Wolken.Heim - Schauspiel Stuttgart
Wann kommt die Wut?
von Steffen Becker
Stuttgart, 24. Mai 2019. Wenn der Volksmund (hinter vorgehaltener Hand) raunt, am deutschen Wesen soll die Welt genesen, so hält ihm Elfriede Jelinek seit 1988 mit "Wolken.Heim" den Spiegel vor. Regisseurin Friederike Heller nimmt das am Schauspiel Stuttgart wörtlich. Das Publikum sitzt vor drei Kästen und blickt in die eigenen zu Fratzen verzerrten Gesichter.
Jede Wärme zerbröselt
Etwas im Weg steht eine junge Frau. Würde man arg viel in den ersten Auftritt von Josephine Köhler hineininterpretieren wollen, man könnte das Muster ihrer Strumpfhose als Symbol für die verworrene Vernetztheit der Welt deuten und ihre holzschnitzartigen Bewegungen als Unwohlsein darüber. Jedenfalls ist sie eine Frau auf der Suche nach Identität. Die drei Boxen auf der Bühne haben dazu etwas im Angebot – das Licht geht an und hinter den Spiegeln werden deutsche Lebenswelten sichtbar.
Deutsche Lebenswelten, hübsch handlich verkästelt: Christiane Roßbach, Therese Dörr, Josephine Köhler, Celina Rongen © Björn Klein
Christiane Roßbach sitzt in den 50er-Jahren mit Kittelschürze, Kartoffeln und Kofferradio. Gepanzert mit Lockenwicklern strahlt sie den Charme der gestrengen Oma aus, die einem wortreich deutsche Sprichwörter beibrachte, aber Fragen nach der dunklen Zeit wortkarg abbürstete. Dabei lächelt sie ein Betonlächeln, dass jede Wärme zerbröseln lässt. Ihr häufigster Satz: "Wir sind bei uns zu Haus", ihre aktuelle Referenz: Kinder statt Inder. Was umso absurder ist, als sie einen Wirtschaftswunder-Kühlschrank von Bosch poliert, in Stuttgart der Begriff "Bosch-Inder" ein geflügeltes Wort ist und das Premierenpublikum an vier von ihnen – man erkennt sie an den Werksausweisen – vorbeistiefelte, die vor dem Theater zufällig ihren Abend planten.
Die schaurige deutsche Seele
Die 70er repräsentiert Therese Dörr vor bunter Lampe und Plattenspieler. Eine theorienfeste, taffe Frau. Ihre Ausstrahlung: Eine der Mütter, die sich was ganz anderes vorstellen konnten im Leben und über die Aussichtslosigkeit dieser Pläne verbitterten. Ihr häufigster Spruch: "Wir sind bei uns". Sie führt ihn allerdings ad absurdum, indem sie ihre Balance wahlweise bei Yoga, in ihrer Mao-Bibel oder bei RAF-Anleihen sucht. Für die frühen 90er steht Celina Rongen im Wolfs-Shirt und mit Mikrowellen-Essen vor dem Zwei-Farben-Bildschirm früherer Computer. Ihre Ausstrahlung: Gestresst von den vielen Möglichkeiten, hyperaktiv, aber desorientiert.
Gemeinsam haben diese Frauen einen erdigen Boden, in dem sie nach ihren Wurzeln wühlen. Das Ergebnis legt Jelinek ihnen in den Mund. Versatzstücke von Hölderlin, Hegel, Fichte, Kleist und Heidegger, die als schauriges Gesamtbild der deutschen Seele zusammenmontiert sind. Düstere Naturschauspiele, Lust am Untergang, Verbindung von Liebe und Tod, der Appell ans gemeinsame Leiden, die eigene Mission als Bollwerk gegen barbarische Mächte aus dem Osten – zur Erhaltung zivilisatorischer Reinheit.
Die Geburt der Muttererde: Josephine Köhler © Björn Klein
Bei Jelinek kulminiert der Stolz nationaler Kulturgeschichte zu einem "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"-Klumpen. Hört man sich heute Reden von Rechtsextremen in deutschen Parlamenten, dann spielen sie mit ganz ähnlichen Zitaten, wie sie Jelinek anno 1988 zusammenstellte. Den roten Faden greift Regisseurin Heller auch musikalisch auf, wenn sie Richard Wagner ("Tristan") auf Joachim Witt ("Wann kommt die Flut") treffen lässt.
Neue Muttererde gebären
Dass sie ausschließlich auf Frauen setzt, wo doch Urheber und politische Benutzer nationaler Parolen meist Männer sind, ist ein kluger Kniff. Schuld und Verantwortung treffen auch die Menschen der zweiten Reihe, die Unterstützer. Die Figuren der Inszenierung zeigen zudem eine Nervosität und Überspanntheit, die sich aktuell gesamtgesellschaftlich zeigt – die Darstellung kippt nie ins Klischee "typisch weiblicher" Hysterie.
Etwas unter die Räder kommt dabei allerdings Josephine Köhler als außenstehende Identitätsbauherrin. Sie schiebt die Generationen-Kästen zwar eifrig hin und her, flüchtet gar kurz in ein eigenes Modell mit Zimmerpflanze, "Home"-Deko und Landlust-Heft – aber die literarische Musik spielt doch eindeutig in den Boxen der Vergangenheit. Erst zum Schluss darf Köhler der Sehnsucht nach der guten, alten Zeit sichtbaren Ausdruck verleihen, die frei gewordene 50er-Box erklimmen – und aus dick gewordenem Bauch neue Erde gebären, in der Nationalismus und Ressentiments gedeihen können. Ein lauter, ekliger, typischer Jelinek-Moment, der einen so zurücklässt, wie die Autorin es sicher gerne hat: angefasst und willens, das Landlust-Abonnement bald zu kündigen.
Wolken.Heim
von Elfriede Jelinek
Regie: Friederike Heller, Bühne/Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen, Dramaturgie: Sina Katharina Flubacher.
Mit: Christiane Roßbach, Therese Dörr, Josephine Köhler, Celina Rongen.
Premiere am 24. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Seit der Uraufführung im Jahr 1988 hätten die Themen nichts an Aktualität verloren. "Im Gegenteil: Jelinek untersucht Nationalismus und Fremdenhass, indem sie in die deutsche Geschichte eintaucht und die Blutspur gemütvoll-mörderischer Geisteshaltungen bis in die Gegenwart verfolgt", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten (25.5.2019). "Aber das jelineksche, alles Soziale ausklammernde Irgendwie ist dann doch viel zu verwaschen, um politisch wirksam zu werden – daran kann auch die bemühte Regie von Friederike Heller nichts ändern." Die Inszenierung lasse den Zuschauer ratlos zurück.
Der ausufernde, teils loopartig kreisende Text lasse sich in vielfältigen Spielvarianten erleben – "als Echo untoter Geister und als Disput dreier Frauengenerationen der Nachkriegszeit", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (27.5.2019). Sein Fazit: "Klug konzipiert, famos gespielt, absolut sehenswert."
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