegenstände funktionieren allenfalls noch als blasse Marker einer exotischen Andersheit. Eine eigene Sprache haben sie nicht mehr.
Das Material soll für sich sprechen
Andreas Wilckes Volksbühnen-Film "Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja: Warum dauert es so lange?", der am heutigen Mittwoch-Abend im Kino Babylon seine Premiere feiert, verschiebt das Kapitel Castorf-Volksbühne ein gutes Stück in Richtung dieser Souvenirtische. Soll heißen: Wir können dabei zuschauen, wie alles, was an der Volksbühne lebendig war, vom konkreten Kontext gereinigt wird und in einen mythischen Nebel des Ahndungsvollen und Sprachlosen eintaucht.
Auslöser für Wilckes Dokumentation der letzten Volksbühnen-Saison war laut Selbstaussage des Regisseurs der Offene Brief der Volksbühnen-Gewerke 2016, die ihre Arbeitsplätze vom Programm der kommenden Intendanz Chris Dercons bedroht sahen. Von dort an filmte Wilcke die finale Volksbühnensaison backstage: Anproben, Getrippel in den Katakomben, Konzeptionsrunden für den Faust, Szenenproben, mitunter auch ein Publikumsgespräch. Sie werden mit Ausschnitten aus repräsentativen späten Castorf-Inszenierungen (Kabale der Scheinheiligen, Baumeister Solness, Der Spieler, Die Brüder Karamasow) kombiniert. Alles ohne Erzählerstimme, das Material soll für sich sprechen.
Und das tut es nur bedingt. Der Film will im Kern eine Feier der Volksbühnen-Gewerke sein. Aber über deren Eigenheit und Produktivität hat man etwa in Petra Ahnes großer Reportage aus der Berliner Zeitung ungleich mehr erfahren. Wilcke begnügt sich mit stummen Choreographien. Auf dem Höhepunkt des Films führt er das Wuseln der Gewerke mit Inszenierungsbildern eng, zu den beschwingten Klängen vom 2. Satz aus Beethovens 9. Symphonie.
Fairness ist nicht vorgesehen
Damit diese Ode an die Arbeit mit einem eigentümlichen Heroismus versehen werde, kommt der scheidende Hausherr ausgiebig zu Wort. Castorf bei seiner notorischen Abschiedsrede im Regen vor dem Volksbühnenportal im Juli 2017: "Ich bedanke mich bei meinen Feinden, weil sie mir klar gemacht haben, dass Kunst zu polarisieren hat." Das ist der gedankliche Auftakt mit Trommelfeuer. Und den virtuellen Schlusspunkt setzt Castorf mit einer Erläuterung zu seinem Leib-und-Magen-Text "Der Auftrag" von Heiner Müller, demnach der Aufstand die "Heimat der Sklaven" ist.
Dazwischen gibt es Castorf, Castorf, Castorf: beim militärischen Drill seiner Spieler oder beim Rumlungern wie im Feldlager oder beim Auftritt mit Koketterie und klarer Kante: "Event-Heini oder Traditions-Spießer. Ich bin gern der Traditions-Spießer." Der "Event-Heini" Chris Dercon kriegt immerhin zwei Mini-Auftritte, mit kläglich pastelliger Schönfärberei einer Volksbühnen-Zukunft aus ideologiefreier Interdisziplinarität, also in der hinlänglich ausgespielten Rolle als Popanz des Berliner Theaterstreits. Fairness ist nicht vorgesehen in der finalen Polarisierungsschlacht. Tja.
Das Tendenziöse der Anlage wäre noch halbwegs zu verschmerzen, wenn denn das Material frische Einsichten vermittelte. Aber der Film verlässt sich eher auf ein profundes Vorwissen um die Konfliktgeschichte, als dass er etwas zurückgibt. Er bebildert, er präsentiert Preziosen wie vom Grabbeltisch am Checkpoint Rosa-Luxemburg-Platz. Das sind Trigger einer Erinnerung; nicht Ausdruckswerte mit Eigengewicht. Im Detail konkurriert das Dargestellte mit einem Reichtum anderswo vorhandener Quellen. Man nehme nur die kurzen Einblicke in Castorfs Konzeptionsproben: Die werden ja von Theatern seit einiger Zeit ins Netz gestellt und zeigen dort den Maestro mit mauliger Muße in der langsamen Verfertigung der Regiegedanken beim Reden. Absolut sehenswert. In Wilckes Doku raunt an diesen notwendig verkürzten Stellen allenfalls eine diffuse Belesenheit. Das vitale Wissen gerinnt zum ikonischen Abziehbild.
Kunst? Muss man machen müssen
Was aber wohl am meisten schmerzt, sind die Leerstellen als Preis der vollständigen Zentrierung der Volksbühnen-Erzählung auf Frank Castorf. Wilcke hat sich 2016 mit der Gentrifizierungs-Doku "Stadt als Beute" einen Namen gemacht. Der Titel ist ein Zitat von René Pollesch. Im neuen Streifen fehlt Pollesch ebenso wie Herbert Fritsch oder Christoph Marthaler, die die späte Volksbühnen-Ära bis zu ihrem triumphalen Finale mitprägten. Einzig Jürgen Kuttner darf als treuer Adjutant das Publikum anfangs (und im Trailer) einpeitschen: "Kunst ist, wenn man etwas macht, und man muss es machen. Man kann nicht anders, man muss das so machen. Und alle andere Scheiße ist eben Kunstgewerbe." Noch schlimmer als Kunstgewerbe aber ist die Mythisierung, die ihre Gegenstände so weit entleert, bis sie zu blassen Devotionalien herabsinken. Schulterstücke, Kordel, Offiziersmütze. Ein trister Abgang vom Kommandostand.
Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja: Warum dauert es so lange?
Regie: Andreas Wilcke, Montage: Steffen Bartneck, Kamera: Andreas Wilcke, Andreas Deinert, Mathias Klütz, Tonmischung: Gerald Mandl, Koproduzentin: Kristina Konrad, Musik: Skidmore College Orchestra / Bojan Krstic Orkestra / Fehlfarben, Produktion: Wilckefilms / Weltfilm
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten
www.machtdasallessinn.com
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