Frankenstein oder eine Frischzellenkur - Staatsschauspiel Hannover
Vom Toaster zum Leben erweckt
von Jan Fischer
Hannover, 14. Oktober 2021. Es gibt neben 2020 ja noch ein paar andere gute Kandidaten für das das schlimmste Jahr aller Zeiten. Eines davon ist 535/536 – zu einem Vulkanausbruch in Island kamen Missernten, Krankheit und eineinhalb Jahre kein Sonnenschein. Zwischen 30 und 60 Prozent der europäischen Bevölkerung starben. Auch 1816 , das "Jahr ohne Sommer", steht oben auf der Liste – wieder ein Vulkanausbruch, dieses Mal auf Java. Hunger, Seuchen und Unwetter waren die Folgen. Und Mary Shelleys Roman "Frankenstein", den sie während des verregneten Sommers in einem Haus am Genfer See schrieb, unter den Eindrücken dieser Katastrophen, für die sich erst vier Jahre später eine Erklärung fand.
Vegetarier für die Gegenwart
Aber es sind nicht nur die Umstände, wegen denen es sich lohnt, das klassische Monster mal wieder aus der Mottenkiste zu holen: Es geht in dem Buch um Kritik an – manchmal als "männlich" gedeuteter – Wissenschaft, die keine Verantwortung für ihre Schöpfungen übernehmen will. Es geht um Einsamkeit, Isolation und: Tatsächlich ist das Monster bei Shelley auch Vegetarier. Es gibt also einige Anknüpfungspunkte in die Jetztzeit, mit denen Clara Weyde hantieren kann, während sie versucht, das Monster im Schauspiel Hannover zu modernisieren.
Die Geschichte bleibt dabei aber – im Groben – recht unangetastet: Das Monster wird erschaffen, versucht, sich und die Menschen zu verstehen, scheitert an ihrem Unverständnis für es, mordet, verlangt eine Gefährtin, die es nicht bekommt. Für das nicht-menschliche, oder: vielleicht-doch-menschliche Wesen gibt es keine Liebe, keine Erlösung, kein Verständnis, es wird von seinem Anderssein in die Einsamkeit getrieben. Bei Weyde erzählen fünf Wesen als eine chorartige Formation – sie nennen sich "Maryzellen" – die Geschichte, vor dem Hintergrund eines Hauses aus grau-weißen Quadraten, auf das ein ebenfalls grau-weißes Trapez als Fluchtpunkt gerichtet ist.
Hin und wieder taucht auch das Monster auf – als Wesen in nackt aussehendem, behaartem Ganzkörpergummianzug, das quietschend über die Bühne glitscht und klettert. Und während das Monster zwar – ganz traditionell – durch Elektrizität ins Leben kommt (weniger traditionell allerdings: durch einen Toaster), führt die hannoversche Inszenierung bald recht weit weg von der galvanistischen Wissenschaft des Jahres ohne Sommer.
Sind wir nicht alle ein wenig…
In "Frankenstein oder eine Frischzellenkur" erzählen die Maryzellen – mit Kunstblut, Kunsteingeweiden, auch mal als Pilz verkleidet mit Geschichten der aus Lehm geschaffenen Pandora und Texten von Stephen Hawking bis Donna Haraway im Gepäck – von der Welt. Und wirbeln derweil gerne auch wie ein von Wespen verfolgter griechischer Chor mit bleich geschminkten Gesichtern über die Bühne. Der Modernisierungsversuch von "Frankenstein" gerät dabei selbst ein wenig zu einem aus unterschiedlichsten Teilen collagierten Monster, thematisch spannt sich der Bogen von Pandora und ihrer Büchse als Strafe für die Menschheit über ein ganzheitliches Naturbild, Fragen nach Identität und genetischer Disposition, Schwangerschaft bis hinaus ins Universum und eben zum Dreh- und Angelpunkt: der Verantwortung der Wissenschaft, gerade was den Klimawandel angeht.
Hier gerät die Inszenierung fast schon allzu plakativ zum Manifest: Eine freie Wissenschaft wird gefordert, noch zwölf Jahre seien es bis zum Kollaps, bis dahin könne man ja vielleicht auch einfach mal in einen Gebärstreik treten. So wird dann die am Anfang eher verworfene Lesart des "Frankenstein" (Shelley beschäftige sich in dem Buch auch mit dem Verlust ihres Kindes) noch einmal in eine größere Idee eingebettet. Und am Ende, nun ja, sind eben alle ein wenig Monster.
Die wirbelnden Maryzellen
Spannend ist an "Frankenstein oder eine Frischzellenkur" selbstverständlich die Idee, Shelleys Roman ins Jetzt hinein zu deuten – und die Inszenierung zieht auch viele Fäden vom Jahr 1816 bis zur Bühne des Schauspiels Hannover. Dennoch wird eher grob collagiert als fein geklebt, wird eher Wert darauf gelegt, immer noch ein anderes Thema daraufzulegen als ein gerade angesprochenes und angedachtes zu vertiefen.
Und natürlich: Shelleys Roman ist ein reichhaltiges Werk, noch mehr, wenn man versucht, es neu zu lesen wie die Inszenierung es versucht. So scheint "Frankenstein oder eine Frischzellenkur" vielleicht ein wenig überwältigt von sich selbst zu sein – dem Bedürfnis, jedem kleinen Fädchen, jeder Idee noch hinterherzuhasten um herauszufinden, was sich dahinter verbergen könnte. Dabei kommt, klar, das eine oder andere rum, findet sich die eine oder andere Idee, die nachdenkenswert ist. Aber vieles fällt eben auch weg, wird mal kurz angedacht und verschwindet auf Nimmerwiedersehen im hektischen Umherwirbeln der Maryzellen.
Frankenstein oder eine Frischzellenkur
frei nach Mary Shelley
Regie: Clara Weyde, Bühne: Katharina Philipp, Kostüme: Clemens Leander, Musik: Thomas Leboeg, Dramaturgie: Barbara Kantel.
Mit: Nina Sarita Balthasar, Stella Hilb, Torben Kessler, Nils Rovira-Muñoz, Katherina Sattler.
Premiere am 14. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Clara Weyde zeigt "in sehr komischen 90 Minuten", wie die "Eltern-Kind-Beziehung" zwischen Frankenstein und seiner Schöpfung "gehörig außer Kontrolle gerät", berichtet Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (16.10.2021). Die von der Regie eingeführten "Maryzellen sind geschlechtslose Kindwesen, ständig plappernd, neugierige Welterkunder und Debattierer", die mit Texten von Stephen Hawking oder Donna Haraway den Zustand der Welt spiegeln.
"Eine Frischzellenkur ist der knapp anderthalbstündige Abend insofern, als er den einst so zukunftsweisenden Stoff ins Heute verlängert", schreibt Alexander Diehl in der taz (18.10.2021). Dabei entferne sich die Inszenierung weit "vom Pathos der Vorlage", wodurch auch "der Grusel, das ganze Generationen Entsetzende gern zurücktritt hinter teils enorm komisches Spiel, beinahe Slapstick". Als Ergebnis stehe ein "vielleicht nicht durchweg, aber immer wieder allerbeste Funken sprühen machende(r) Abend".
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