Maß für Maß - Theatersommer Haag
Sittenverfall in Wien
von Martin Thomas Pesl
Haag, 3. Juli 2019. Als auf dem Haager Hauptplatz noch alle ihren Spritzer trinken und die Kennzeichen jener Autos durchgesagt werden, die die Feuerwehrzufahrt versperren, gibt es auf der Bühne schon einiges zu schauen. Vor einer Stoffwand mit idyllischen Holzhäusern nebst Kirche erstreckt sich ein Wildweststädtchen mit Puff/Saloon, einem Huhn auf dem Dach, einem Skelett am Piano, zwei lebenden Mariachi-Musikern und lobenswert flächendeckender Begrünung.
Wo sind wir hier? "Wien!" "Wie?" "-nnn." "Klingt wie eine unfertige Flatulenz." Aber Wien ist tatsächlich der Schauplatz für Shakespeares Problemstück "Maß für Maß". Hier, 150 km entfernt in Haag, ist die Hauptstadt in eine postmoderne Zeitlosigkeit versetzt.
Tour nach Niederösterreich
Haag, im Westen Niederösterreichs gelegen, hat 5500 Einwohner*innen und ein Sommertheaterfestival. Als Intendant amtiert seit 2017 der aus dem ORF bekannte Schauspieler Christian Dolezal. Zum Einstand gab er den "Don Quijote" in einer soliden Inszenierung von Stephanie Mohr, mit der das Publikum aber nicht recht glücklich wurde. Im Jahr darauf sattelte er auf Shakespeare um und landete mit einem neuen Regieteam einen Riesenerfolg, den er diesen Sommer wiederholen möchte. Und wird.
Denn das Regieteam hat es in sich. Der Schauspieler Alexander Pschill (vormals Theater in der Josefstadt) und seine Partnerin Kaja Dymnicki führen seit 2016 das kleine Bronski & Grünberg Theater in Wien, wo sie und Freund*innen ohne nennenswerte Förderungen und hauptsächlich mit anderswo fest angestellten (daher nicht auf angemessene Gagen angewiesenen) Schauspieler*innen bekannte Stoffe (zuletzt "Schuld und Sühne") durch den Boulevard-Wolf drehen, aber nicht persiflieren. Dialogwitz, Situations- und Körperkomik, aber auch Philosophie wechseln sich so rasant ab, dass, wer eine Pointe nicht mitgekriegt hat, dafür bestens auf die nächste vorbereitet ist. Das Konzept kommt nun in Haag zum Einsatz, und siehe da, es funktioniert auch mit breiter Bühne, mikroportierten Spieler*innen und achtmal so viel Publikum.
Lacher mit Law & Order
Wien also, in Haag. Der von Florian Carove gespielte Bürgermeister (bei Shakespeare war es noch der Herzog) wird des Sittenverfalls nicht mehr Herr und lässt sich von einem verbissenen Korinthenkacker namens Angelo vertreten. Der ist eigentlich Malvolio aus "Was ihr wollt", dem Haager Hit aus 2018, gelbe Strümpfe inklusive – bequem für Intendant Dolezal, der die Rolle damals wie heute übernimmt, aber auch eine schlüssige intertextuelle Referenz. Der Vize übertreibt es mit Law & Order und will Claudio (Roman Blumenschein) wegen dessen Ehebruch hinrichten. Die betrogene Gattin springt rettend zur Seite. Denn die ist legendär loyal, ein weiblicher John Wayne der Integrität: "Ich bin wie ich bin und sag was ich denk, Subtext brauch ich keinen", singt sie einmal.
Charlotte Krenz stattet diese Isabella, hier natürlich Jägerin von Beruf, mit abgebrühten Macherqualitäten aus. Außerdem ist Krenz eine moderne Meisterin des Shakespeare'schen Beiseite-Sprechens, smarter geht es kaum. Claudios Kumpel Lucio, in Isabella verliebt, gibt Josef Ellers, und selbst diese Figur ist bei aller Armseligkeit bemerkenswert klug und wach. Dem ältlichen Berater Escalus gewinnt Hannes Gastinger nestroyisch-lebensklugen Witz ab. Andere Nebenrollen haben das gewisse What-the-fuck: Doris Hindinger als eine Art oberg'scheiter Prolo-Cowboy, Boris Popovic im Narrenkleid Rechtstexte referierend. Wer seid ihr eigentlich und was habt ihr hier zu suchen?, fragt man sich aufs Produktivste irritiert.
