Das Vermächtnis des Schiller-Killers

13. Juni 2023. Dreißig Jahre ist es her: Kurz bevor die Theater in die Sommerpause gingen, beschloss der Berliner Senat das Schillertheater dichtzumachen – von jetzt auf gleich. Die Entscheidung war ein Fanal – aber wofür eigentlich?

Von Esther Slevogt

13. Juni 2023. In diesen Tagen ist es dreißig Jahre her, dass sich im Gästehaus des Berliner Senats in der Menzelstraße 12 die Berliner Stadtregierung traf, um in einer großen Klausur über drastische Sparmaßnahmen für die Stadt zu beraten. Die in den 1920er Jahren erbaute Grunewald-Villa war 1964 vom damaligen Westberliner Regierenden Willy Brandt erworben worden und hatte so illustre Gäste wie Martin Luther King, Robert Kennedy oder den Dalai Lama für die Dauer ihrer (West)berlin-Besuche beherbergt. Vor allem wurde sie in der Frontstadt des Kalten Krieges für vertrauliche Verhandlungen oder für Klausurtagungen des Senats genutzt. An diesem 22. Juni 1993, einem hochsommerlichen Dienstag kurz vor der Sommerpause, versammelten sich am großen Tisch des mit expressionistischen Gemälden ausgestatteten Esszimmers die Senator*innen der großen Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, unter ihnen Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) und der parteilose Kultursenator Ulrich Roloff-Momin. 

Mitternächtlicher Schließungsbeschluss

Beraten wurde über die enorme finanzielle Schieflage, in die die Stadt nach der Vereinigung ihrer beiden Hälften nach 1990 geraten war. Allein der Kulturetat war von 500 Millionen für Westberlin auf circa 1,2 Milliarden angewachsen – eine Finanzlast, die die Stadt damals alleine zu tragen hatte. Noch hieß die Hauptstadt der um die einstige DDR erweiterten Bundesrepublik Bonn, Regelungen zur Finanzierung einer repräsentativen Berliner Hauptstadtkultur existierten nicht. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hatte angekündigt, ihr Engagement für 1994 im Kulturbereich auf Null herunterzufahren. Dabei gab es in der Berliner Kulturlandschaft durch die Teilung viele Kultureinrichtungen in mehrfacher Ausführung, darunter drei Opern und sehr viele Theater. 

Weil die Kultur auf der Tagesordnung wie stets weit hinten stand, war es fast Mitternacht, als es hier ans Eingemachte ging. Obwohl Kultursenator Roloff-Momin bereits der Schließung der Staatlichen Kunsthalle in der Budapester Straße zugestimmt hatte, war das Sparziel noch nicht erreicht. Und so traf gegen Mitternacht den Kultursenator der strenge Blick des Finanzsenators: "Herr Roloff, wir müssen das Schiller-Theater schließen." So schildert es Roloff-Momin in seinen Erinnerungen. Das (mit jährlich über 40 Millionen Mark damals das am höchsten subventionierte Theater der Bundesrepublik war) Charlottenburger Schiller-Theater bildete im Verbund mit dem Steglitzer Schloßparktheater und der Schiller-Theater-Werkstadt die Staatlichen Schauspielbühnen – lange das kulturelle Aushängeschild der Frontstadt. Doch der Glanz war längst dahin, das Haus künstlerisch heruntergekommen.

Morddrohungen für den Kultursenator

Trotzdem debattierte die Runde noch bis in den frühen Morgen über Schließungsalternativen. Der damalige Bundessenator wollte lieber das Maxim Gorki Theater schließen, andere plädierten für die Volksbühne, die gerade unter ihrem neuen jungen Intendanten Frank Castorf für Gesprächsstoff sorgte. Als bereits der Morgen des 23. Juni graute, stand fest: Das Schiller Theater würde geschlossen – und zwar schon mit Beginn der Theaterferien am 5. Juli 1993.

"So heimtückisch und hinterrücks schließt nicht mal ein Erzkapitalist seine unrentabel gewordene Keksfabrik!", schrieb Michael Merschmeier in der Zeitschrift "Theater heute" (der 1991 Teil der Gutachterkommission um Ivan Nagel war, die einen Masterplan für die Neuordnung der Berliner Landschaft entwickelt hatte, wo das Schiller-Theater schon nicht sehr gut weggekommen war). "Ein Mordfall" titelte der Berliner Tagesspiegel. Roloff-Momin erhielt Morddrohungen und galt fortan als der Schiller-Killer, als Herr Moloch-Ruin, obwohl er in der gleichen langen Nacht fünf Millionen Mark mehr für Castorfs Volksbühne (von denen der Choreograf Johan Kresnik und seine Compagnie engagiert werden konnte) und zwei zusätzliche Millionen für das Deutsche Theater ausgehandelt hatte. Und dieser Beschluss erst einmal den Fortbestand der Berliner Bühnen von acht Staatstheatern und 21 Privattheatern, darunter die Schaubühne am Lehniner Platz absicherte, die ebenfalls auf der Abschussliste der Politik stand.

