Der Nazi-Patzer

5. September 2023. Wie umgehen mit Verfehlungen der Jugend? Der Fall um Hubert Aiwanger und das mit ihm in Verbindung gebrachte rechtsradikale wie menschenverachtende Flugblatt zeigt auch: Im Westen und im Osten Deutschlands gelten dabei offenbar unterschiedliche Standards. Zeit, dass sich das ändert.

Von Esther Slevogt

5. September 2023. Es gibt Helden, die im jugendlichen Alter schlimme Fehler machen, mit denen man aber trotzdem mitfiebert, diese Fehler mögen ihr weiteres Leben nicht übermäßig überschatten. Mike Ross ist so ein Held, Protagonist der amerikanischen Anwaltsserie "Suits". Überdurchschnittlich begabt und ein Überflieger, vermasselte er sich College-Abschluss und Jura-Studium in Harvard durch einen gedankenlosen Betrug. Trotzdem landet er in einer New Yorker Spitzenkanzlei und wird ihr auffälligstes Nachwuchstalent. Die Bedrohung, dass der Schwindel auffliegt, wird von Staffel zu Staffel drängender.

Weniger fiebert man dieser Tage mit Hubert Aiwanger mit, der als rechtslastiger Gymnasiast mit einem KZ- und Genickschuss-verherrlichenden Flugblatt im Schuljahr 1987/88 in Verbindung gebracht wird, das angeblich sein älterer Bruder verfasste. Im Kontext eines Schulwettbewerbs "Deutsche Geschichte" warb das Flugblatt für einen Wettbewerb, der den größten Vaterlandsverräter auszeichnen wollte. Die ausgeschriebenen Preise sind so abstoßend, dass ich hier gar nicht weiter darauf eingehen will. Wer Genaueres wissen will, soll bitte googeln.

Von Nazi-Gedankengut durchzogen

Die ganze Sache kam, wie diversen Berichten zu entnehmen war, offenbar nach Aiwangers Erdinger Rede ins Rollen, als er im Juni der "schweigenden Mehrheit" zurief, sie solle sich die Demokratie in diesem Land zurückholen. Zeitzeugen von Aiwangers schulischem Wirken fühlten sich davon offenbar gedrängt, darauf hinzuweisen, wes Geistes Kind dieser Mann womöglich ist. Und was für eine Erhebung eventuell drohen könnte, sollte sich die schweigende Mehrheit tatsächlich im Sinne Aiwangers in Bewegung setzen.

Bei der Gelegenheit möchte ich auch einmal sagen, dass es sich aus meiner Sicht nicht nur um ein "antisemitisches" Flugblatt handelt. Vielmehr ist es ein durch und durch von Nazi-Gedankengut durchzogenes Pamphlet. Seine menschenverachtenden Inhalte auf Antisemitismus zu beschränken ist eine Verharmlosung. Denn das Naziproblem haben nicht nur Juden. Alle haben es.

Kein Fegefeuer der Erkenntnis

Und so war ich die ganze Zeit hin- und hergerissen: Darf, ja muss man diese Verwicklungen als Verirrung eines Sechzehnjährigen lesen? Ist hier so etwas wie ein Recht auf Vergebung angezeigt? Die Läuterung des Helden, nach dem er durch ein Fegefeuer der Erkenntnis ging, ist schließlich Grundlage jeder Coming-of-Age-Geschichte – formerly known as Bildungsroman. Leider ließ Hubert Aiwangers Verhalten nicht darauf schließen, dass er einen solchen Läuterungsprozess erfolgreich durchlaufen hat.

Noch eine andere Frage geht mir nicht aus dem Kopf: Wie würde wohl die Sache diskutiert, wenn der hypothetische wie unwahrscheinliche Fall eingetreten wäre, dass die SZ statt Aiwangers jugendlicher Nazi-Verirrungen im August veröffentlicht hätte, dass er mit sechzehn Jahren zur Stasi kam! Etwa im Aiwanger-Flugblatt-Alter war beispielsweise nämlich der Berliner Sozialwissenschaftler und parteilose Politiker Andrej Holm, als er wenige Wochen vor dem Mauerfall zur Stasi kam. Deswegen musste er 2017 in Berlin als Staatssekretär zurücktreten.

West-östliche Inkongruenzen

An einer Tätigkeit für die Stasi ist natürlich wenig zu beschönigen. Aber auch hier gilt die Frage, wie schwer jugendliche Fehler auf Leben gerechnet wiegen sollen und wo das Recht jedes Einzelnen auf Irrtum und Verzeihen beginnt. Was das betrifft aber gilt in diesem Land für junge Nazis anscheinend ein anderes Maß. Wer will, kann daran nicht nur ungute historische Kontinuitäten, sondern auch gut die Inkongruenzen ablesen, die zwischen Ost und West im Jahr 34 nach dem Fall der Mauer noch immer bestehen.

