Bilder einer gestohlenen Zukunft

15. Januar 2022. Warum tun wir nicht mehr gegen den Klimawandel?, fragt Gernot Grünewald in seiner Stückentwicklung. Deutliche Antworten gibt sein Generationen-Ensemble aus Menschen zwischen 13 und 74 Jahren.

Von Elisabeth Maier

Alarmstufe Rot fürs Klima und die Eisbären: "2027 – Die Zeit, die bleibt" © Maximiian Borchardt

Mannheim, 15. Januar 2022. Zwischen künstlich grünen Topfpflanzen, halbvollen Plastikflaschen und Laptops sitzen die Menschen. Jede und jeder lebt seine tägliche Routine. Die eine kocht sich das Mittagessen, der andere streicht die Wände. Dahinter läuft auf einer riesigen Scheibe auf der Bühne des Mannheimer Schauspielhauses die Zeit auf der Carbon Clock ab. Diese Uhr des Mercator Research Institute of Global Commons and Climate Change zeigt an, dass der Menschheit noch rund sieben Jahre bleiben, bis unser CO²-Budget aufgebraucht ist.

In der Falle des wohlmeinenden Faktentheaters?

Ein Stück über die Gleichgültigkeit gegenüber der Klimakatastrophe haben der Regisseur Gernot Grünewald und sein Team entwickelt, mit 17 Menschen zwischen 13 und 74 Jahren. "2027 – Die Zeit, die bleibt" heißt die Produktion, die bereits am 14. März 2020 Premiere haben sollte. Damals ließ sich das Projekt im ersten Lockdown wegen der Corona-Pandemie nicht mehr zu Ende bringen. Und auch heute war bis zuletzt ungewiss, ob nicht die steigenden Inzidenzzahlen die Uraufführung ein weiteres Mal verhindern würden. Baden-Württembergs Kunstministerin Theresia Bauer, die ein Grußwort sprechen sollte, musste sich wegen eines Corona-Falls in ihrem Umfeld in Quarantäne begeben.

2027 1 v. li. Maria Munkert Nicolas Fethi Türksever Sophie Charlotte Arbeiter und Patrick Schnicke Maximilian Borchardt uKrisengespräch: Maria Munkert, Nicolas Fethi Türksever, Sophie Charlotte Arbeiter und Patrick Schnicke (v.li.) © Maximilian Borchardt

"Ich glaube, dass die Corona-Krise uns aufgezeigt hat, wie verletzlich die Gesellschaft ist ... und wie fragil das System Erde ist." Die Stimmen aus dem Off sprechen vielen aus der Seele. Wie leben wir im Jahr 2027? Diese große Frage steht über der Produktion. Und warum tun wir nicht mehr gegen den Klimawandel? In den zwei Jahren hat sich Grünewalds Haltung zu dieser Frage radikalisiert. Sich angesichts der beklemmenden Wirklichkeit aus der Falle des wohlmeinenden Faktentheaters zu befreien, fällt dem Regieteam nicht immer leicht. Statistiken über den weltweiten Energiebedarf, der bis 2050 um 50 Prozent steigen soll, klingen etwas trocken. Doch Maria Munkert schafft den Spagat, das Zahlenmaterial so zu präsentieren, dass die Inhalte doch ins Herz treffen.

Eine SARS-CoV-Fledermaus jagt aufgeschreckte Menschen

Den vier Schauspieler:innen ist es zu verdanken, dass der Abend trotz dokumentarischer Schwere nicht ins dröge Lehrtheater abdriftet. Nicht nur in politischen Diskursen vermitteln sie die Brisanz des Themas. Patrick Schnicke lässt sich auf der Bühne in die Luft ziehen. Ihren Traum vom Fliegen dürfen die Menschen weiterhin leben, auch wenn dadurch die Umwelt zerstört wird. Mit beißender Ironie kommentiert er so die Philosophie einer vermeintlich klimafreundlichen Wirtschaft, die dieser Tage gar die Ampel-Koalitionäre als selig machende Wahrheit preisen.

2027 2 Ensemble Maximilian Borchardt uZwischen Wohlstandskram: das Ensemble © Maximilian Borchardt

Nicolas Fetih Türksever schlüpft in die Rolle einer Fledermaus, die das SARS-CoV-Virus verbreitet und aufgeschreckte Menschen über die Bühne jagt. Mit solchen Fantasiekostümen evoziert Günter Lemke ein Alptraum-Szenario. Auf Michael Köpkes Bühne sind die Menschen in ihren kleinen, egoistischen Lebensentwürfen gefangen. Immer wieder zeigt der Videokünstler Thomas Taube ihre Gesichter in Detailaufnahmen, die auf die große Scheibe projiziert werden. So entlarvt er die entsetzliche Ratlosigkeit in dieser Zeit.