Sommersolidaritätsprogramm mit schwarzer Theater-Verhüllung

Als Roloff-Momin am Tag nach dem Beschluss auf einer Betriebsversammlung im Schiller-Theater bei der Belegschaft um Verständnis warb, wurde er beschimpft, niedergeschrien und schließlich im Dunkeln auf der leeren Bühne sitzen gelassen. Nachdem Roloff-Momin der Aufforderung des Intendanten Volkmar Clauß, das Haus zu verlassen, nicht nachgekommen war, hatte die versammelte Belegschaft, unter ihnen der 88jährige Schauspieler Bernhard Minetti, den Saal verlassen und am Ende das Licht ausgemacht. Das Todesurteil für das Theater wurde dann noch für wenige Wochen aufgeschoben. Es gab ein Sommersolidaritätsprogramm. Am Ende verhüllte eine riesige schwarze Plane das Haus an der Bismarckstraße. Am symbolträchtigen 3. Oktober 1993 wurde es endgültig geschlossen.

Die Schließung des Schiller Theaters war ein Fanal. Aber wofür eigentlich? Für den Bedeutungsverlust des Theaters im Deutschland nach 1989? Für ein System, das an seine Grenzen gekommen war? Zum Zeitpunkt der Schließung hatte das Theater 86 festangestellte künstlerische Mitarbeiter*innen. Manche Schauspieler bekamen an 13 Monaten im Jahr fünfstellige Gagen, obwohl sie kaum noch eingesetzt wurden. Jedenfalls befremdete manche Reaktion auf die Schließung bereits die Zeitgenossen. Ein prominenter Regisseur verglich die Entscheidung zur Theaterschließung mit den rassistischen Brandanschlägen von Rostock, Mölln und Solingen. "Wer Theater schließt, zündet auch Häuser an", legte ein Berliner Theaterintendant noch eins drauf.

Frank Castorf: "Fettzone von Wohlstand"

Musste man nicht auch sagen, dass hier eine selbstreferenzielle Blase implodierte und im Fall des Schiller Theater auch die Blindheit der Szene für die Verhältnisse in der Welt, für die sie angeblich Theater machte, kenntlich wurde? Dass sich das Theater dringend ändern müsste, wollte es zukunftsfähig bleiben. Künstlerisch war das Schiller Theater schon lange im Niedergang begriffen. Es stand – mit wenigen Ausnahmen – spätestens seit den 1980er Jahren für ein behäbiges, künstlerisch wenig interessantes Theater mit ungeheuer aufgeblähtem Apparat.

"Viele, die heute Theater machen, sind etwas herzlos geworden, weil sie in einer Fettzone von Wohlstand, Geld und Überbewertung leben", kommentierte in einem Interview in der Wochenzeitung "Der Freitag" damals Frank Castorf die Ereignisse. "Wenn gespart werden muss, stellt sich die Frage: Welche gesellschaftlichen Schichten darf man von der Not, die in Deutschland immer noch eine sehr reiche ist, ausnehmen?" Das Ende des Schiller Theater vergleicht Castorf in diesem Interview mit dem Ende der DDR. "Das war auch eine Situation, in der man die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollte. Dem deutschen Theater kann man etwas ähnliches bescheinigen. Das Bildungsbürgertum ist ein sich selbst reflektierender, stinkender Sumpf, der keinen offenen Zufluß mehr hat."

So kann man vielleicht sagen, dass die Schließung des Schiller Theaters, dessen Eröffnung 1951 mit Schillers "Wilhelm Tell" man auch als die Wiedergeburt eines Nazitheaters aus dem Geist des Kalten Krieges bezeichnen könnte, am Ende auch ein heilsamer Weckruf war.

Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben

Esther Slevogt

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Keine Subvention
An dieser Stelle nur nochmal der Hinweis: Anders als beispielsweise die Freie Szene durch staatliche Förderungen oder der Buchmarkt durch die gesenkte Mehrwertsteuer werden staatliche, auch kommunale Kultureinrichtungen nicht "subventioniert". Der Staat kann sich (ein bisschen verkürzt gesagt) nicht selbst subventionieren, egal ob er eine Schule, einen Kindergarten, eine Feuerwehr oder eben ein Theater betreibt. Kulturjournalist*innen sollten das eigentlich wissen ...
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