Im Fall Holm sollte man vielleicht auch wissen, dass sein Urgroßvater Johannes Holm (den er noch kennengelernt hat) als Kommunist just einen solchen KZ-Aufenthalt überlebte, wie es ihn im Preisausschreiben der Aiwanger-Brothers zu gewinnen gab. Hinzu kommt, dass die Brüder Aiwanger in dem Teil Deutschlands aufgewachsen sind, der immer so stolz auf seine freiheitlich demokratische Grundordnung ist – weshalb als ziemlich wahrscheinlich angenommen werden kann, dass die Brüder vollkommen freiwillig und aus eigenen Stücken zu ihren Haltungen gelangten. Andrej Holm dagegen wuchs in der autoritär strukturierten DDR auf, die ihre Kritiker stets mit guten Gründen eine Diktatur nennen. Die Stasi hatte Holm als künftigen Mitarbeiter bereits gecastet, als er vierzehn Jahre alt war und seitdem nicht mehr vom Haken gelassen. Für den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk wäre Holm damit nicht nur Täter, sondern auch ein Opfer des SED-Regimes, "denn wer mit 13, 14 zu solchen weitreichenden Entscheidungen genötigt wird, ist ein Opfer der Umstände: des Staates und der Eltern."

Zweierlei Maß

Während bis heute jede Person mit DDR-Sozialisation sofort diskreditiert ist, die in irgendeiner Weise mit der Stasi in Verbindung gebracht werden kann – vollkommen egal, wie alt sie war und was für Umstände dafür verantwortlich sind –, gelten unerträgliche Nazi-Haltungen, wie sie Aiwanger nach allem, was man bisher weiß, im gleichen Alter zumindest mittrug (aber wohl auch öffentlich vertrat), offenbar vielen als die lässlichere Verfehlung. Mit welchem öffentlichen Druck ein ostdeutscher Ministerpräsident zu rechnen gehabt hätte, wenn bei seinem Stellvertreter ein jugendlicher Nazi-Patzer wie im Fall von Aiwanger herausgekommen wäre, ist noch einmal eine andere Geschichte.

"Kaum einer von uns ist heute noch so, wie er mit 16 war", hat Markus Söder gesagt und aus diesem Grund eine Entlassung Aiwangers aus dem Amt für "nicht verhältnismäßig" erklärt. Gilt das nur für Westdeutsche? Die Schatten der Verwerfungen der deutschen Geschichte sind lang. Aber es muss bei ihrer Vermessung das gleiche Maß angelegt werden.

 

Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben

Esther Slevogt

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Geschichtsrevisionismus
Liebe Frau Slevogt,

Sie vermessen mit unterschiedlichen Maßeinheiten und tragen damit leider zur momentan allgemein gängigen Verharmlosung des DDR-Unrechtsstaates bei. Bisher hat nach meiner Kenntnis noch niemand seinen Job verloren, weil er als Schüler oder auch später die DDR-Ideologie auf irgendwelchen Flugblättern verbreitet hat, sondern ausschließlich Menschen, die aktiv in den verbrecherischen Organisationen dieses Staates mitgearbeitet haben, wie es die Stasi nun einmal war. Welche besonderen Umstände zu bewerten sind, von denen Sie schreiben - und die eine Mitarbeit in dieser Organisation rechtfertigen sollten, erscheint mir vollkommen unklar. Aiwanger, dieser auch aus meiner Sicht illegitim rechts fischende, etwas dümmliche Klischee-Bayer, hat in keiner Organisation des NS-Staates mitgearbeitet, er war weder bei der Gestapo, noch in der SS, auch nicht in der Wehrmacht (was aufgrund seines Alters ja auch kaum möglich ist). Es ist viel mehr umgekehrt so, dass eben dieser Text zeigt, wie offen im Jahr 2023 DDR-Unrecht relativiert werden darf, ohne den Job, die Reputation oder auch nur das Ansehen zu verlieren. Im Gegenteil, für diese Form des Geschichtsrevisionismus hält die öffentliche Meinung erstaunlich viel Zuspruch bereit. Es bleibt abzuwarten wie wir in vierzig Jahren auf diese Epoche des, "so schlimm war es ja nicht", blicken werden, die an die NS-Verharmlosung im Westdeutschland der 50er und frühen 60er Jahre erinnert...
Kolumne Slevogt: Nichts gewonnen
Liebe Esther Slevogt,
warum nur dieser hinkende Stasi-Vergleich? Ob der das DDR-Unrecht relativiert, sei dabei mal dahingestellt. Aber er bringt nichts zur Sache. Es rückt die DDR nur wieder in die Nähe des NS-Staats. Ergebnis ist, dass nun nicht mehr über Aiwangers Vergangenheit geredet wird, sondern über die DDR als Unrechtsstaat. Damit haben wir nichts gewonnen außer Empörung über diesen Vergleich. Aiwanger wird aus dieser Affäre mit seinen Freien Wählern leider gestärkt hervorgehen. Unterstützt von einem um seine Macht fürchtenden Bayrischen Ministerpräsidenten Söder. Eigentlich können die sich bei Süddeutschen Zeitung noch bedanken für die Wahlkampfhilfe. Wenn Aiwanger früher gestoppt worden wäre und gleich zu Beginn seiner Populisten-Karriere über sein Nazi-Pamphlet (bei dem er damals schon glimpflich wegkam) gestolpert wäre, würde Söder vor viel größeren Problemen stehen. Die Frage ist für mich, warum fällt das seinen früheren Schulkameraden jetzt erst ein, aus welchem Holz der Aiwanger geschnitzt ist. Mit Erinnerungslücken hat man in Bayern wohl ein allgemeines Problem. So kann er sich weiter als Märtyrer und Opfer einer Presse-Kampagne präsentieren. Und das fällt in Bayern wie überall in Deutschland (und nicht mehr nur im Osten) auf fruchtbaren Boden. Darüber sollte man Kolumnen schreiben.
Kolumne Slevogt: Strauß-Plakette
@1 und @2: Dass in diesen Dingen mit zweierlei Maß gemessen wurde und wird, wie Esther Slevogt schreibt, wollen Sie doch nicht ernsthaft bestreiten. Ich erinnere nur an Christine Schanderl, die 1980 als 18-Jährige von einem Regensburger Gymnasium Regensburg flog, weil sie mit einer „Stoppt Strauß“-Plakette in die Schule gegangen war.
Kolumne Slevogt: Markenkern
Hmm, auch eine interessante Thematik und Debatte, und doch stelle ich mir wieder (bzw. erneuere ich analog zu: https://nachtkritik.de/kolumnen-georg-kasch/kolumne-queer-royal-symbolpolitik-realitaet) die Frage, wie weit nk reichen will und soll. Hier im Text geht es nicht mehr im Ansatz um Theater oder Bühnenkunst oder Literatur oder Kunst, sondern um was anderes.