Das Generationen-Ensemble glänzt mit ehrlichen Statements

Unter die Haut geht die Performance von Sophie Arbeiter, die einzelne Akteurinnen und Akteure auf der Bühne adressiert und ihre Tatenlosigkeit hinterfragt: "Jetzt erzähl' doch mal, Ulla, warum fällt es Dir so schwer, neue Handlungsmöglichkeiten zu denken?" Dass es längst fünf vor zwölf ist, haben gerade die Kinder im Ensemble der Bürgerinnen und Bürger begriffen: "Wenn Ihr aufgepasst hättet, müssten wir jetzt nicht die Verantwortung übernehmen. Ihr benehmt Euch wie Kinder und erwartet von uns, dass wir uns wie Erwachsene benehmen." Die Worte von Alex zeigen die Verzweiflung der jungen Generation, der die Wohlstandsgesellschaft ihre Zukunft raubt. Die Pandemie bremst auch ihre Fridays-For-Future-Bewegung.

Gernot Grünenwalds Stückentwicklung über die Klimakatastrophe kann den Ballast des Betroffenheitstheaters nicht immer abwerfen. Dennoch gelingt es dem Künstler, das Publikum mit seinen politischen Diskursen auch auf einer sinnlichen Ebene zu packen. Seine Bilder einer gestohlenen Zukunft überzeugen. Nicht nur die Profi-Schauspieler, auch das Generationen-Ensemble aus der Stadt Mannheim glänzt mit ehrlichen Statements. Mit der utopischen Hoffnung, dass sich die Katastrophe doch noch aufhalten ließe, entlässt Grünewald dem Publikum jedoch nicht. Am Ende übernehmen wilde Tiere die schreckliche neue Welt, von der sich die Menschen längst verabschiedet haben.

2027 – Die Zeit, die bleibt
Versuch über die Klimakrise
Uraufführung
Regie: Gernot Grünewald, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Günter Lemke, Musik: Daniel Sapir, Video: Thomas Taube, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer.
Mit: Sophie Arbeiter, Maria Munkert, Patrick Schnicke, Nicolas Fetih Türksever und dem Bürger:innen-Ensemble Monika Altnöder, Hubert Bardenheuer, Keona Buvari, Mia Aurora Claus, Florian Ederle, Melina Gebhardt, Sönke Hoffmann, Hana Kadrija, Ina Krehbiel, Zofia Luczynska, Jan Henri Müller, Edi Schlüter, Marlit Schölch, Anna Struve, Hermann Theisen, Nils Urbanus, Ulla Zellmann-Seyfferth.
Premiere am 14. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

"Für das Stück haben Grünewald und die Ensemblemitglieder gründlich recherchiert und die Fakten geschickt zu einem 100-minütigen Theaterabend verdichtet", schreibt Volker Oesterreich von der Rhein-Neckar-Zeitung (17.1.2022). Jedoch: "Zeigefingerndes Dokumentartheater ist nicht immer bühnenwirksam, es raschelt wie ein Papiertiger. Das weiß man seit Rolf Hochhuth und Heinar Kipphardt, den Altvorderen dieser Spielart. Psychologie, Schauspielkunst und sprachliche Finesse werden dabei zugunsten der mahnenden Botschaft verdrängt. Schade eigentlich."

Gernot Grünewald wechselt aus Sicht von Sabine Leucht in der taz (18.1.2022) "als gewiefter theatraler Projektentwickler wiederholt die Erzähl- und ästhetischen Modi, die Blickwinkel auf und den Abstand zum eigentlich gruselthrillertauglichen Stoff. Mal verblüfft einen das unverhohlene Pathos und Betroffenmachenwollen der in den Zuschauerraum gefeuerten Fragen, mal lernt man Neues, etwa über die nie gebaute CO2-Abscheideanlage, der das Mannheimer Großkraftwerk GKM seine Betriebsgenehmigung verdankt." Grundsätzlich kann sie dem Abend etwas abgewinnen, da er für sie plastisch macht, "was die Entwicklung auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene lähmt: die Komplexität des Ganzen und die Macht der Gewohnheit."

Einen "Weckruf an die, die noch diskutieren statt handeln wollen", sah Ralf-Carl Langhals vom Mannheimer Morgen (15.1.2022) primär in Gernot Grünewalds Stückentwicklung zum Klimawandel. Zwar komme in dem "politischen und auf Lokalebene sogar brisanten Diskurs" durchaus auch Poesie auf. Aber, so stellt der Kritiker fest: "Dieses Theater buhlt um Betroffenheit, auch das Etikett Agitprop kann man ihm stellenweise nicht ersparen."

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