Gertrud - Ein Fin-de-Siècle-Drama von Hjalmar Söderberg in Rendsburg ausgegraben
Die Frau mit Mehr
von Matthias Weigel
Rendsburg, 13. Februar 2012. Der Rendsburger Merkwürdigkeiten gibt es einige zu berichten. Nicht nur, dass hier der Theaterraum als sporadische Spielstätte des Landestheaters Schleswig-Holstein immer leicht leblosen Stadthallen-Charakter ausstrahlt. Mit Hjalmar Söderbergs Drama "Gertrud" (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Text von Einar Schleef) hat Regisseur Reinhard Göber auch ein äußerst selten gespieltes Stück eines Autors ausgegraben, der eine Art schwedischer Arthur Schnitzler ist. Ein Stück, welches er mit durchaus modernen Mitteln auf die Bühne bringt – die allerdings etwas planlos eingesetzt werden. Vor einem Publikum, das – der Aussage meiner älteren Sitznachbarin zufolge – zwar eigentlich lieber "einen Don Carlos sieht", sich aber dann von nackter Haut und Vergewaltigung nicht aus der Ruhe bringen lässt. Da fängt ein Zuschauer, der eine der Requisiten-Zeitungen auffängt, auch schon mal an, in Seelenruhe die Saturn-Anzeigen durchzublättern. Heiner Müllers "Hamletmaschine" kommt auch noch vor. Und schließlich nicht enden wollender Applaus.
Emanzipation mit allen Mitteln
"Gertrud" ist ein Emanzipations-Stück in der Tradition von Ibsens "Nora". Die Sängerin Gertrud (Maria Steurich) will ihre erkaltete Ehe beenden, weil Ehemann Gustav (Reiner Schleberger) zwar Aussicht auf einen Ministerposten hat, ihn aber sonst nicht viel interessiert ("Was werden nur die Zeitungen...!"). Dem in die Stadt zurückkehrenden ehemaligen Liebhaber gibt sie auch keine zweite Chance, dem schon früher stets seine Karriere am wichtigsten war. Bleibt der Pianist Erland (Manuel Jadue), mit dem Gertrud zwar eine Affäre hat, aber nur solange, bis sie realisiert, dass sie lediglich seine unverbindliche Gespielin ist.
In Rendsburg ist wird nun Gabriel zum Beispiel zur Gabriela: Der Liebhaber von früher ist eine ehemaligen Liebhaberin (Yevgenia Korolov), soviel muss Gender-mäßig schon drin sein. Auf der eskalierenden Feier, bei der alle aufeinandertreffen, wird Wodka-Orangensaft aus Eimern geschlürft. Als Ehemann Gustav vom neuen Liebhaber erfährt, vergewaltigt er Gertrud auf dem Klavierhocker, woraufhin Minuten später alle wieder zusammen zur Disko-Mucke abtanzen. Irgendwann gibt schließlich jeder Party-Gast noch seine Version der Linken-Hymne Bella Ciao zum besten, Gabriela gleich in Unterwäsche, wohl der größeren Überzeugungskraft wegen.
Diese und noch mehr solcher Einfälle werden munter aneinander gereiht. Zwar führen sie nirgendwo hin, wissen auf ihre spezielle Art jedoch zu verblüffen. Ohne sich zu schonen werfen sich die Schauspieler in die Erfüllung des Auftrages, der da heißen könnte: Mischt Rendsburg mit Theatermitteln auf! So wird es zwar nicht langweilig, ein gesellschaftspolitischer Aspekt des Emanzipationsstückes geht aber völlig verschütt.
Die der Fluß nicht behalten will
Maria Steuerich als Gertrud steht als einzige psychologisch-realistisch Leidende schon deshalb im Zentrum. Die anderen Figuren hacken mehr oder weniger ungelenk auf sie ein. Doch selbst Gertruds Faden zieht sich nicht durch, auch sie unternimmt von Zeit zu Zeit Ausflüge ins Komödiantische. Das Rendsburger Ensemble schafft auf wunderbare Weise das Kunststück, die ganze Geschichte nicht richtig ernst zu nehmen, ohne dabei ironisch zu werden.
