Die lächerliche Finsternis – Christopher Rüping dekonstruiert am Hamburger Thalia in der Gaußstraße Wolfram Lotz' Conrad-Coppola-Dekonstruktion
Am Arsch der Welt
von Falk Schreiber
Hamburg, 8. November 2014. Im Foyer der Hamburger Thalia-Außenstelle Gaußstraße ist ein Boot aufgebockt. "Hoffnung" heißt es, und Julian Greiß, Nicki von Tempelhoff, Pascal Houdus und Camill Jammal sitzen drin. Erwartet wird noch ein weiterer Schauspieler, um den einleitenden Monolog von Wolfram Lotz' "Die lächerliche Finsternis" zu sprechen: die Verteidigungsrede eines somalischen Piraten vor dem Internationalen Seegerichtshof. Allein – der Kollege taucht nicht auf. Weswegen Greis sich ans Publikum wendet: "Ob hier vielleicht jemand so freundlich wäre ..." Es erbarmt sich: Katinka, 34, die auf Nachfrage zugibt, kürzlich erkältet gewesen zu sein. Woraufhin sich Greis sicherheitshalber einen Mundschutz überzieht, man weiß ja nie, in Zeiten von Ebola. Angesichts dieses Prologs ist jedenfalls klar: Die "Neger aus Somalia" (O-Ton Lotz), das sind wir selbst!
Schlund der Globalisierung
Nach zehn Minuten Vorspiel im Foyer hat man sich darauf eingestellt, was Regisseur Christopher Rüping mit Lotz' Stück plant. "Die lächerliche Finsternis" bezieht sich auf Joseph Conrads Roman "Das Herz der Finsternis" (1899), der 1979 von Francis Ford Coppola für den Film "Apocalypse now" aus dem kolonialen Kongo in den Vietnamkrieg verlegt wurde – und den Lotz von dort nach Afghanistan und weiter "in Schlund und Anus der Globalisierung" verlegt. An den Arsch der Welt. Man könnte sagen: Coppola dekonstruierte Conrad, Lotz dekonstruierte Coppola, und Rüping (der am Thalia zuletzt die weitaus bravere Auswanderercollage "Bye bye Hamburg" inszenierte) dekonstruiert Lotz.
Das macht er, indem er die Künstlichkeit der Vorlage bei jeder Gelegenheit betont – mit dem "Könnte ein Zuschauer bitte den Anfangsmonolog lesen?"-Fake, aber auch mit der Anlage der Inszenierung als Live-Hörspiel (das während jeder Aufführung als echter Hörspiel-Stream auf der Thalia-Website abrufbar ist). Die Protagonisten schlagen sich auf der Bühne durch den Urwald, doch das typische Urwaldgezische und -geknackse wird derweil von den Darstellern selbst erzeugt, mit den Mitteln des professionellen Geräuschemachers (im Programmheft wird dem Sounddesigner Lars Ohlendorf für seine Unterstützung gedankt). Sowie vom Publikum: Kaum werden die Zuschauer zum Klatschen und Trampeln animiert, schon hat man einen tropischen Gewitterregen im Altonaer Gewerbegebiet Gaußstraße.
Das ist hier gar kein echtes Grauen
In der eindrucksvollsten Szene des Abends tritt ein Bojan Stojkovic auf. Seine ganze Familie sei bei einem Luftangriff ausgelöscht worden, erzählt der vorgebliche Kroate mitleidheischend: Vor dem explodierenden Tanklager in der Nachbarschaft seien Frau und Tochter in den Keller geflüchtet und hätten das brennende Haus über ihnen erst bemerkt, als kein Entkommen mehr möglich gewesen wäre. Jämmerlich erstickt seien sie! Herzzerreißend! Natürlich könne man Stojkovic in seiner Trauer nicht helfen, aber, doch, ein wenig helfen könne man schon. Indem man ihm etwas abkaufen würde. Lebensmittel, Investmentfonds, Hunde, eine Socke? Die Enttäuschung: Das Kriegsopfer Stojkovic ist in Wahrheit ein Geschäftemacher, der einem mit einer tränendrüsendrückenden Geschichte das Geld aus der Tasche ziehen möchte. Die zweite Enttäuschung: Stojkovic ist gar nicht Stojkovic, es ist Julian Greis. Das ist hier alles gar kein echter Krieg, kein echtes Grauen, "das ist nur ein Text!", wie es kurz vor Schluss heißt.
Die Stojkovic-Episode ist wichtig für das Verständnis von Rüpings Inszenierung, weil sie zeigt, wie das Narrative von der Ökonomie überwölbt wird (und diese wiederum von der Performance). Man kann "Die lächerliche Finsternis" als durchaus klug gebaute "Deutschland (und Deutschlands Wirtschaftsinteressen) werden am Hindukusch verteidigt"-Parabel lesen, was wohl der Grund ist, weswegen das im September am Wiener Akademietheater uraufgeführte Stück demnächst auf einigen Spielplänen zu finden ist. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und mit Lotz' Vorlage die Grenzen des Theaters austesten.
