Ein Kommentar zur Preisentscheidung beim Young Directors Project in Salzburg
Selbsterfahrungstrip für die Ultra-Sensibelchen
von Reinhard Kriechbaum
Salzburg, 24. August 2011. Ein mutiges Statement zu einer amerikanischen Theatergruppe, zum New Yorker The Team und seinem unorthodox-popkulturellen Zugang zur Geschichte und Fortschrittsideologie des eigenen Landes – das wäre eine Option gewesen. Die radikale Performance von Signa in einer Privatvilla, die den Zuschauer in ein Klima des Entsetzens um Osteuropa-Frauenhandel hinein katapultiert, eine andere. Aber Freunde, nicht solche Töne! Auch nicht in der Theater-Schmuddelecke der Salzburger Festspiele, wo ja eigentlich Narrenfreiheit herrscht!
Der Preis beim Young Directors Project ist am heutigen Mittwoch für jene Produktion vergeben worden, mit der man Balsam auf die heuer in einigen freien Theaterproduktionen ach so arg malträtierten Seelen gestrichen hat: "Symphony of a Missing Room" von dem Duo Christer Lundahl/Martina Seitl (Stockholm/London), ein Selbsterfahrungsprogramm für die Ultra-Sensibelchen.
Im ersten Moment fühlt man sich schon etwas allein gelassen im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg. Die weiße Augenmaske lässt einen nicht mehr als Hell und Dunkel unterscheiden. Aber da kommt auch schon die Vertrauen spendende Stimme aus den Kopfhörern, die man bereits vorher kennenlernen durfte. "Come" oder "Turn around" …
Und man spürt feingliedrige Finger, zarte Frauenhände, die einen geleiten, aber meistens so schnell wieder weg sind, wie man sie erhascht hat. Kein lautes Wort, höchstens hallende Schritte. Gemurmel, das näher kommt oder sich entfernt. Räume, die akustisch ins Unermessliche wachsen oder die so niedrig scheinen, dass man den Kopf einzieht und in die Knie geht. In einer Episode bläst einem der Wind ins Gesicht, man hört Vogelgezwitscher und die führenden Hände fühlen sich an, als ob die Dame davonfliegt. Die Lichtquelle ist unten, ist man schon über der Sonne unterwegs? Doch auch Wolke sieben fühlt sich an den Fußsohlen nach Museums-Estrich an. Schon ein wenig ernüchternd.
Von guten Mächten treu und still umgeben
Sonderbar eigentlich, wenn im Museum ausgerechnet der Sehsinn weggeblendet wird. Aber Lundahl/Seitl haben sich gerade dabei etwas gedacht: Erwarte das Unerhörte – auch ein Museum ist nicht so total leise, wie man es vielleicht empfindet. Und die imaginäre Reise geht ja bald hinaus, kommt einem vor: Die Türen ächzen und quietschen wie jene von einer Scheune. Das akustische Environement – technisch perfekt abgemischt – passt in vielerlei Umgebungen. Einmal darf man die Wand antasten. Kunstwerke zum Begrapschen scheint es in diesem Museum nicht zu geben, die sind wohl verloren gegangen wie der Raum und seine Funktion selbst.
Wer gut aufgepasst hat, der konnte manchmal erkennen, das Sein und Schein auseinanderklaffen, dass die klang-imaginierten Räume irreale Komponenten haben. Aber das ist was für die Spitzfindigen. Bonhoeffers Gedicht "Von guten Mächten treu und still umgeben" kommt mir in den verdunkelten Sinn. Lust, nicht nur den gereichten Finger, sondern wenigstens die ganze Hand zu ergreifen. Aber das spielt es nicht.
Das also war der gemeinsame Nenner, auf den sich die Jury – von Theaterseite mit Birgit Minichmayr und Klaus Maria Brandauer besetzt – hat einigen können. Die Produktion überzeuge durch die "hohe Qualität der Gedanken, der Konzeption, der Mitwirkenden und der Ausführung". Mehr Allgemeinplätze gehen nicht? Doch: "Die poetische Führung und Verführung in Phantasiewelten und eigene Innenräume wird zum Gesamterlebnis für einen selbst."
Immersives Theater
Bei der Preisverleihung hat man sich gar nicht eingekriegt vor lauter Eigenlob darüber, mit dem Mitmach-Theater ("immersives Theater", sagt man klug) und vor allem mit Produktionen, die im Teamwork entstehen, ganz vorne dran zu sein. Letztere Tendenz war dem scheidenden Schauspielchefs der Festspiele, Thomas Oberender, und seiner Kuratorin Martine Dennewald zu verdanken, die das Young Directors Project heuer ebenfalls zum letzten Mal betreut hat.
Gespannt darf man sein, wie sich das Projekt – ein Fördervertrag mit Montblanc für weitere drei Jahre (mit Option auf fünf Jahre) ist unterzeichnet – weiterentwickeln wird. Der größte Haken im Moment ist die internationale Weitschweifigkeit. Um eine schärfere Profilbildung wird Sven-Eric Bechtolf, ab nächstem Jahr Leiter des Schauspiels, nicht umhinkommen. Wird man weiterhin im Trüben fischen und leise hoffen, wirklich frische Fische zu angeln? Eine Gruppe wie Signa auf der Schiene vermeintlich zu entdeckender Newcomer zu verkaufen, ist eher frivol.
Nicht Plüschsessel-tauglich
Für die Verleihung hat man den Off-Festival-Macher Matthias von Hartz zu einem Impulsreferat geladen. Wie zu erwarten eine klare Position für die freien Gruppen: Wir haben "das reichste Theatersystem der Welt, und trotzdem findet Zukunft woanders statt". Neunzig Prozent des Geldes fließe in die Stadt- und Staatstheaterlandschaft, aber von dort "kommen nur zehn Prozent der Innovation" (siehe auch von Hartz' Beitrag zur Debatte um die Zukunft des Theaters auf nachtkritik.de). Anderswo – etwa in Holland oder Belgien – fördere man "Kunst und nicht Architektur" (im Sinn von Institutionen in herkömmlichen Theaterbauten).
Keine Frage, von Hartz hat recht. Aber sind ausgerechnet die Salzburger Festspiele der rechte Ort für solche Überlegungen? Immerhin zeigten die Erfahrungen der letzten Tage, dass zum Young Directors Project nicht nur "Eingeweihte" kommen, sondern dass sich auch "gewöhnliches" Festspielpublikum zur einen oder anderen Aufführung verirrt hat. Heute Riccardo Muti und Verdis "Macbeth", morgen Signa? Wer Plüschsessel und Guckkastenbühne erwartete, für den war es ein Schock. Ob ein heilsamer, bleibe dahingestellt.
Die Produktionen des Young Directors Project 2011:
A Game of You von Ontroerend Goed
Das ehemalige Haus von Signa
Mission Drift von The Team
Symphony of a Missing Room von dem Duo Christer Lundahl/Martina Seitl
"The Dinner Club – Salzburg Classes" von Poste Restante
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Das Ganze findet dann in einem vollkommen geschützten Kunst/Theaterkontext statt und verliert dadurch jede Kraft. Aber gut, da hätte man dann den Durst gestillt, doch endlich mal wieder etwas "Politisches" gesehen zu haben.
Als ob man solchen Themen wie dem (osteuropäischen) Frauenhandel mit so einer Betroffenheitsperformance gerecht werden würde. Aber vielleicht geht es darum ja auch gar nicht.