Theaterlandschaft Zürich - Profile, Wandel und kulturpolitische Anfechtungen
Wer zahlt, befiehlt
von Andreas Klaeui
Zürich, 22. Dezember 2016. Früher war manches einfacher. Zum Beispiel sich einen Überblick über die Zürcher Theaterlandschaft zu verschaffen. Da gab es bis zur Jahrtausendwende eine saubere Aufgabenteilung. Das Schauspielhaus pflegte den Kanon mit gediegenem Konservatismus und zehrte von seiner Weltkriegsvergangenheit als Emigrantentheater (mit Brecht, Therese Giehse, Wolfgang Langhoff, Leopold Lindtberg und so weiter, wobei man gern unterschlug, dass die Zürcher es gerade diesen "unschweizerischen" Künstlern in der Zeit selbst alles andere als leicht gemacht hatten).
Daneben gab es das Theater am Neumarkt als zweitgrößte Schauspielbühne, hier hatte sich die Stadt in einem Zunftsaal auf der zweiten Etage eines Altstadthauses eine Spielstätte für all die Gegenwartsdramatiker geschaffen, die dem Schauspielhaus zu unsicher waren. Seit 1966 widmet sich das Neumarkt-Theater per Auftrag der "zeitgenössischen Bühnenkunst".
Es war einmal: klar verteilte Aufgaben
Kurz zuvor, schon 1964 hatte sich auf halbem Weg zwischen Schauspielhaus und Neumarkt, an der Winkelwiese, auf Privatinitiative eine Spielstätte etabliert, die sich explizit der Avantgarde annahm, namentlich der internationalen, die heute auch schon wieder kanonisch ist: Beckett, Pinter, Ionesco. Das alternative Kulturzentrum in der Roten Fabrik wiederum eröffnete 1980; die "Kulturinsel" an der Gessnerallee 1988, sie entstanden aus dem Geist der neu sich formierenden freien Szene.
Christoph Marthaler 2000 im Schauspielhaus eingezogen ist und für die Theaterstadt die offene Spielstätte im Schiffbau gefunden hat, die die meisten Formen zeitgenössischer Bühnenkunst auch an diesem Haus ermöglicht, seit auch im Stadttheater nicht mehr selbstverständlich ist, dass die dramatische Theaterform die allein seligmachende ist, seit institutionelles Theater und freie Szenen immer durchlässiger geworden sind, haben sich auch die inhaltlichen Profile der kleineren Zürcher Bühnen neben dem dominanten Schauspielhaus verwischt.
Groß, mittelgroß, klein, institutionell, frei, die Aufgaben waren klar, die Subventionen verteilt, ebenso die Publikumssegmente. Ein Vierteljahrhundert später zeigt sich die städtische Theatersituation nicht ganz so übersichtlich. SeitPlattformen, Preisreformen, Selbsterneuerung
Sie haben manches dagegen unternommen. Das Neumarkt unter der aktuellen Direktion von Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler zum Beispiel mit dem dramaturgischen Konzept thematischer "Plattformen", nach denen sich der Spielplan strukturiert. Die Gessnerallee ist (von Festivals wie dem Theaterspektakel mal abgesehen) der internationale Koproduktions- und Gastspielort in Zürich und glänzt mit dem Besten, was in Sachen Tanz und Performance durch die Lande tourt; aber auch hier ging man jüngst mit einer radikalen Preisreform in die Offensive. Ein wenig einfacher ist die Situation für das Fabriktheater, in dem sich der Nachwuchs ausprobiert; die Winkelwiese setzt auf Dramatikerförderung und sanfte Selbsterneuerung des Erzähltheaters.
Maxim-Theater zum Beispiel; literarische Soireen im Sogar-Theater, in dem sich die Künstler eines früheren Neumarkt-Ensembles zusammengefunden haben, oder im idyllisch gelegenen Rigiblick ein neues ambitioniertes Kleintheater, das sich schnell ein schickes Stammpublikum zu schaffen wusste – ebenfalls mit einem ehemaligen Neumarkt-Schauspieler als Spiritus rector.
