Zeit-Ringelspiel um einen Kuss

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 9. Oktober 2009. Ein Kuss zwischen zwei Kindern: Tändelei oder Übermut, halb ernste Nachahmung von Erwachsenen, erwachende echte Gefühle? Wer will das schon wissen? Und wer will sich überhaupt daran erinnern - vielleicht nicht einmal die beiden, wenn sie fünfzehn, zwanzig Jahre später nebeneinander auf einem Bett liegen und rauchen. Oder noch einmal eine Generation später, wenn sie im Greisenalter zurückblicken auf diesen uralten Super-8-Film?

Schwindelig könnte einem werden, wenn man so in die Vergangenheit schaut und der Amateurfilm (von Kindern gedreht noch dazu) ruckelt und zuckelt – improvisiert eben wie so vieles, was sich an Unmöglichem findet in Kartons irgendwo auf dem Dachboden.

Paraphrasen auf die Kinder, die sie einst waren

Dem argentinische Theatermann Federico León kam das Originalmaterial gelegen, und es kamen ihm die Leute im Wortsinn doppelt entgegen. Die hatten nämlich in den siebziger Jahren beschlossen, eben diese Filmszenen, ihre Super-8-Sünden aus unbeschwerten Kindertagen, noch mal zu drehen, als kleine Paraphrasen auf sich selbst. Das Klavier, an dem eines der Mädchen damals saß, ist jetzt eine (aus heutigem Blick auch schon wieder reichlich altmodische) Elektronenorgel. Der Kuss ist mutiert zur routinierten Begrüßungsgeste.

Aber immerhin: Die Protagonisten von einst haben sich die Mühe gemacht, noch mal in ganz ähnliche Klamotten zu schlüpfen. Unterdessen drehen auch Amateure schon in Farbe. Die Kamera können sie freilich noch immer nicht ruhig halten, eine Konstante im schmal-filmischen Zeitspiel. Und Super-8 gab auch in den Siebzigern noch das "Laien-Format" vor. Die drei haben also sinniert, wie es damals gewesen sein könnte. Und es ist ihnen natürlich deutlicher als in Kindertagen die Frage bewusst geworden, wie sie darüber wohl in der Zukunft denken mögen. "Yo en el futuro", ich in der Zukunft – ist das überhaupt eine Denk-Option? Schnell sind wir auf philosophischen Schlingerwegen.

Vexierbilder aus Filmschnipseln

Aber vor solchen bewahrt uns der minimalistische Theaterzauberer Federico León. Er stellt neun Protagonisten und ein Klavier auf die Vorbühne eines Kinos. Das Grazer "Orpheum", jetzt Festivalzentrum des "steirischen herbst", war selbst so eine Mischung aus Kleinkunstbühne und Filmtheater (in Argentinien ist das angeblich noch gang und gäbe). Da lässt sich zwanglos Theater und Film verschneiden.

Auf die Vorbühne also kommen drei mal drei Vertreter je einer Generation. Schnell hat man heraus, dass es dieselben Figuren sind. Es entstehen Vexierbilder aus originalen Filmschnipseln, aus nachgedrehtem Material und aus dem Live-Spiel. Das ist weniger Spiel als Zappen. Echtes Material und Paraphrase sind gedanklich tollkühn, aber formal völlig unaufgeregt vermixt. Die Alten fordern die Kinder – eigentlich sich selbst als Kinder! – auf, die gleichen kleinen Szenen zu wiederholen. Beim Kuss zögern die Halbwüchsigen lange.

Nur mit dem Finger angetippt

Das alles passiert mit ganz wenigen Worten, geradezu mit einem Nichts an Dialogen. Man schaut auf die Leinwand, man verharrt, man imitiert zaghaft oder spontan, lustvoll oder verlegen. Das will keine Geschichte sein und endet so beiläufig, wie es begonnen hat. Die leise Poesie von argentinischen Filmemachern à la Eliseo Subiela fällt einem spontan ein dazu – aber Federico León ist ja wieder eine andere Generation (geboren 1975), und vor allem ist er doch mehr Theatermann als Filmemacher, wenn auch im künstlerischen Crossover zuhause.

Gegen Ende der dreiviertelstündigen Performance gibt es eine Szene, in der plötzlich die Live-Darsteller vor sich selbst im Film stehen. Aufnahmen von der realen Bühnensituation soeben, nun krebsläufig also rückwärts gespielt. Da kippen die Zeitebenen endgültig, das Reale verschwimmt mit den Film-im-Film-Verschnitten: ein Zeit-Ringelspiel. Federico León ist kein Philosoph, der seine Ideen marktschreierisch vor sich her trägt und seinem Gegenüber Gedanken aufzwingt.

Von ihm wird man eher sanft mit dem Finger angetippt und ganz unaufdringlich dazu verleitet, über sich und seine Position in der Zeit nachzudenken. Eine komplexe Komposition und zugleich ein sehr liebenswerter Abend, der mit großer Leichtigkeit die Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit thematisiert und sich dabei ganz auf den Charme seiner Darsteller verlassen kann.

 

Yo en el futuro/ Ich in der Zukunft (ÖE)
von Federico León
Regie: Federico León, Kostüme: Valentina Bari, Bühne: Ariel Vaccaro.

www.steirischerherbst.at

 

Kritikenrundschau

"Was nach einem komplexen, gar spröden theatralen Versuchsaufbau klingt", verwandele der argentinische Theater- und Filmemacher Federico León "mit großer poetischer und bildlicher Kraft in ein raffiniertes Vexierbild, durch das wir Zeiten und Charaktere, Wirklichkeit und Film durchdringen, bis schließlich sogar der Zuschauerraum zum Teil seiner Fiktion wird", wird in der Kleinen Zeitung (10.10.) geschrieben. Argentinische Live-Shows nehme der Regisseur für "Yo en el Futuro" zum Ausgangspunkt für seine Erzählung, die "ein verblüffendes Generationen-Spiegel-Spiel" damit sei, "wie die Vergangenheit sich auf die Gegenwart auswirkt und wie die Gegenwart die Vergangenheit neu erfindet".

 

 

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