Ab heute wird zurückgerunzelt

5. Mai 2024. Mit ihrer Vorgänger-Produktion "Bucket List" ist Yael Ronen gerade zum Berliner Theatertreffen eingeladen, in Hamburg forscht sie jetzt nach der katastrophen-verhindernden Kraft des Theaters. Die Bühnen-Crew bekommt Besuch aus der Zukunft und weiß die Frage nach dem Relevanzfaktor ihrer Kunst performativ klar zu beantworten.

Von Stefan Forth

"State of Affairs" in der Regie von Yael Ronen am Thalia Theater Hamburg © Krafft Angerer

5. Mai 2024. Theater kann die Welt retten. An diesem schönen Gedanken dürfte wohl schon heute der eine oder die andere gewisse Zweifel haben. Aber ob Menschen sogar noch in knapp hundert Jahren all ihre Hoffnungen in einen einzigen Bühnenabend setzen werden? Die israelische Regisseurin Yael Ronen hat die Chuzpe, auf dieser Idee von der anhaltenden Wirkmacht des Theaters eine ganze Inszenierung aufzubauen. Und sie behält Recht: Was als irre Science-Fiction-Boulevardkomödie beginnt, trifft mitten ins Herz unserer aufgewühlten Gegenwart. "State of Affairs" ist das Stück der Stunde.

"Ihr steht am Scheidepunkt der Zivilisation", tönt es früh aus einer Videobotschaft, die die Zukunft ins Hamburger Thalia Theater unserer Zeit geschickt hat. "Die Kacke ist am Dampfen." Unsere Nachfahren brauchen unsere Hilfe. Die Menschen oder Avatare, deren überlebensgroß projizierte Gesichter all das verkünden, ähneln verdammt den vier Spieler*innen auf der Bühne – nur, dass sie nach und nach in verschiedene Alterszustände versetzt werden, sich immer wieder hin- und zurückrunzeln.

Katastrophenvermeider in kreischbunten Outfits

Maja Beckmann, Nils Kahnwald, Tim Porath und André Szymanski sind also von futuristischen Wiedergänger*innen ihrer selbst dazu auserwählt worden, ihre schlichten schwarzen Outfits gegen grellbunte, türkisfarben bis gelb kreischende Kostüme einzutauschen und ein Stück zu proben, das dazu beitragen könnte, eine Katastrophe der Zukunft zumindest einzudämmen. Denn – so die Botschaft – eines Tages werde ein Zuschauer oder eine Zuschauerin die entsprechende Inszenierung sehen und aufgrund dieser Erfahrung das Schicksal der Menschheit in andere Bahnen lenken. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine Beeinflussung der Zukunft mit den Mitteln des Theaters.

Besuch aus der Zukunft: Maja Beckmann, Tim Porath und André Szymanski (als Projektion) in der Thalia-Zeitmaschine © Krafft Angerer

Kein Wunder, dass so viel künstlerische Bedeutung allerhand Eitelkeiten zutage fördert. André Szymanski (kongenial gespielt von niemand Geringerem als dem großen Bühnenartisten André Szymanski) reißt die Regie an sich und verbreitet Klatsch und Tratsch über Kolleg*innen. Und auch Maja Beckmann (verkörpert von der grandiosen Komödiantin Maja Beckmann) versucht, ihren Mitspieler Tim Porath aus der zukunftsträchtigen neuen Produktion zu lästern: "Der vergisst seinen Auftritt, weil er sich manchmal selbst googelt." Als Desdemona in "Othello" habe sie sich deshalb in einer Aufführung "selber erwürgen" müssen.

Ein großer Spaß mit tollen Darsteller*innen, die letztlich auf einer zweiten Ebene damit beginnen, die Szenen zu proben, die ihnen schriftlich aus der Zukunft übermittelt worden sind, um eine drohende Apokalypse zu verhindern. Die Handlung in Kurzform: Ein Zeitreisender im Krankenhausnachthemd versucht, die Menschheit vor dem Dritten Weltkrieg zu bewahren. Zu diesem Zweck sucht er alle möglichen Dichter und Denker heim, damit sie ihre Werke entschärfen und die Passagen streichen, die Gewalt provozieren könnten. Von Sokrates bis Marx erweisen sich dabei die Männer als besonders beratungsresistent.

