Bombenanschlag auf das Hochzeitsfest

5. Juni 2022. Der syrische Klarinettist und Komponist Kinan Azmeh hat auf Basis von Gedichten das interdisziplinäre Musiktheaterstück "Songs for Days to Come" entwickelt, in dem es um die jüngere Geschichte Syriens geht. Ulrich Mokrusch hat das Werk am Theater Osnabrück in Kooperation mit dem Morgenland Festival inszeniert. 

Von Kai Bremer

"Songs for Days to Come" am Theater Osnabrück, von links: Kinan Azmeh, Jan Friedrich Eggers, Dima Orsho © Stephan Glagla

4. Juni 2022. Vor einer Wand aus offenbar versengten und mit Einschusslöchern versehrten rechteckigen Metallplatten sitzt Sami (Jan Friedrich Eggers) auf einem Stuhl mit fragendem Blick. Aus dem Orchestergraben erklingen erste romantische Akkorde, die rasch von orientalischen Vierteltönen durchbrochen und schließlich durch einige Dissonanzen aufgelöst werden. Quer über die Bühne schreitet der syrische Musiker und Komponist Kinan Azmeh mit seiner Klarinette und setzt sich an den rechten Bühnenrand. Er hat "Songs for Days to Come" konzipiert und komponiert, nachdem er vor einigen Jahren schon drei Liederzyklen mit dem gleichen Titel zu Gedichten zeitgenössischer syrischer Lyriker:innen vorgelegt hatte. Für die Osnabrücker Premiere hat Azmeh "Songs for Days to Come" nun zum Musiktheater weiterentwickelt, indem er die Lieder zu einer Handlung verknüpft hat.

Nachdem sich Azmeh gesetzt hat, versucht Eggers Sami seine Erinnerung in den Griff zu bekommen, vielleicht zu ordnen, vielleicht aufzuarbeiten. Er spricht mit einer namenlosen Frau (Sascha Maria Icks), die bemerkenswert viel über ihn zu wissen scheint. Ausgehend von diesen Gesprächen werden Episoden aus Samis Leben seit 2011 erzählt – Episoden, die zugleich an den frühen Widerstand in Damaskus gegen den syrischen Machthaber erinnern und den Krieg szenenhaft zusammenfassen. So entsteht allmählich der Eindruck, dass Sami trotz einiger Ungereimtheiten eine Art Jedermann ist. Das gilt zumal, weil schon zu Beginn auf arabisch das Gedicht "Mein Vater" von Ramy Al-Asheq zu hören ist, dessen projektierte Übersetzung lautet: "Mein Vater war weder Informant noch Militär. / Weder Dichter noch Revolutionär. / Er war ganz normal."

Szenen aus einem früheren Leben

Musikalisch werden die Szenen sehr vielfältig gestaltet. Zwar gibt es einzelne Kriegsszenen die etwas erwartbar mit Marschtrommel und Fanfarentönen illustriert werden. Meist aber erklingt ein komplexes In- und Miteinander verschiedener musikalischer Traditionen, das für die jeweilige Episode aus Samis Leben unterschiedliche Ausdrucksformen findet.

Songs for days to come 4 StephanGlagla uErinnern: Jan Friedrich Eggers als Sami in "Songs for days to come" © Stephan Glagla

Kinan Azmeh sowie der Oud-Spieler Issam Rafea, der am linken Bühnenrand sitzt und zusammen mit dem Klarinettisten und der Sängerin Dima Orsho auch als Trio auftritt, bilden dabei akustisch zwei Anker, die das hervorragende Spiel des Osnabrücker Symphonieorchesters sowie den Gesang der übrigen Sängerinnen und des Opernchors (musikalische Leitung Daniel Inbal) immer wieder herausfordern und dadurch zu Höchstleistungen antreiben.

Blut am Hochzeitskleid

Als Sami heiratet, verlassen Azneh und Rafea ihre Plätze am Bühnenrand und spielen als Musikanten zum Fest auf. Doch nicht nur ihr ausgelassenes, wohl ein arabisches Hochzeitslied, variierendes Spiel ist von kurzer Dauer. Sami verliert während der Feier seine Frau nach einem Bombeneinschlag, auch die meisten anderen Gäste sterben. Der daraufhin einsetzende Trauergesang von Dima Orsho gehört zu den ergreifendsten Momenten des Abends. Gleichzeitig wirft er jedoch die Frage auf, ob einige außergewöhnliche Musiker:innen und ein paar große Gefühle wirklich ausreichen, um sich künstlerisch einer der größten Tragödien der letzten Jahre zu nähern.

Songs for days to come 3 StephanGlagla uTrauergesang © Stephan Glagla

Schon früh lässt die Inszenierung ahnen, dass Samis Geschichte nicht die ist, die sie zu sein scheint. Die Musik spielt permanent mit Erwartungen und bricht sie, wenn etwa Rafeas Spiel auf der Oud ein traditionelles Lied anzustimmen scheint und es plötzlich mit einigen Blue Notes variiert. Auch die Bildsprache der Inszenierung, für die der Osnabrücker Intendant Ulrich Mokrusch zusammen mit den Bühnenbildner:innen Okarina Peter und Timo Dentler verantwortlich ist, lässt früh eine Ahnung davon aufkommen, dass das, was zu sehen ist und wovon Sami erzählt, keine Opfergeschichte ist, die harmonisch von ein paar Elegien gerahmt wird.

