Kafka meets Orwell

5. Mai 2024. Von den Fragmenten und Romanen Franz Kafkas scheint "Das Schloss" der Text zu sein, der derzeit zu starken Abenden inspiriert. Regisseur Maxim Didenko jedenfalls erschafft in Dresden besondere Bilder, vemeidet alle Eindeutigkiten und zieht alle Register.

Von Matthias Schmidt

Franz Kafkas "Das Schloss" von Maxim Didenko am Staatsschauspiel Dresden inszeniert © Sebastian Hoppe

Dresden, 5. Mai 2024. Die Bühne ist dunkel, allein der Mond beleuchtet die brutalistischen Würfelbauten darauf. In der Mitte ein martialisch wirkender Turm. Ein Wachturm? Schwer atmend, ja keuchend nähert sich ein Mann mit Gasmaske dieser dystopischen Kulisse. Ist das gar - ein Straflager? Es schneit. Oder sind das dunkle Flocken, die da vom Himmel fallen? Schwarzer Regen? In Maxim Didenkos Dresdner Inszenierung kommt Franz Kafkas Landvermesser K. nicht in einem Dorf, sondern in einer Endzeit an. Kafkas Text bleibt dabei ganz der alte, nur eben in handliche Dialoge übersetzt.

Didenko holt Kafkas Romanfragment "Das Schloss" samt dem von Max Brod hinzugefügten Ende ins 21. Jahrhundert. Seine Bildsprache vermeidet dennoch Eindeutigkeiten und öffnet stattdessen Assoziationsräume. Da tanzen Pioniere mit roten Halstüchern, der Gemeindevorsteher ist ein (in Russland omnipräsenter) Kriegsveteran, und wenn der Dorf-Lehrer berichtet, er habe ans Schloss "protokolliert", spürt man einen Hauch von Überwachungsstaat durch den Kafka-Text wehen.

Verrätselte Gegenwart

Der Schlossbeamte Klamm, den K. zu sprechen versucht, wird zu einem Big Brother watching...  Alles schreit regelrecht danach, Gegenwart darin zu erkennen. Wenn die scheinbar unüberbrückbare Feindschaft der Familie des Boten Barnabas zu K.s Geliebter Frieda in einem Nebensatz als durchaus überwindbar beschrieben wird, scheint Annäherung möglich, vielleicht sogar Frieden. In solchen Momenten scheint diese Inszenierung unsere Welt zu meinen. Aber: alles bleibt kafkaesk verrätselt, nichts wird explizit erklärt oder gar bebildert, eine offensichtliche Allegorie ist nichts von allem.

Ankunft in der Endzeit: Philipp Grimm und Moritz Kienemann in Maxim Didenkos Inszenierung von "Das Schloss" © Sebastian Hoppe

Didenkos Inszenierung zieht alle Register, sie ist Theater im Breitwandformat. Wieder einmal zu sehen (und wie immer ein Erlebnis) ist der 24 Meter hohe Kuppelhorizont des Schauspielhauses inklusive der 800 kleinen Lämpchen. Die Bühne dreht sich, zusätzlich dreht darauf der Wachturm seine Runden. Nahaufnahmen der Schauspieler werden auf eine bühnenbreite Gaze-Leinwand projiziert. Es wird in Zeitlupe gespielt, es wird musiziert und gesungen. Es wird mit langen Holzstangen hantiert, Masken werden getragen, sparsam eingesetzte folkloristische Elemente in den Kostümen deuten nach Osteuropa.

Flirt der Stehaufpuppe

Überhaupt, die Kostüme von Galya Solodovnikova: sie sind voller Anleihen, sie streifen durch Epochen und Regionen und summieren sich zugleich zu einer Modenschau, die auch ohne Text ein Fest für die Augen wäre. Da teilen sich schonmal vier Personen ein Kostüm mit zahlreichen Ärmeln und Halsausschnitten. Man staunt und schmunzelt darüber, wer wo aus der Wäsche guckt. Dazu kommen Ausstattungs-Details, die geradezu surrealistisch wirken. Briefe, die übergeben werden, sind Fische und Vögel. Die musizierende Spielzeug-Stehaufpuppe "Igruschka Newaljaschka" flirtet mit der Kamera und konterkariert damit urkomisch den Ernst der Lage – kurzum, es ist zauberhaft.