Von der Salonkomödie bis zu "Matrix"

Im ersten Teil funktioniert "State of Affairs" auch ganz wunderbar als herrlich böse und selbstironische Satire auf den Kultur- und Theaterbetrieb. Das Spiel mit den vermeintlichen Identitäten und miteinander verschränkten Erzählebenen läuft genauso lässig geschmiert wie die weißen Fadengardinen, die über kreisförmige Schienen die ansonsten dunkle Bühne durchziehen und so immer neue Räume öffnen und schließen. Ausstatterin Evi Bauer hat mit dieser leichtgängigen Idee auch gleich noch eine Projektionsfläche für Videos und poppige Tapetenmuster aller Art geschaffen – mit Anleihen bei Salonkomödien der 1970er- bis zu Matrixfilmen der Nullerjahre.

State of Affairs 2 CKrafftAngerer uRelevantes Theater, hoffentlich auch noch in hundert Jahren: Tim Porath, André Szymanski und Yida Guo (hinter dem Vorhang) auf Evi Bauers Bühne © Krafft Angerer

Auf einmal sitzt da dann aber ein adrett gescheitelter junger Mann in maßgeschneiderter bräunlicher Tweed-Uniform und liest aus einem Text über einen sinnlos gewordenen Krieg. Von politischen Manipulationen ist die Rede, von unermesslichem Leid und einer gleichgültigen Zivilbevölkerung. Eigentlich hat uns die Zeitreise völlig unerwartet in den Ersten Weltkrieg katapultiert, zu dem schwulen britischen Schriftsteller Siegfried Sassoon, aber Ort und Datum spielen hier genau genommen keine Rolle. Es geht um den Mut, die eigene Meinung zu sagen, um den Wunsch, Menschenleben zu retten, unnötiges Leid zu verhindern, und darum, die Gründe für kriegerische Handlungen zu hinterfragen. Und um die inneren Konflikte, in die man dabei geraten kann. Die Spannung hin zur Gegenwart, zum Krieg im Nahen Osten etwa, überträgt sich in die vibrierende Stille des Zuschauerraums.

Jenseits der tagespolitischen Meinungsbildung

So berührend und packend diese Szene ist, so komplex und klug ist sie gleichzeitig auch gestrickt: Der Zeitreisende trifft auf Siegfried Sassoon, als der Dichter noch ein kriegsbegeisterter junger Mann ist – und konfrontiert ihn damit, wie die Schlachtfelder ihn verändern werden. So entsteht ein vieldeutiger Widerstreit, eine nachhallende Auseinandersetzung, die weit über die schnelle tagespolitische Meinungsbildung, über vermeintlich einfache Wahrheiten hinausgeht. Da zeigt das Theater seine besondere Kraft. Beeindruckend, wie es Nils Kahnwald als Siegfried und Tim Porath als Zeitreisender schaffen, von der Komödie in die Tragödie, vom Lauten ins Leise, vom verzweifelt Nachdenklichen ins selbstironisch Eitle und wieder zurückzuspringen. Das ist große Kunst.

Überhaupt: Was für ein kraftvoller, was für ein durchdachter, was für ein kluger, lustiger, fluffiger, eindringlicher und manchmal auch trauriger Abend! Ein Theater wie dieses ist und bleibt lebendig und relevant. Hoffentlich auch noch in hundert Jahren.

State of Affairs
von Yael Ronen und Roy Chen
Uraufführung
Regie: Yael Ronen, Bühne: Evi Bauer, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Yaniv Fridel, Ofer (OJ) Shabi, Video: Stefano Di Buduo, Dramaturgie: Christina Bellingen
Mit: Maja Beckmann, Nils Kahnwald, Tim Porath, André Szymanski.
Premiere am 4. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de


Kritikenrundschau

"'State of Affairs' ist eine übermütige Zeitreise vor finsterem Grund", schreibt Peter Kümmel auf Zeit online (7.5.2024). "In Ronens Stück herrscht ein starker Unterhaltungswille, der sich in Seitenhieben auf den Kunstbetrieb auslebt." Es unterbleibe jeder Hinweis auf den aktuellen Krieg. Sehr spät, in der Schlussszene, formuliere "State of Affairs" dann aber eine Botschaft an alle: "Ihr werdet das Unheil nicht verhindern, das auf euch zurollt, aber bitte, bitte, lebt trotzdem so, als ob ihr es könntet. Es ist Kants kategorischer Imperativ, aus der Sicht einer Zeitreisenden formuliert."