Die klügsten Überschreibungen
Von allen Überschreibungen machen Dymnicki/Pschill derzeit die übermütigsten. Es heißt, innerhalb des Kollektivs sei sie vor allem für die Texte, er mehr für die Regie zuständig. Beide lieben es over the top, aber sie schreibt maßlos originell und er inszeniert maßvoll präzise. Getaktet durch exakt gesetzte Sounds und Blicke wird jede schauspielerische Eitelkeit kanalisiert, bevor sie nervig werden könnte, und das Ensemble zum Brillieren gebracht.
Das größte Vergnügen aber bereitet der Text. Der sprüht so vor Originalität, dass man die ganze Zeit mitschreiben will, reibt einem die eigene Klugheit aber nie unter die Nase. Manchmal ist er – einfach so – gereimt, manchmal auch noch gesungen, die Sprache geschliffen, mal im Wiener Dialekt, mal im Zorro-Spanisch (it's complicated), mal im affektierten Filmsynchrondeutsch, stets sinnig, nie banal oder bequem. So sieht wohl die beste aller möglichen Sommertheaterwelten aus: wenn ein Lacher den nächsten jagt, ohne dass die Intelligenz der Zuschauer*innen je in Beleidigungsgefahr gerät.
Maß für Maß
von Kaja Dymnicki und Alexander Pschill frei nach William Shakespeare
Regie/Bühnenbild/Kostüme: Kaja Dymnicki, Alexander Pschill, Musik: Stefan Lasko, Stefan Galler, Licht: Michael Grundner, Thomas Freund, Ton: Felix Dicketmüller.
Mit: Roman Blumenschein, Florian Carove, Christian Dolezal, Josef Ellers, Hannes Gastinger, Doris Hindinger, Claudia Kainberger, Charlotte Krenz, Angelika Niedetzky, Boris Popovic; Gloria Amesbauer, Theresa Edelmayer, Pia Stubauer, Fabian Fischer, Gabriel Schnetzer, Marcel Steinkellner (Statist*innen); Maia (Hund).
Premiere am 3. Juli 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.theatersommer.at
Am Bronski & Grünberg Theater in Wien sah nachtkritik.de zuletzt das Kollektiv-Projekt "Der Reigen" nach Arthur Schnitzler.
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Warum hat man dem Bronski Team nicht das Wiener Volkstheater überantwortet?
Wäre alles dabei was das Herz begehrt und auch noch Gendergerecht! Männerrollen werden im Bronski schon längst und ohne irgend ein Aufhebens drum zu machen, von Frauen gespielt.
Eine tatsächlich flache Hierarchie, Frauen Inszenieren, auch zusammen mit Männern, also als Team! oder allein.
Aber es sind eben vornehmlich Schauspieler welche mit Schauspielern zusammen Theater machen.
Vielleicht ist das ja, das abschreckende Moment.
Keine Dramaturgen, kein Intendant/in im üblichen Sinne.
Keine dem Theaterbetrieb vertraute Hirarchie.
Der Kulturpolitik nicht geheuer, weil das Bronski Team alle üblichen Hirarchien mit einer Leichtigkeit über den Haufen wirft, das es gar nicht auffällt wie fortschrittlich dieses Konzept in Wahrheit ist.
Eine kleine 'Revolution der Spieler', welche sich entgegen aller seit Jahrzehnten propagierter, unumgänglicher, zerfleischender Konkurenz untereinander, KOOPERATIV verhalten und GEMEINSAM sooo
geiles Theater machen.
Das wäre eine wirklich innovative Lösung fürs Volkstheater gewesen, ohne WLAN.