The Hairs Of Your Head Are Numbered - Im Kontext des Überwachungsschwerpunkts "Spy on me" im Berliner HAU untersuchen Chris Kondek und Christiane Kühl die Verwandlung des Körpers in ein Datendisplay
Am Puls der Zeit
von Esther Slevogt
Berlin, 18. Januar 2018. Zuerst wird der etwas aus der Welt gefallen klingende Titel erklärt. Er stammt nämlich aus dem neutestamentarischen Buch des Evangelisten Lukas. "Even the hairs of your head are all numbered", heiße es da in Kapitel 12, Vers 7, sagt der Co-Regisseur und Miterfinder des Abends Chris Kondek. Und dann: "Fear not!" Was hier natürlich bedeutet: die Behütung der Menschenwesen durch den Allerhöchsten ist so umfassend, dass wir nichts fürchten müssen. Im Laufe des Abends sollen wir dann erfahren, dass die Zähl- und Datenerhebungswut des Digitalzeitalters die Lage grundlegend verändert hat. Ins ausgesprochen Furchterregende nämlich.
Der menschliche Körper im Datenlabor
Der Theatersaal am Halleschen Ufer ist in einen Parcours verwandelt: mit Elementen wie einer Bett- und Kissenlandschaft und laborartigen Stationen. Eine Sänfte gibt es auch. Darin lässt sich Chris Kondek (als Conferencier des Abends) später einmal durch die Szene tragen, während er von einem Renaissance-Arzt erzählt, der 1612 das Pulsmessgerät erfunden haben soll und damit als Urheber des Datensammlungswahns identifiziert ist, der in der Gegenwart immer exzessiver Körper messen, quantifizieren und in Datenträger verwandelt. Der menschliche Körper, bisher noch immer der analoge Rest in der digitalen Welt, wäre somit endlich bald auch digitalisiert: das ist zumindest die These, die das Duo Kondek/Kühl diesem Abend zu Grunde legt.
Umstellt ist der Parcours von Tischen, an denen junge Menschen mit Computern sitzen, sowie diversen Leinwänden. In der Mitte ein großes Hebepodest, auf dem eine Frau (Christiane Kühl) zunächst Kreise auf den Boden zeichnet, während das Publikum Zeit hat, die Szenerie zu erkunden. Die Frau beginnt dann bald, uns über den Umstand aufzuklären, dass nach 2000 Jahren sinnlosen Herumdokterns am Imperativ des Orakels von Delphi "Erkenne Dich selbst" endlich Licht am Ende des Tunnels erkennbar sei: durch die Methoden digitaler Datenerhebung über den eigenen Körper. Stichwort: Selbstermächtigung durch Technik. Sie konfrontiert uns mit somnambulem Lächeln und nicht sehr konsistent klingenden medizinischen Informationen, Marke Dr. Google. Dann tritt ein freundlicher junger Mann mit dem Namen Anna O. in Erscheinung und führt ein Pulsmessgerät vor, das am Zeigefinger befestigt werden kann.
Sekt für Datengeschenke
Und so laufen bald etwa 30 Zuschauer mit grün leuchtenden Zeigefingern herum, was sie als Träger eines solchen Messgeräts identifiziert, das ihren Puls erfasst und die Daten dann gleich auch senden kann. Jedes Gerät hat eine Nummer und so findet sich jeder Messgerätträger mit seinem Pulsschlag bald auch auf der Leinwand wieder. Die Datenanalyse identifiziert zwei gleich schlagende Zuschauerherzen im Raum, deren Nummern dann aufgerufen und (hö, hö) zur großen Bettlandschaft gebeten werden. Eine andere trifft es noch härter: sie wird am Ende aussortiert, weil ihr Herz allzu kontrapunktisch zum Geschehen schlägt, und muss ihr Gerät wieder abgeben. Das hat zur Folge, dass sie nicht am Sektumtrunk teilnehmen darf, zu dem die Datenmessgerätträger*innen am Ende gebeten werden – als Belohnung fürs Datenverschenken an die Produktion. Die Datenträger*innen werden dafür in eine Ecke des Raums gebeten, flugs von verspiegelten Wänden umstellt und so von den anderen, nichtdatenspendenden Zuschauern abgeschottet (die auch tatsächlich brav draußen bleiben).
"Mein Körper ist das Display meiner Arbeit an mir selbst", verkündete schließlich die von Christiane Kühl verkörperte Figur. "Einfache Körper werden bald nicht mehr gebraucht werden." Dabei sind natürlich in Wahrheit wir Datenspender die eigentlich Dummen, die sich hier für Datenverschenken mit Sekt abspeisen lassen.
Tanz den Cyborg!
Die ideologischen Grundlagen und Botschaften des Abends (oder wie man das nennen soll) sind, wie man sieht, also gelegentlich etwas wohlfeil. Der Abend schürft auch sonst im Thema nicht sehr tief. Seine große Qualität aber ist, durch szenische Einsprengsel fast beiläufig ein atmosphärisches Empfinden dafür herzustellen, wie der Mensch – auch ganz ohne medizinisch-digitale Überwachung – durch die dauernde Selbstrepräsentation und dem damit verbundenen stetig wachsenden Bedürfnis der Steuerung der eigenen Außenwahrnehmung dabei ist, sein eigener Cyborg zu werden.