Yael Ronens und Roy Chens Komödie über die Macht der Worte schenke ihrem Textstellen-Terminator, der durch die Zeit reist, generell wenig Überzeugungskraft, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (online 5.5.2024). "Immer wieder werden neue Szenen entwickelt, die an die Verantwortung des Menschen für den deeskalierenden Einsatz der Worte appellieren." Aber genauso regelmäßig werde die Aussichtslosigkeit aller Vernunftlösungen in grotesken Szenen menschlicher Schwäche ausagiert. "Das ist zwar pointensicher gespielt und inszeniert, aber auch reichlich flach." Bei allem einvernehmlichen Lachen dränge sich im Verlauf der Komödie die Frage auf, "was von diesem Stück eigentlich satirisch kritisiert wird". 

Zu sehen eine "fulminante, bitterböse Komödie, ein Spiel im Spiel zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit", heißt es im NDR (5.5.2024). Die Schauspieler "Maja Beckmann, André Szymanski, Tim Porath und Nils Kahnwald pendeln lässig zwischen den Spielebenen", Regisseurin Yael Ronen gelinge ein "kluger Abend", der sich "Albernheiten traut, durchaus auf schrille Effekte setzt, seinen ernsten Kern aber nie verrät", so die Kritik.

"Eine Komödie ohne Fokus" hat Katrin Ullmann erlebt, wie sie im Deutschlandfunk Kultur (4.5.2024) zu Protokoll gibt. Der Abend sei natürlich voll mit Diskursen, zugeschüttet mit den aktuellen Debatten, Kriegen, Entscheidungen, aber auch privaten Konflikten. "Von daher fehlt mir die Essenz."

Kommentare  
State of Affairs, Hamburg: Echt?
Echt jetzt, Stefan Forth, so einfach ist das?
State of Affairs, Hamburg: Let‘s entertain you
Es beginnt als Backstage Comedy, wobei die Unart, dass sich die Schauspieler mit Vornamen ansprechen und („kongenial“ schlecht gespielte) Eitelkeiten vorwerfen, wohl als leichten Einstieg gedacht war. Nach 1 1/2 Stunden sind wir bei der Botschaft angekommen: jeder kann etwas ändern. Lass uns optimistisch sein usw. Das ist wohl nicht ironisch gemeint oder kam (bei mir) falsch an, immerhin: es kam was an (im Gegensatz zu „Bucket List“). Mich hat es dennoch nicht „abgeholt“. Die Szenen sind eher hingeschrieben als ausgearbeitet, das Hin und Her simuliert eine Theaterbetriebssituation, aber wozu das Ganze? Nach der Aufführung habe ich zufällig im Fernsehen rumgezapt und kam auf Giovanni Zarella Show mit Jan Böhmermann oder The Masked Singer mit tollen Kostümen (Elfe Egonia!). Wenn es einen packt hätte, hätte man ja nicht auf den Fernseher geschaut … einzige bemerkenswerte Szene: Die Briefszene von „Siegfried“, der Brief geschrieben im 1. Weltkrieg. Da wohl kaum jemand den Kontext kannte (steht im Programmheft), konnte es auch als Kommentar (der Autorin) zu 2024 verstanden werden [was zu vereinzelten Klatschreaktionen führte, wobei „Nils“ es mit einer Armgeste (?) unterband] …
State of Affairs, Hamburg: Wirkmächtigkeit
Dieser Abend verweist auf die Wirkmächtigkeit den Theaters, die ich mit Rührung zufällig heute in Bezug auf ein ganz anderes Stück bestätigt sehe, "Hafenstraße" am Lübecker Theater. Und der Artikel dazu siehe hier: https://www.hl-live.de/text.php?id=165701
Das macht Mut!
State of Affairs, Hamburg: Langweilig
Einiges war tatsächlich gut gemacht und gespielt (Vor allem der Vorhang!)
Aber ach: nach einer Viertelstunde hatten wir verstanden, um was es hier gehen soll, nur leider zieht sich das Ganze dann noch über eine Stunde so dermaßen langweilig dahin.
Sehr ärgerlich das Männer-/Frauenverhältnis, so platt und konventionell…
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