Neue Zeit, altes Spiel

28. November 2021. Das Remake eines einstigen Zeitgeiststücks: Ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen inszeniert Regisseur Alejandro Quintana das Drama von Alexi Kaye Campbell um verlorene, irrlichternde Menschen – und findet Authentizität vor allem im Würgegriff der Demenz.

Von Harald Raab

Die Geschichten verlorener Menschen © Anke Neugebauer

28. November 2021. Bühnenexperimente sind kein ausschließliches Privileg der Großstadttheater. Auch die Region kann sich was trauen. Hier wie dort darf dabei auch mal was schiefgehen. Ist ja kein Malheur. Den Beweis tritt das Theater Rudolstadt in Thüringen an. Premiere unter Corona-Beschränkungen hatte "Die Glaubensmaschine". Vor zehn Jahren am Londoner Royal Court Theatre war das Stück (Originaltitel: "The Faith Machine") des jungen Autors und Schauspielers Alexi Kaye Campbell bei der Uraufführung durchgefallen: Zu viel erhobener Moralzeigefinger, ein zu großer Problemmix: Diskriminierung der Homosexuellen, Rassismus, Zwangsprostitution, Verlogenheit der Kirchen. Von Anpassung aus Karrieregründen bis zum Paar-Clinch, von Altersdemenz bis zur Konkurrenz der Lover. Für jeden war was dabei. Zeitgeist-Hopping.

Die Welt aus den Fugen

Ein Jahrzehnt später. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Da wundert sich niemand mehr, dass alles auf einmal auf eine zutiefst desperate Gesellschaft einstürmt, Sicherheit ade. Alte Identitäten zerbröseln, neue drängen sich lautstark in den Vordergrund. Neue Zeiten, neues Spiel? Interessant ist allemal ein neuer Blick auf ein Zeitgeiststück von einst: Regisseur Alejandro Quintana klopft den alten Stoff auf Aktualität ab – und wurde nicht fündig. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist heute zwar Alltagserfahrung. Die Einheit von Zeit und Raum ist aufgehoben. Der Regisseur hatte jedoch keine Idee, wie sich aus dem schwerfüßigen Konversationsstück konsequent eine Studie der Charaktere und Gefühle, der Situationen und Überraschungen machen ließe. Dies wäre eine Möglichkeit gewesen: Das ins Bunte getauchte, rasch wechselnde Formenspiel eines Beziehungs-Kaleidoskops zu erschaffen. Stattdessen folgt er dem fülligen Text meist allzu sklavisch, wenig inspiriert, wenig spielerisch.

Facetten eines Lebensdramas

Das Familiendrama namens Menschsein ist längst zur Farce mutiert. Und als solche kann man diesen Stoff nur noch auf die Bühne bringen. Etwas Party-Gehampel, die sattsam bekannte Karikatur eines tuntigen Homosexuellen (Marcus Ostberg), eine radebrechende Ukrainerin (Ulrike Gronow) und sonstige Lustspiel-Stereotypen konterkarieren sogar die Political correctness, der sich das Stück sonst so vordergründig verpflichtet fühlt.

Es sind aber doch zwei Szenen dabei, in denen Authentizität gelingt und das Publikum spürt: Hier wird eine Facette ihres Lebensdramas verhandelt. Die eine ist, wenn Tochter Sophie (Anne Kies) den vormals als moralische Institution angehimmelten, jetzt dementen Papa die vollgeschissenen Windeln wechseln muss. Einst war Edward (Matthias Winde) anglikanischer Bischof, eine Autorität. Jetzt ist er ein hilfsbedürftiger Greis, in dessen Hirn Fetzen von Bibelweisheiten irrlichtern. Es ist vor allem die Darstellung eines Menschen im Würgegriff der Demenz, die zutiefst anrührt. Dieses Wechselbad der Gefühle zwischen zornigem Starrsinn – "Ich bin das Leben" – und abgrundtiefer Verzweiflung, wenn in lichten Momenten der Kranke realisiert, in welcher aussichtslosen Lage er ist und wie er die Liebe seiner nächsten Angehörigen strapaziert. Eine großartige Leistung von Matthias Winde in dieser Rolle. Ein sensibler Balanceakt zwischen Klammern an Rationalität und Verschwinden im Vergessen.

Glaubensmaschine 3 AnkeNeugebauer uPartygehampel der lebendigen Karikaturen © Anke Neugebauer

Der zweite Höhepunkt dieser Produktion ist die verunglückte Bettgeschichte von Sophie und Tom (Johannes Geißer), dem Mann, von dem sie nicht loskommt, der ihr aber nicht guttut. Beide barmen um Liebe, die sie sich nicht geben können, ringen um Verstehen, reden aber aneinander vorbei, als sprächen sie zwei fremde Sprachen. So zupackend sich Sophie sonst der Realität stellt, so sehr bleibt sie doch hilfloser Gutmensch auf verlorenem Posten, privat und sozial. In einer Gesellschaft des Fressens und Gefressenwerdens glaubt sie, Moral hochhalten zu können. Dabei geht ihre Beziehung zu Tom in die Brüche. Als Journalistin findet sie in Afghanistan den Tod.