Neben ihnen gibt es eine Vielzahl kleinerer Player im Zürcher Theaterleben, das interkulturelleÄsthetische Formen und Spielweisen, die ehedem fürs Neumarkt spezifisch waren, haben sich mithin an anderen Orten in der Stadt etabliert. Es ist im Rückblick tatsächlich das Neumarkt-Theater, das ausgewiesene Haus der neuen Stoffe, neuen Formen und der Grenzüberschreitungen, das sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren von allen Zürcher Theatern den meisten Wandlungen unterzogen hat und trotzdem – oder eben deshalb? – am häufigsten in der Schusslinie stand.
Wandlungsfähig: Theater Neumarkt
Unter wechselnden Intendanzen, zuletzt von Peter Schweiger und von Gudrun Orsky, entwickelte es sich in den siebziger und achtziger Jahren zum Forum für neue Autoren. Unter Volker Hesse und Stephan Müller verschob sich das Gewicht auf Ensemble-Projekte, zum Beispiel Urs Widmers "Top Dogs" 1996 – ein internationaler Riesenerfolg.
Crescentia Dünsser und Otto Kukla bleiben neben der kontinuierlichen Arbeit mit Autorinnen hauptsächlich mit multimedialen Projekten in Erinnerung. Wolfgang Reiter darauf versuchte die künstlerische Heterogenität zum Konzept zu machen, was in der Stadt nicht reibungslos zu vermitteln war; Barbara Weber und Rafael Sanchez trieben es nach ihren ausgesprochen formbewussten Vorgängerdirektionen ästhetisch bunter – hatten aber, wie jetzt auch Peter Kastenmüller, mit dem Vorwurf zu kämpfen, in der Stadt nicht recht "anzukommen". Abschaffen! rief deshalb eine lokale Zeitung aus; auch Überlegungen, Neumarkt und Gessnerallee zusammenzulegen, standen im Raum. Das Geld könnte man doch sparen.
AuchZürich ist eine Theaterstadt: in Maßen. Es zeigt sich jeweils, wenn die Politik übers Theater disputiert, wie jüngst im Nachzug zu Philipp Ruchs verunglückter Schlingensiefiade Schweiz entköppeln. Überangebot, Themenredundanz, mangelnde Qualität, lautet der Befund dann bald, wo bleibt der Leistungsnachweis, das "linke, destruktive Unterhosentheater" (wie es ein Roger Köppel nahestehender Gemeinderat formulierte) habe keine Unterstützung verdient. Von Geschmacksfragen mal abgesehen, manifestiert sich hierin ja ein gewissermaßen vordemokratisches, feudales Demokratieverständnis. Wer zahlt, befiehlt.
Die Indienstnahme längst internalisiert
Zürich ist eine protestantische Kaufmannsstadt. Da ist der zivilgesellschaftliche Nutzen von Theater (Kunst im Allgemeinen) nicht immer direkt einsichtig. Ein früherer Stadtpräsident bewarb sie deshalb gern mit dem Nutzen der so genannten Umwegrentabilität, all den Krawatten, Hotelübernachtungen und Restaurantbesuchen, die die Kultur doch noch profitabel machen. Bemerkenswert bleibt, wie die gesellschaftspolitische Wirkmacht der Kunst hinter Rentabilitätserwägungen verschwindet, und die Loyalität sich danach richtet. Was freilich keine Zürcher Spezifität ist.
Es zeigt sich in der Köppel-Causa gewiss auch ein weit verbreitetes Stadt-Land-Gefälle. Der Kanton Zürich (das Land) ist traditionell konservativer als die Stadt. Im städtischen Gemeinderat fand das Neumarkt-Theater denn auch Support; der Kanton bestraft es mit einer einmaligen Subventionskürzung um 50.000 Franken. Das Neumarkt wird damit leben und weitermachen – "ab jetzt nur noch nackt!", wie es auf seiner jüngsten Affiche todesmutig bekanntgibt. Fatal ist, dass die Kunstschaffenden übers Neumarkt hinaus ihre Indienstnahme offenbar internalisiert haben. Wes Brot ich ess, des' Lied ich sing. Für wie blöd man "Schweiz entköppeln" auch immer halten mag, auf die politische (wohlverstanden: nicht strafrechtliche) Bestrafungsaktion eines Theaters hätte eigentlich ein allgemeiner Aufschrei erfolgen müssen.