Ja, also natürlich ist Theater nicht im luftleeren Raum; aber ob der medialen Präsenz von Repräsentationsfragen (und auch der theatralen) wundert mich doch, wie weit nk sein Portfolio spannt. Finde das nicht gut, wenn ich über den Markenkern und die Spendenaufrufe (für: "alles, was uns noch bewegt"?) nachdenke. Also mindestens eine textliche Anbindung ans Theater wäre doch eine Brücke. Hmmm.
Kolumne Slevogt: Passt das?
zu #4: Ich bin hier ganz bei Zisch. Nachtkritik ist ein Theaterportal. Hatte mich kürzlich auch bei den Fotos von den Klimaprotesten gefragt, ob das hier hin passt. Da war die Verbindung, dass ein Theaterfotograf die gemacht hatte, nun ja… das waren tolle Bilder, aber warum zeigt man dann nicht auf nk erstmal Fotos aus Theatern, von Proben usw., wenn man einen Theaterfotografen an der Hand hat?
Bei allen drei Themen - Aiwanger, queere Proteste (darauf verweist Zisch), Klima-Proteste - handelt es sich übrigens auch um Themen, bei denen es so richtig schön plakativ ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Ich stehe auch auf dieser richtigen Seite, bilde ich mir ein, aber ich verstehe schon auch, wenn manchen unsere Theater-Bubble etwas politisch einseitig vorkommt. Aber vielleicht werde ich bald durch eine nk-Kolumne überrascht, in der die hohe Steuerlast in Deutschland beklagt wird oder gegen das sog. Heizungsgesetz gewettert wird…
Kolumne Slevogt: Merkwürdige Debatte
Was für eine merkwürdige Debatte! Theater findet doch nicht im luftleeren Raum statt sondern auf dem Boden einer Gesellschaft und ihrer Debatten. Nicht selten finden diese Debatten Eingang ins Theater. Warum sich Theaterkritikerinnen und Kulturjournalisten auf einer Theaterseite nicht zu gesellschaftspolitischen Fragen äußern können sollen, leuchtet mir absolut nicht ein.
Das ist doch total begrüßenswert, daß hier nicht im ästhetisch abgeschotteten Niemandsland einer Bubble gedacht und geschrieben wird! Großes Kopfschütteln also über die Beiträge von Hanz Zisch und Fil-ette.
Kolumne Slevogt: Zusatzlabel wäre hilfreich
@6: Richtig, wie ich in #4 schrieb, ist da kein luftleerer Raum. Da stimmen Sie mir zu.

Mein Vorschlag zur Güte: Zusatzlabel "In diesem Text geht es nicht um Theater" wäre hilfreich.

Mir geht es ja nicht darum, zensorisch zu denken, sondern erwartungsgerecht zu kommunizieren. Wenn ich nk aufrufe und in den Artikel gehe, ist schon meine innere Sehnsucht nach etwas Theatralem. Wenn ich dann den Text gelesen habe, der so auch in jedem x-beliebigen Allgemeinmedium zu finden gewesen wäre, verspüre ich Ratlosigkeit. Denn letztlich hat Theater mit allem zu tun und damit alles mit Theater. Dann aber müssten wir hier viel mehr "In diesem Text geht es nicht um Theater"-Texte haben. - Wenn wir dann aber nur zwei, drei ausgewählte Seleciones dazu vorfinden, dann fällt das umso mehr auf. Und dann kommt man in die Problematik rein, die #5 anreißt.
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