Da wurde die (wahrscheinlich fiktive) App "Affective :)" vorgestellt, mit der man via "Mikroexpressionsanalyse" üben kann, seinen Gesichtsausdruck besser zu steuern, damit es bei anderen biometrischen Tools (wie Gesichtserkennungs-Apps) nicht zu Missverständnissen kommt. Eine Schlafmaske lehrte "richtiges Schlafen" und dazwischen zeigte die Tänzerin und Choreographin Joséphine Evrard in kleinen Solos den Körper im Überlebenskampf mit seinem digitalisierten Abbild. Aber das ist natürlich reine Romantik.
The Hairs Of Your Head Are Numbered
von Doublelucky Productions
Konzept, Text, Regie: Chris Kondek und Christiane Kühl, Bühne und Kostüm: Doris Dziersk, Komposition und Musik: Hannes Strobl, Video: Philipp Hohenwarter, Ruth Stofer, Interaction Design: Anna O., Electronic Engeneering: Grzegorz Zajac, Datenvisualisierung: Kim Albrecht, Recherche und dramaturgische Mitarbeit: Maria Rößler.
Mit: Joséphine Evrard, Chris Kondek, Christiane Kühl, Anna O.
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
Introspektiv näherten sich Kühl und Kondek dem Internet und "durch 2500 Jahre Geistesgeschichte hindurch ihrem Objekt der Begierde: dem 'Ich'", schreibt Doris Meierheinrich in der Berliner Zeitung (23.1.2018). Der Abend sei eine "große Selbstversuchs-Show", in der das Duo die Geschichte der Selbsterkenntnis durchbalanciere − "immer auf Messers Schneide zwischen Sachlichkeit und Zynismus", so Meierheinrich: "Subtil einlullend manipulieren Kühl und Kondek uns durch Aufklärung und Verblendung. Wo wir landen, entscheiden wir."
Es gehe in dem Stück von Kondek/Kühl "um Biohacking und die Quantified-Self-Bewegung. Also um Leute, die ihren Körper anhand von Datenmessungen optimieren: Selbstspionage für mehr Gesundheit und Leistungsfähigkeit“, schreibt Mounia Meiborg im Rahmen eines Festivalberichts zu "Spy on Me" am HAU für die Süddeutsche Zeitung (25.1.2018). "Interessant" sei diese Arbeit "allemal", auch "wenn das faschistoide Moment am Ende im Sinne der Didaktik überbetont" werde.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 26. April 2024 Toshiki Okada übernimmt Leitungspositionen in Tokio
- 26. April 2024 Pro Quote Hamburg kritisiert Thalia Theater Hamburg
- 25. April 2024 Staatsoperette Dresden: Matthias Reichwald wird Leitender Regisseur
- 24. April 2024 Deutscher Tanzpreis 2024 für Sasha Waltz
- 24. April 2024 O.E.-Hasse-Preis 2024 an Antonia Siems
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Weimar: Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
neueste kommentare >
-
Zusammenstoß, Heidelberg Schauspielmusik ist nicht Musiktheater
-
Pollesch-Feier Volksbühne Chor aus "Mädchen in Uniform
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Ideologisch verstrahlt
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Vorfreude
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Schieflage
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg ungutes Zeichen
-
RCE, Berlin Talentiertester Nachwuchs
-
RCE, Berlin Manieriert und inhaltsarm
-
Kritik an Thalia Theater Hamburg Struktur
-
Pollesch-Feier Volksbühne Motto von 1000 Robota
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Leider kratzt die Performance „The hairs of your head are numbered“ nur an der Oberfläche. Sie kommt nur schleppend in Gang und bleibt auch, nachdem sich einige Freiwillige gefunden haben, die sich ein Pulsmessgerät anlegen lassen, im Leerlauf.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/18/the-hairs-of-your-head-are-numbered-schleppende-performance-im-hau-ueber-selbstoptimierung/
Ich habe mich auch gefragt, wie realistisch das ist und bin auf die am MIT gegründete Firma "Affectiva" und einen Artikel im "New Yorker" gestoßen: https://www.newyorker.com/magazine/2015/01/19/know-feel
Ich hatte das Glück, einen Pulsmesser zu ergattern und dadurch ist dieser Abend für mich schon ganz speziell und erkenntnisreich geworden, weil ja dadurch die Ebene: wie reagiere ich auf das Stück, und was halten die anderen davon? dazu kommt. Das wäre insofern auch ein problematischer Punkt: ohne diese Ebene, kann ich mir vorstellen, fehlt etwas, wird es verkopfter und im Zweifel langweiliger. Mit dieser Ebene: ein gelungenes Experiment, ausbaufähig, erweiterbar. Darauf wäre ich neugierig.