Zum kulinarischen Höhepunkt des Abends kommt es spätestens, wenn Heiner Müllers "Hamletmaschine" durchs Rendsburger Haus hallt. "Solch Poesie wird heutzutage nicht mehr geschrieben", klagt Gustavs Schwester (gespielt von Annett Kruschke; u.a. Volksbühne, Lindenstraße) um schließlich – natürlich anders als bei Söderberg – zu rezitieren: "Ich bin Orphelia. Die der Fluss nicht behalten will. Die Frau am Strick..." – Gustav: "Das will doch heute eh keiner mehr hören."
Am Ende ist Gertrud schließlich stark und geht von dannen. Alle drei Beziehungen lässt sie locker hinter sich. Ehemann Gustav bleibt als elendes Häufchen zurück, von der (unbeliebten) Schwester getröstet: "Jetzt mag dich auch keiner mehr." Dazu Musik von Rammstein.
Gertrud
von Hjalmar Söderberg
Inszenierung: Reinhard Göber, Ausstattung: Ariane Salzbrunn, Dramaturgie: Bettina Schuster.
Mit: Reiner Schleberger, Maria Steurich, Annett Kruschke, Manuel Jadue, Yevgenia Korolov.
www.sh-landestheater.de
Dieser Text ist Teil eines Projekts von nachtkritik.de und der Hamburger Zeitstiftung: eine Schwerpunktberichterstatttung aus den Theaterlandschaften in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Alle in diesem Zusammenhang bereits erschienenen Texte hier.
"Kraftvoll sind die Bilder, die der Regisseur für dieses Drama der Liebeskatastrophen gefunden hat", so Sabine Christiani für den Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag (15.2.2011). Der zeitlos moderne Stoff werde in einer schlüssigen Inszenierung gezeigt, besonders hervorgehoben wird die gelungene Darstellung des kaputten Ehepaares, bei dem jeder in seiner eigenen Welt gefangen scheint.
"So entschlossen der Regisseur mit den Traditionen des skandinavischen Realismus bricht, so wenig entschieden gelingt es seinen Protagonisten, ihre Figuren neu zu erfinden", schreibt Christoph Munk in den Kieler Nachrichten (15.2.2011). Die zentrale Frage - wird Getrud Mann und Liebhaber hinter sich lassen - wolle die Inszenierung nicht beantworten. So bleibe der Abend "ohne wirklichen Erkenntnisgewinn".
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Dazu höre ich eine Überheblichkeit gegenüber den Rendsburgern heraus. In meinen Augen ließen sie sich nicht nur nicht aus der Ruhe bringen, es schien ihnen auch gut gefallen zu haben, was der nicht enden wollende Applaus bewies. Insgesamt eine schön aufgemischte Atmosphäre, möchte ich sagen, um bei den Worten des Rezensenten zu bleiben.
Tim Tusche
Mich hat diese Inszenierung fatal an die Bautzener "Lulu" erinnert;
auch empfand ich den Beifall eher so wie Herr Munk ihn beschreibt:ja, er war langanhaltend, aber noch mehr war er deutlich verhalten: Munks "freundlich" trifft es.
Herr Weigel vergleicht zurecht (denke ich) Söderberg und Schnitzler. Es ist schon zweifelhaft, diese Stoffe auf "Emanzipationsstücke" zu reduzieren; noch schwerer ist es aber, bei all den schigolchenden und geschwitzigen Abziehfiguren um Gertrud herum, ernsthaft eine (zeitgemäße) Emanzipationsgeschichte plus X herauslesen zu wollen. Was wäre gewonnen, wenn Hofreiter Genia im "Weiten Land" vergewaltigen würde?? Wohl schwerlich etwas. Aber in Rendsburg passiert dergleichen und verliert sich in Handlungssplittern (wie Munk es formuliert), ähnlich ist es, wenn Gertrud ihren Mann fragen muß, was in der Oper läuft, und wenn Gabriela Gertrud mit dem Leitsatz zu bedrängen sucht, an den in der Vorlage gerade Gertrud Gabriel Lidmann erinnern muß: als an den Spaltungsakt der (Liebes-) Einheit. Wo also in der Vorlage gerade Gertrud geradlinig, offenen Wortes, gezielt, umschweiflos agiert, da wird sie in Rendsburg zu einem desorientierten Nervenbündel, einem "Lulu"-Spielball..