Zerbombt - Am Landestheater Schwaben führt Julia Heinrichs das Stück von Sarah Kane in die Furcht von heute
Eine Geschichte der Angst
von Willibald Spatz
Memmingen, 10. Oktober 2014. Einen Skandal wie einst zur Uraufführung 1995 kann man mit Sarah Kanes "Zerbombt" nicht mehr auslösen. Und Schocken muss man auch keinen mehr damit. Dafür gibt es inzwischen derberes Material. Aber man kann immer noch gut von der Einsamkeit des Menschen erzählen und von dessen Sehnsucht nach Berührung. Diese Themen stecken zwischen den kalkulierten Tabubrüchen und Scheußlichkeiten, die in dem Stück vordergründig aneinander gereiht werden.
Die krassesten Passagen lässt Julia Heinrichs in ihrer Memminger Inszenierung dann auch konsequent nicht spielen, sondern nur als Regieanweisungen aus dem Off einlesen: Die Vergewaltigung und das anschließende Aussaugen der Augen des Opfers sind nicht zu sehen. Stattdessen küssen sich zwei Männer lange und zärtlich. Ein Moment, der durchaus eine gewisse Poesie aufweist und mit dem bis dahin stoischen Durchspielen des Texts nach desses Wortlaut bricht.
Eiswürfel geschluckt
Das Bühnenbild von Franziska Harbort sieht am Anfang aus wie aus einem Ausstellungsbereich im Möbelfachgeschäft hergeschafft. Ein dunkel gekacheltes Hotelzimmer mit violetten Decken auf dem Bett, ein lebloser Vorführraum zum Unwohlfühlen. Diesen betreten Cate und Ian. Es ist schwer für diese zwei Gestalten einen Funken Sympathie aufzubringen. Sie ist ungreifbar, ein eigenartiges Wesen, das nichts über sich verrät und Dummheit und Anfälle vorspielt. Während er auf ekelhafteste Weise die Wut auf sein Sterben an Lungenkrebs an ihr auslässt.
Verwüstete Räume, verwüstete Seelen © Monika Forster
Dennoch nehmen die beiden Schauspieler Josephine Bönsch und Chris Urwyler ihre Figuren sehr ernst. Sie greift immer wieder in den Champagnerkübel und schluckt Eiswürfel, um sich emotional runterzukühlen; ein verletztes Mädchen, das am Daumen lutscht, wenn es ihr zu viel wird. Er sieht darin eine Einladung zum Sex, sie stößt ihn jedoch weg. Nachdem er sich mit Hilfe ihrer Hand einen runtergeholt hat, wischt er sich seine Hand am Kühlschrank ab. Ein durch und durch eigenartiges Paar, zwei, die sich anwidern und doch aneinander kleben. Bis zu dieser Stelle funktioniert diese Inszenierung dank der zwei Schauspieler als einwandfreies Kammerspiel. Man sieht diesen beiden vom Leben Verratenen mit wachsendem Vergnügen zu.
Poetische Verfremdungseffekte
Klar, es bricht dann der Krawall aus. Es ist auf einmal Krieg. Ein Soldat steht in der Tür. Und eine Bombe schlägt ein. Plötzlich ist der sterile Raum verwüstet. Dino Nolting ist eine imposante Gestalt als Soldat. Unheimlich, wie er Schinken frisst. So einer frisst auch Menschen, zumindest deren Augen. Zwischendrin kriegt er Bellanfälle und nicht nur Ian zuckt zusammen, weil er jetzt der Angeschrieene ist. Aber auch der Krieger hat andere Seiten: Er zittert, wenn er vom Tod seiner Freundin erzählt.
Schlussbild: Zombies im Nachthemd in "Zerbombt" © Monika Forster
An dieser Stelle wird es schwierig, die Geschichte realistisch zu Ende zu erzählen. Julia Heinrichs setzt zunehmend auf schöne Verfremdungseffekte: Zum Beispiel die Stimme aus dem Off. Und Cate kehrt als Zombiegestalt im Nachthemd zurück, bleich und irgendwie reifer. Sie trägt ein Bündel, in dem angeblich ein Baby eingewickelt ist. Ins Wirklichkeit ist es ein Stück Brot, von dem sie abbeißen können. Ein schönes Schlussbild für das Paar.
Nähe der anderen
Und doch, es bleibt die Frage, was man mit diesem 20 Jahre alten, zum Klassiker reifenden Stück anfangen soll. Es würgt nicht mehr so richtig, und es wirkt auch nicht mehr wie einst. Diese Memminger Variante ist eine gültige, weil sie der Verunsicherung, die heute zu spüren ist, akribisch nachgeht. Nur reagieren wir mittlerweile apathischer auf Personen, die uns in Extremsituationen vorgeführt werden. Die Ohnmacht, gegen die diese Figuren ankämpfen, wirkt fast putzig, weil sie physisch greifbar ist. Die Feinde haben eine menschliche Gestalt und können auch überwunden werden. Sie können mit Pistolen aus dem Weg geschossen werden.
Und dem verletzten Körper bleibt am Ende immer noch die Nähe des anderen, ebenfalls geschundenen. Das hat vor zwanzig Jahren durchaus noch etwas Tröstendes besessen, mittlerweile ist die Angst diffuser geworden, so dass der Schluss mit einem liebevollen "Danke" von Ian falsch wirkt. Die Furcht vor den plötzlich hereinbrechenden Gefahren lässt sich nicht mehr einfach vertreiben. Und das zeigt diese Inszenierung auf durchaus eindrückliche Weise.
Zerbombt
von Sarah Kane, deutsch von Nils Tabert
Regie: Julia Heinrichs, Bühne und Kostüme: Franziska Harbort, Regieassistenz und Inspizienz: Michael Schöffel.
Mit: Josephine Bönsch, Dino Nolting, Chris Urwyler.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.landestheater-schwaben.de
"Überall Beton, Kabel, Staub. Das Publikum sitzt im Nebel und gleißendem Gegenlicht", so nehme die Inszenierung das Publikum hinein in den Krieg, schreibt Jana Schindler im Allgäu Kurier (11.10.2014). "Kanes Texte sind in ihrer Brutalität eine Herausforderung", und Regisseurin Julia Hinrichs gelinge es, eine distanzierte Form für das Bühnengemetzel zu finden. "Klug hält die Inszenierung die Waage zwischen erschreckender Realitätsnähe und surrealem Alptraum."
Die Inszenierung lasse trotz aller Düsternis dem Schrecken nicht die Oberhand, heißt es unter dem Autorenkürzel "ds" im Kurier (15.10.2014). Julia Hinrichs inszeniere das Stück am Landestheater Schwaben mit einer eindringlichen Wirkungsästhetik und drei grandiosen Schauspielern.
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