So sind sie, die Verhältnisse

Kennengelernt hat sie ihre große Liebe, als Tom noch ein zu größeren Hoffnungen Anlass gebender Jung-Schriftsteller war. Als Werbetextfutzi muss er schließlich seine Gesinnung an einen Pharmakonzern verkaufen, der fragwürdige Versuchsreihen an afrikanischen Kindern vornimmt. Die Verhältnisse, die sind halt so. Und die Klischees auch. Gleichfalls in der Figur der Tatjana (Ulrike Gronow), die ihren Körper auf dem Sexmarkt feilbieten musste. Bischof Edward hat das gefallene Mädchen zu sich ins Haus geholt. Haushälterin konnte sie sich fortan nennen.
Familienbande feiern sattsam bekannte Urstände in diesem Stück. Damit das Remake zu neuen Erkenntnissen führen könnte, hätte Regisseur Quintana mutig mit Verdichtung und Verfremdung arbeiten müssen. Es sind zu selten packende Bilder, eindringliche Charakterstudien geboten. Der Spannungsbogen zum Publikum stellt sich folglich zu wenig her. Nur in den Rollen von Sophie und Tom gelingt, Zerrissenheit moderner Existenzen mit einem Spiel zwischen Ideal und Verlorenheit, Sehnsucht und Gefesseltsein im Hier und Jetzt eindringlich zu vermitteln. Es begegnen uns zwei, die am Leistungskredo gescheitert sind – zwei verlorene Menschen.

 

Die Glaubensmaschine
Von Alexi Kaye Campbell
Regie: Alejandro Quintana, Bühne und Kostüme: Andrea Eisensee, Dramaturgie: Michael Kliefert.
Mit: Johannes Geißler, Anne Kies, Matthias Winde, Marcus Ostberg, Ulrike Gronow, Benjamin Petschke, Laura Bettinger.
Premiere am 27. November 2021
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theater-rudolstadt.de

 

Kritikenrundschau

Das Figurenensemble bestehe aus recht schablonenhaften Charakteren, die oft als Exempel für die Ungerechtigkeiten dieser Welt stünden, bemerkt Ulrike Merkel von der Ostthüringer Zeitung (29.11.2021). Die Kritikerin hat den Eindruck, der Autor erzähle nur Episoden, die sich für die Veranschaulichung seiner politisch-moralischen Botschaften eignen. "Regisseur Quintana scheint es ebenfalls eher um die moralische Diskussion zu gehen denn um die Figurenzeichnung. Seine Inszenierung findet ihren Höhepunkt in Ausstattung und Bühnenbild."

"Ziemlich diskurslastig" fand ein enttäuschter Matthias Schmidt von MDR Kultur (28.11.2021) den Abend. Zu keiner Zeit springe ein Funke auf das Publikum über. Das liege zu einem großen Teil an einem Text, der alles auf einmal wolle. Man merke der Handlung an, dass sie englang einer Botschaft konstruiert worden sei. Selbst der "Theaterzauberer" Alejandro Quintana finde keinen fesselnden Zugriff für zweieinhalb Stunden Theater. Der Regisseur versuche den spröden Text aufzulockern, aber: "Es genügt leider nicht."

Das Stück scheitere an seinen Figuren, schreibt Lara Wenzel von nd-aktuell (29.11.2021).Die ukrainische Haushälterin sei nichts als das komische Element im tragischen Stück. "Das macht die einzige Arbeiterin zur tumben guten Seele des Stücks. Gegen diese Anlagen geht die Inszenierung nicht an. Dennoch überzeugt die Komplexität, mit der der Konflikt dargestellt wird, den die Hoffnung mit sich bringt."

Henryk Goldberg von der Zeitung Freies Wort (30.11.2021) sah "eine weithin kraftlose Moralmaschine am Wirken". Alexandro Quintana nehme den Text beim Nennwert und so sehe die Inszenierung ungefähr aus, wie der Text sich lese. "Will sagen, das Ensemble ist weithin genötigt, deutlich unter seinen Möglichkeiten zu arbeiten." Und weiter: "Sie scheitern nicht an ihrem Vermögen, sie scheitern am Unvermögen ihres Autoren, Menschen reden zu lassen wie Menschen. Und am dem des Regisseurs, diesem Text ein Stück interpretierendes, erzählendes Theater hinzuzufügen – was allerdings als eine kaum lösbare Aufgabe gelten muss, sofern man ihn ernstnimmt."

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