Wahrnehmung ist manupulierbar

Sami arbeitet zu Beginn im Büro vor einem Aktenberg. Während er versucht, der Papierberge Herr zu werden und die Bittsteller vor seiner Tür zu verscheuchen, beginnen fratzenhafte Figuren, aus den Spinden um ihn herum auszubrechen. Weniger surreal als diese Bilder, aber gleichwohl irritierend sind auch die Warntöne und Ansagen der Berliner S-Bahn, die gegen Ende der Inszenierung zu hören sind. Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass der syrische Jedermann nach langer Flucht in der deutschen Hauptstadt angekommen ist.

Schließlich aber wird – zumindest wenn den letzten Klängen, Versen und Bildern zu trauen ist – deutlich, dass Sami selbst der längst tote Diktator ist. Mit dieser trotz aller Spuren und Andeutungen überraschenden Wende wirft die Inszenierung abschließend die Frage nach der Zuverlässigkeit von Wahrnehmungen und damit auch auf artifizielle Weise nach der Manipulierbarkeit von Sympathien auf. Zeitgemäßer kann Musiktheater derzeit wohl kaum sein.

 

Songs for Days to Come
Uraufführung interdisziplinäres Musiktheater
von Kinan Azmeh
Libretto: Liwaa Yazij und Mohammad Abou Laban, Musikalische Leitung: Daniel Inbal, Inszenierung: Ulrich Mokrusch, Bühne und Kostüme: Okarina Peter und Timo Dentler, Choreinstudierung: Sierd Quarré, Dramaturgie: Juliane Piontek.
Mit: Kathrin Brauer, Susanna Edelmann, Jan Friedrich Eggers, Silvio Heil, Heike Hollenberg, Sascha Maria Icks, Stefan Kreimer, Dima Orsho, Olga Privalova, Julie Sekinger, Susann Vent-Wunderlich, Manuel Zschunke. Musiker:innen: Solo-Klarinette: Kinan Azmeh, Solo-Oud: Issam Rafea, Opernchor des Theaters Osnabrück, Osnabrücker Symphonieorchester
Premiere 5. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.theater-osnabrueck.de

 

Kritikenrundschau

"Kreisende Pattern der Minimal Music treffen auf musikalischen Breitwand-Sound, Kinan Azmeh mischt auf seiner musikalischen Farbpalette die Hemisphären seiner künstlerischen Sozialisation", schreibt Ralf Döring in der Neuen Osnabrücker Zeitung (5.6.2022). Der musikalische Leiter Daniel Inbal habe es hörbar geschafft, das Orchester für dieses fremde Terrain zu begeistern. "Was aus dem Orchestergraben und auf der Bühne erklingt, mutet neu und gleichzeitig vertraut an." Eine hohe Wand aus goldschimmernden Platten begrenze die Bühne von Ulrich Mokruschs Inszenierungen, die mit sparsamen Mitteln auskomme. "Das passe zum Ansatz, den Gedichten eine universelle Dimension über den Syrienkrieg hinaus zu verleihen." Fazit: "Mokrusch hebt das auf ein Abstraktionsniveau, das einen auch mal in Ratlosigkeit zurücklässt. Trotzdem erzählt die Regie eine nachvollziehbare Geschichte, die niemanden unberührt lässt."

"Um von unsagbaren Grauen zu berichten, muss man die Sprache erst neu erfinden", darum sei der Abend nicht einfach eine Oper, so Stefan Arndt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (7.6.2022). "Der Bürgerkrieg, der seit 2011 in Azmehs Heimat tobt, ist der Hintergrund, vor dem der Komponist ein düsteres und doch erhellendes Panorama aufspannt von der Welt als Schlachtfeld." Dafür habe er eine Form entwickelt, die in mehrfacher Hinsicht überraschend ist. Ulrich Mokrusch versinnbildliche das mit einem Bühnenbild, bei dem sich nach und nach Türen öffnen, die nicht ins Freie führen, sondern tiefer hinab ins finstere Herz der Hauptfigur. "Songs for Days to Come" spannt sich in einem weiten musikalischen Koordinatensystem auf "mit großen Ensembleszenen, ergreifenden Arien und ausdrucksstarker, atmosphärisch dichter Orchesterbegleitung." Durch die Zusammenarbeit des Morgenland Festivals mit dem Theater sei etwas Großes entstanden.

"Ethisch mag der Abend wertvoll sein, inszenatorisch ist er es nicht", urteilt Harff-Peter Schönherr in der taz (9.6.2022) Als Nummernrevue hätten Kinan Azmehs Songs funktioniert: "Für eine Experimental-Oper ist sie zu dünn." Zwar seien die Komposition "suggestiv und lautmalerisch", die Gedichte "kraftvoll und wortmächtig", das Orchester "präzise und feinnervig". Aber insgesamt wirke der Abend "fehljustiert, unfertig". Schönherrs Beispiele: "Jemand schießt sich mit einer schweren Pistole in den Kopf, ohne Schussknall: Laientheater. Jemand raucht eine Zigarette, ohne sie anzuzünden: vernünftig, aber albern. Jemand bückt sich verzweifelt nach einem Toten, rückt dabei aber sorgfältig seine Bügelfalte zurecht: Rollenbruch."

Das Stück handle an der Oberfläche von Syrien, weise aber weit darüber hinaus, so Hanns Butterhoff von der Westfälischen Allgemeinen (9.6.2022). Die ergreifenden Lieder "zeichnen ein poetisches, unsentimentales Bild der Gefühle von Syrern im Land und im Ausland, von Fremdheit, Trauer und einer Sehnsucht, die sich von Damaskus bis Berlin spannt". Ulrich Makrusch habe "sehr geradlinig und mit viel Gefühl für die über Syrien hinaus gültigen Aussagen inszeniert".

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