Frustrierender Irrsinn
Diesen Schritt geht Rüping, und weil er seiner Mittel dabei vollkommen sicher ist, stört es auch nicht, dass der Irrsinn der Inszenierung über gut zwei Stunden immer wieder hohl läuft. Ja, es langweilt, Theater dabei zuzuschauen, wie es an der konsequenten Abschaffung seines Illusionscharakters arbeitet. Ja, es frustriert, sich dabei zu beobachten, wie man nach jedem Handlungskrumen giert, den einem die Inszenierung hinwirft, weil einem längst klar sein sollte, dass die Handlung eigentlich das Unbedeutendste an diesem Abend ist. Und, ja, man darf sich durchaus schämen, wie leicht man sich zu Mitmachtheater animieren lässt und dadurch Teil einer immer wieder rassistischen, diskriminierenden Bilderwelt wird. Aber gleichzeitig ist eben auch großartig, wie einen die Inszenierung immer wieder in solche Fallen lockt.
Dass dieses an allen Ecken und Enden zerfransende Meta-Meta-Theater irgendwann zu einem (mehrfach verzögerten) Schluss kommen muss, ist entsprechend ein Absturz in die Konvention. Peter Maertens tritt auf, er ist Oberst Deutinger respektive Colonel Kurtz, das Herz der Finsternis ist erreicht. Eine (Er-)Lösung jedoch ist das noch lange nicht – aber wie soll man die im Theater auch erreichen? Die "Hoffnung" jedenfalls liegt bis auf weiteres auf Grund.
Die lächerliche Finsternis
von Wolfram Lotz
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Andreas Langkamp.
Mit: Julian Greis, Pascal Houdus, Camill Jammal, Peter Maertens, Nicki von Tempelhoff.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
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Sie haben wohl die Wiener Aufführung nicht gesehen.
Auch dort ging es selbstverständlich um die Grenzen des Theaters. Also ist man schon in Wien, bei der Uraufführung , "den Schritt weiter gegangen", den sie bei Rüping als Neuerung sehen.
Und einfach so zu behaupten, das Stück würde wegen seinem Hindukusch Bezug auf die Spielpläne gesetzt und nicht wegen seiner Formsprache, ist eine gewagte Unterschätzung der betreffenden Theater.
Und die großartigen Fallen, in die einen die Inszenierung angeblich lockt, sind auf hundert Meter gegen den Wind erkennbar, Grundironie sei dank!
Die Schauspieler allerdings sind toll. Nur leider verpufft ihr Einsatz vor lauter Meta-Meta-Ironie. Die Beschreibung des Abends in dieser Kritik kann ich in vielen Punkten teilen. Nur in der Einschätzung der Wirkung vertrete ich einen komplett anderen Standpunkt: Der Abend ist vorhersehbar, irrelevant, eitel und öde - "an allen Ecken und Enden zerfransendes Meta-Meta-Theater" eben. Die späten 90er schicken ihre langweiligen Grüße!
mit vielen abzweigungen im flussdelta der erzählmöglichkeiten und klar - metaebenen.
na und bzw. eben! das kann einem manchmal auch auf den sack gehen,
da wirds anstrengend und aber eben auch spannend.
hinter der vermeintlichen distanz steckt, meiner naiven einschätzung nach, eben mehr als nur ironie oder sarkasmus oder so-ist-es-eben-haltung. w
enn man mal nach dem blick in den lotzschen spiegel die eigene kulturimperialistische maske entdeckt und den texten wirklich zuhört, wird man feststellen dass lotz/rüping vielleicht weiter sind als so manche theater-muss-konsumierbar-bleiben-denksackgasse. das nervt mich dann igendwie auch, aber ich bin eben eher meiner ohnmacht gewahr mit all diesem wahnsinn umzugehen und das der fluss eben auch meiner ist.
wie der premierenbesucher aus versehen richtig beschreibt, findet der abend irgendwie durch brechung der brechung einen versteckten zugang wie man über krieg, elend und gerechtigkeit und uns satte kulturbürger erzählen kann. das gelang da gestern teilweise ganz schön gut.
wenn man zum beispiel die kulturellen klischees selbst als zuschauer mitproduziert und an seinem gerade geschaffenen sanften tui-stereotype-hörspiel auch noch freude empfindet, dann schmeckt das eben bitter zu merken dass man teil der scheisse ist und es keine antwort gegen kann.
das ist eben gebrochen und nicht mehr gerade ertrag- oder erzählbar.
ganz im gegensatz zu so mancher erzählbürokratie auf arturos pfaden oder der diesjährigen weltkriegsromantik.
ich mochte einfach den versuch, das erzählen an sich in frage zu stellen.
auch wenn das nicht immer gut geht und lecker schmeckt und
zu nichts führt. aber vielleicht ist genau das der punkt. keine ahnung. mist.
aber ob wien nun zu erst da war oder gagarin oder das huhn ist doch irgendwie auch egal.
Und für mich geht es in dem Text - das ist nunmal meine Lesart - gar nicht um die Dekonstruktion, die Rüping da betreibt. Ich kann es so nicht lesen. Lotz betreibt in dem Text die Dekonstruktion um an das Dahinter zu kommen, Rüping nur um der Dekonstruktion willen.
Tolle Schauspieler, auch einige tolle Regieeinfälle, zugegeben, aber was hilft's... Schade.
Hätte es gerne in Wien gesehen...