Angebot und Überangebot
Undemokratisch und unliberal ist auch die Rede vom "Kulturinfarkt", vom kulturellen "Überangebot", das zu regulieren sei. Sie ist nostalgisch, sie will in die übersichtlichen alten Zeiten zurück. Sie verweist auf eine tiefliegende Angst vor der Kunst. Kann es ein solches "Überangebot" denn geben? Und selbst wenn, was hätte die Stadt für eine Handhabe, es einzudämmen? Kontrollmaximierung kann nicht die Aufgabe der Kulturförderung sein. Sie kann einen Rahmen schaffen und muss Aufträge definieren, auch damit ein Haus nicht plötzlich für etwas an den Pranger gestellt wird, wozu es eigentlich bestellt ist. – Wie es um Angebot und "Überangebot" wirklich steht, will die Stadt nun erst mal in einer umfassenden Bestandesaufnahme analysieren.
Die Grenzen zwischen den Szenen und den repräsentativen Räumen haben sich bekanntermaßen aufgelöst. Es bilden sich neue Koalitionen, hybride Konzepte. Formen und Inhalte diffundieren, es muss nicht zum Schaden der Institutionen sein. Dass Dichotomien überflüssig sind, erweist sich gerade an Orten wie der Roten Fabrik und in der Gessnerallee, in Schwellenräumen, auch im Umfeld der ZhdK (Zürcher Hochschule der Künste), in Formationen, die an neuen Begriffen des Ensemble und des Gemeinwesens arbeiten.
Das Schauspielhaus wird weiterhin auch Schulklassen etwas bieten müssen, die Lessing und Frisch zum ersten Mal begegnen, und jenen Zürchern, die zwar regelmäßig nach Salzburg reisen, aber niemals in den Schiffbau gehen würden. Das Neumarkt-Theater wird sich weiterhin von der Gessnerallee abheben, allein schon weil es ein Ensemble hat. Die Häuser definieren sich vielleicht eher über eine subjektive ästhetische Geste, künstlerische Persönlichkeit. Ein spezifisches Identifikationsangebot, das das Publikum bereitwillig annimmt.
Volker Hesse und Stephan Müller ist es am Neumarkt geglückt: mit hinreißendem Ensembletheater. Und ähnlich ließ sich ja auch Barbara Freys Intendanz 2009 an: Nachdem das Schauspielhaus zuletzt unter Matthias Hartmann eher einem Bienenhaus geglichen hatte, war hier nun wieder eine Truppe von Schauspieler*innen am Werk, die man wieder und wieder sehen wollte. Inzwischen hat sich die Gangart am Pfauen und im Schiffbau etwas abgekühlt – für eine Bilanz ist es zu früh. Im Sommer 2019 wird Barbara Frey das Schauspielhaus verlassen; eine Findungskommission sucht derzeit ihre Nachfolge. Und wer immer das sein wird, wird die Gewichte abermals verschieben.
Andreas Klaeui, 56, ist Theaterkritiker und Redakteur beim Schweizer Radio SRF 2 Kultur. Bis 2008 war er verantwortlicher Redaktor des Magazins "du". Klaeui schreibt für nachtkritik.de aus der Schweiz und Frankreich, seine Texte erscheinen außerdem in der Neuen Zürcher Zeitung, NZZ am Sonntag sowie in Theater heute.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr porträt & reportage
- Theaterlandschaft Zürich: Zuschauen als Lebensersatz
- #1
- DR
meldungen >
- 26. April 2024 Toshiki Okada übernimmt Leitungspositionen in Tokio
- 26. April 2024 Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg
- 25. April 2024 Staatsoperette Dresden: Matthias Reichwald wird Leitender Regisseur
- 24. April 2024 Deutscher Tanzpreis 2024 für Sasha Waltz
- 24. April 2024 O.E.-Hasse-Preis 2024 an Antonia Siems
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Weimar: Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
neueste kommentare >
-
RCE, Berlin Talentiertester Nachwuchs
-
RCE, Berlin Manieriert und inhaltsarm
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Struktur
-
Pollesch-Feier Volksbühne Motto von 1000 Robota
-
Essay Berliner Theaterlandschaft Radikal gute Idee!?
-
RCE, Berlin Magie
-
Pollesch-Feier Volksbühne Punkrocker
-
Die kahle Sängerin, Bochum Bemerkenswert
-
Intendanz Weimar Inhaltlich sprechen
-
Akins Traum, Köln Unbehagen mit dem Stoff
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau