Faust. Der Tragödie erster Teil - Naumburgs Intendant Stefan Neugebauer inszeniert Goethes Weltengrübler-Tragödie am geweihten Ort
Intimes Spiel im Kirchenschiff
von Tobias Prüwer
Naumburg, 18. September 2015. Osterspaziergang? Gestrichen! Auerbachskeller und Walpurgisnacht ebenso. Stefan Neugebauers Inszenierung in Naumburg basiert auf einer stark gekürzten "Faust"-Fassung, reduziert auf ein Kammerspiel, auf die Zerrissenheit des forschenden und des liebenden Faust und auf das Schicksal Gretchens. Der Tragödie Kern ist bewahrt.
Ungewöhnlich ist schon ihre Spielstätte: Die Inszenierung nutzt Teile von Naumburgs historischer Kulisse. In der dicken Mauerumfassung des mittelalterlichen Marientors stehen die Zuschauer bei Bier und frischem Federweißer und harren der Dinge. Der Direktor schleicht hinein, steigt auf eine Trittleiter und beginnt das Vorspiel auf dem Theater. Die drei anderen Darsteller, zuvor hatten sie sich unters Publikum gemischt, sprechen direkt aus der Menge. Das Erlebnis der Unmittelbarkeit hält auch nach dem Umzug in den eigentlichen Spielort, in die Marien-Magdalenen-Kirche, an.
Wie hast du's mit der Religion?
Nun klingt die Idee, "Faust“ in einen Sakralbau zu verlegen, zunächst wenig spannend. Schon klar: "Nun sag, wie hast du's mit der Religion?" Doch steckt auch hier der Teufel, also der Regiekniff, im Detail. Die Bühne zieht sich zwischen zwei Podesten wie ein Laufsteg durchs ganze Kirchenschiff. Vom barocken Gemäldehimmel überspannt sitzt das Publikum auf Kirchenbänken zu beiden Seiten des Catwalks. (Randnotiz: Es herrscht mehr Beinfreiheit als in den meisten Theatern.) Auf dem Geländer der Empore ist ein Rudel schwarzer Pudel aufgereiht – im Bannkreis.
Eine Kulisse im engeren Sinn gibt es nicht, neben der Bühne werden einfach bauliche Elemente der Kirche bespielt. Beim kurz gehaltenen Prolog im Himmel predigt Gott als uncharismatische Pfarrerfigur (das muss man sich auch erst mal trauen) von der Kanzel herab, während sich Mephisto schon mal in flammend rotem Anzug maliziös ans Publikum ranpirschen kann. Vom Orgelbalkon schmettert Faust ein paar Bücher in sein Studierzimmer hinab. Ganz kurz darf auch das Pfeifeninstrument auforgeln: Natürlich Bachs "Toccata und Fuge d-Moll“. Ein winziger Moment, keine Effekthascherei.
Emotional auserzählt
Gut dosiert ist auch die mimische Klaviatur der Schauspieler. Kunstfertig gibt Peter Johann alle Statistenrollen, als Herr, Frau Marthe oder eben Gott. In den Marthe-Szenen rutscht er als offensichtlich eine Frau spielender Mann gewollt ins Volkstheaterhafte ab. Aber das geht als amüsant durch, weil es eine lustige Episode im sonst insgesamt konzentrierten Spiel bleibt. Tom Baldauf überzeugt als Mephisto insbesondere in den schalkhaften Momenten. Wenn er – wie auf frischer Tat ertappt und um Ausrede verlegen – fast schämig erklärt, wegen dem verflixten Drudenfuß Fausts Stube nicht verlassen zu können, hat das großen Charme.
Fausts Verwandlung vom suizidalen Zweifler und Weltmüden zum virilen Abenteuerlustigen ist von tatsächlicher Leibhaftigkeit. Auch die Verliebtheit ins Gretchen stellt Alexander Klage wie aus dem Innern herauskommend glaubhaft dar. Die Begegnungen der beiden werden nicht gestreift, wie man es aus anderen Inszenierungen kennt, um endlich zur spektakulären Walpurgisnacht voranzuschreiten, sondern emotional auserzählt. Die szenische Konzentration hat also nicht nur Spargründe, sondern innere Logik.
Als Gretchen schafft Patricia Windhab die Gratwanderung zwischen unbedarft-naiv und pausbäckig überzeichnet. Man sieht eben ein junges Mädchen, das seine tragischen Erfahrungen noch machen muss. Und diesen wohnt das Publikum fast in intimer Situation bei. Das Schäferstündchen wird als Hochzeitsaufstellung vor der Kanzel angedeutet, in der Kirchenszene stimmt Gretchen zwischen den Zuschauern auf den Bänken sitzend leise, verletzt "Großer Gott, wir loben dich" an. Das Spiel mit dem geweihten Ort wird hier eindringlich.
Traditionell und konsequent inszeniert
Es ist die intensive Wucht, die den Abend auszeichnet. Natürlich hat hier letztlich Mephisto als finsterer Verführer Schuld, wenn Faust das Heft des Handelns entgleitet. Der darf dann am Ende völlig losgelöst von Verantwortung wunderbar leidend als Schmerzensmann auftreten. Hier wird das Stück nicht neu ausgelotet oder gegen den Strich gebürstet. Mephisto symbolisiert die nie passenden äußeren Verhältnisse, die Glück einfach nicht zuließen.
In diesem Kammerspiel erlebt man Schauspieler im Nahbereich. Da sie das ganze Kirchenschiff ohne Kulissenschieberei oder Umbaumaßnahmen nutzen, wird die Aufmerksamkeit des Publikums permanent in neue Richtungen gelenkt, und sie bleibt deshalb unter Spannung. So glückt Regisseur und Naumburger Intendant Stefan Neugebauer eine Stadttheaterinszenierung, die einem Publikum mit traditionelleren Sehgewohnheiten entgegenkommt und doch überrascht in Grundidee und konsequenter Umsetzung. Keine geringe Leistung.
Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang Goethe
Regie und Bühne: Stefan Neugebauer, Kostüme: Anja Becker-Geipel.
Mit: Peter Johann, Tom Baldauf, Alexander Klages, Patricia Windhab.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-naumburg.de
"Mit achtbaren Ergebnis" habe Neugebauer "Faust" inszeniert, findet Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (21.9.2015). Die Kargheit des Spielraums schaffe intime Nähe und rege Schauspieler wie Publikum an, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Stück könne die Reduktion gut aushalten. "Und die Darsteller tun ihr Bestes, die Geschichte nicht als schaurige Moritat, sondern als nachvollziehbar zeitgemäßes Porträt des verführten Verführers zu zeigen, der glaubt, die großen Räder drehen zu können und um des ersehnten Gewinns an Erkenntnis und Lust willen die Verantwortung für sein Tun als eher nachrangig ansieht."
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Das macht Lust, nach Naumburg zu fahren!
Super getroffen!
Ich kann das Stück nur weiterempfehlen
Die seit einiger Zeit in Naumburg Kursierende "Angst" vor dem Umbruch durch den neuen Intendanten hat sich wohl hiermit erledigt.