Das Schloss3 1200 Sebastian Hoppe uVon unsichtbarer Bürokratie gelenkt: die Dorfbewohner in "Das Schloss" © Sebastian Hoppe

Es ist ein Abend, dessen wirkmächtige Bilder Kafkas Text verlustfrei in eine zeitlose Zeit verlegen, ihn anreichern mit Material aus den 100 Jahren, die seitdem vergangen sind. Elektronische Klänge von sphärischen Flächen bis zu treibenden Beats geben dem Spiel den Takt. Es wirkt fast, als bestimme die unsichtbare Bürokratie des Schlosses damit, was gespielt wird. Eine Diktatur, eine finstere Macht, die aus den Dorfbewohnern akustisch gesteuerte Marionetten macht.

Theater, das nach Freiheit schmeckt

Das Ideen-Feuerwerk aus Gegenwart, Geschichte und Zukunft reicht zumindest bis zur Pause. Danach legt sich das Erstaunen, und es wird ein wenig anstrengend. Die Reizüberflutung der ersten 90 Minuten fordert ihren Tribut. Dass die Spannung dennoch – na ja, meistens - oben bleibt, leistet ein konzentriert spielendes Ensemble, allen voran Moritz Kienemann als Landvermesser, der in schier unglaublicher Intensität spielt. Er leidet, er liebt, er bäumt sich auf, und dass sein K. am Ende übermüdet zusammenbricht - gerade als er seinem Ziel, den Verwalter des Schlosses oder zumindest seinen Sekretär persönlich zu treffen, um seinen unklaren Auftrag zu besprechen, so nah wie nie zuvor ist – kann man im Parkett beinahe körperlich mitfühlen.

Das Schloss5 1200 Sebastian Hoppe uMoritz Kienemann, Rieke Seja, Kaya Loewe © Sebastian Hoppe

Am Ende sucht und findet Regisseur Didenko religiöse Symbolik in Kafkas Text. K. – aufgerieben von den Verhältnissen, quasi ermordet von einem unmenschlichen System - wird an zwei Zügen gen Himmel gezogen und erfährt dabei eine Art Auferstehung und zugleich ein erneut kafkaeskes "in-der-Luft-Hängen". Hallo, fragt er, in den Kulissen baumelnd und mit den Füßen weiterlaufend wie ein Duracell-Hase, hallo?

Noch so ein starkes Bild, mit dem ein visuell und auch akustisch außergewöhnlicher, zugleich aber auch fordernder Abend endet. Großes Theater, das die Deutungsmöglichkeiten dieses Textes in faszinierende neue Rätsel und Stimmungen übersetzt, ohne ihn zu verlieren. Theater, das nach Freiheit schmeckt.


Das Schloss
von Franz Kafka
Regie: Maxim Didenko, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Galya Solodovnikova, Musik: Daniel Williams, Videodesign: Oleg Mikhailov, Lichtdesign: Peter Lorenz, Dramaturgie: Sophie Scherer,
Mit: Moritz Kienemann, Holger Hübner, Catherine Stoyan, Marin Blülle, Kaya Loewe, Philipp Grimm, Gina Calinoiu, Josephine Tancke, Rieke Seja, Jonas Holupirek, Felix Bronkalla, Live-Musik: Daniel Williams,
Premiere am 4. Mai 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

Kritikenrundschau

"Obwohl die Regie viele Ideen zaubert, um die Sinne zu füttern, gelingt es ihr nicht ganz, den Text zu beleben", schreibt Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (5.5.2024). Allerdings sei es "wunderbar schräg, wenn Martin Blülle als Beamter ein paar Schachtelsätze singt. Oder ein bizarrer Pionierchor dies gleichfalls mit überspitztem Ernst zelebriert". Der Abend biete letztlich "bilderreiches Literaturtheater mit klarem Konzept und sehr sehenswertem Ensemble". 

Die Vergeblichkeit des Ansinnens von Landvermesser K. werde an dem Abend geschickt gesteigert, so Andreas Herrmann in den Dresdner Neueste Nachrichten (6.5.2024). Wohltuend sei, dass Didenko seinem Sujet durch Werk- und Texttreue huldige. Die sei sinnvoll eingesetzt und begeistere. Ebenso die Livefilmproduktion, "bemerkenswerte Bilder" entstehen an dem Abend. "So gibt es weder überflüssige Worte noch triviale Gedanken." In Höchstform spiele Moritz Kienemann den Landvermesser.

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