Kolumne: Queer Royal - Über Draglesungen und Kindeswohl
Liebe, Stärke, Mitgefühl
16. Mai 2023. Dragqueens sind die schillerndsten Vertreter:innen der queeren Kultur – und eine Projektionsfläche für alle, denen die gesamte Community gegen den Strich geht. Nun haben mehrere bayerische Politiker gegen eine Drag-Lesung für Kinder protestiert. Hätten sie vorher mal ChatGPT gefragt!
Von Georg Kasch
16. Mai 2023. Dragqueens sind die vermutlich theatralste Verkörperung queeren Lebens. Kunstfiguren aus Makeup, Perücken und wildem Fummel, deren Gesten bigger than life sind, Diven zwischen Hollywood und Gosse. RuPaul hat ihnen mit seiner "Drag Race"-Show den Weg Richtung Mainstream geebnet. Oft sind sie – trotz aller bitchiness, trotz flamboyanter Drag-Namen und sexueller Anspielungen – Botschafterinnen von Liebe, Stärke, Mitgefühl.
Was das Leben bereithält
Als solche gehen Dragqueens mitunter auch in Bibliotheken, um Kindern vorzulesen. Warum? Weil Kinder vorurteilslos sind – und jeden Rückenwind aus Respekt, Interesse und Zuneigung brauchen, den sie kriegen können. Dragqueens taugen als Vorbilder, weil sie Kindern zeigen, dass es verschiedene Ausdrucksformen von Geschlecht und Identität gibt und es wichtig ist, Menschen unabhängig von ihrem Aussehen oder ihrer Geschlechtsidentität zu respektieren.
Deshalb hat die Münchner Stadtbibliothek Lesungen mit Dragqueens und Dragkings im Programm. "Im Vordergrund stehen Themen wie Rollenwechsel und Verkleidung, die Kinder in diesem Alter sehr beschäftigen", erklärt die Stadtbibliothek. Konkret: Am 13. Juni lesen Dragqueen Vicky Voyage, Dragking Eric BigClit und trans Autorin Julana Gleisenberg in einer "Draglesung für Kinder" ab vier Jahren in der Stadtbibliothek Bogenhausen. Sie sollen Kinder mitnehmen "in farbenfrohe Welten, die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für euch bereithält und dass wir alles tun können, wenn wir an unseren Träumen festhalten!"
Ein Fall fürs Jugendamt?
Nun ist allerdings Wahlkampf in Bayern. Der hat CSU-Politiker:innen (darunter Andreas Scheuer) bis nach Florida geführt, wo Gouverneur Ron DeSantis einen heiligen Krieg gegen queeres Leben führt: Eltern von trans Kindern soll das Sorgerecht entzogen werden, Veranstaltungen mit Dragqueens verboten werden können. Schon jetzt ist es nicht mehr erlaubt, an Schulen über queeres Leben zu sprechen. Sogar mit dem Disney-Konzern liegt DeSantis im Clinch, weil der ihm zu "woke" geworden ist.
Ob die Delegation sich hat inspirieren lassen? Jedenfalls spricht CSU-Generalsekretär Martin Huber nun von "woker Frühsexualisierung", der stellvertretende CSU-Fraktionsvorsitzende im Stadtrat Hans Theiss erfindet eine geplante "Sexualkunde durch Drag Queens" und die CSU-Fraktion im Bezirksausschuss München-Bogenhausen kündigt einen Antrag an, um das Event zu stoppen. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger (Bayerns stellvertretender Ministerpräsident) wittert "Kindswohlgefährdung" und einen "Fall fürs Jugendamt", die AfD-Fraktion im Landtag "Frühsexualisierung". Selbst Münchens SPD-Oberbürgermeister Reiter distanzierte sich: "Ich habe für diese Art Programm kein Verständnis und glaube nicht, dass das für Vierjährige geeignet ist", sagte er einer Zeitung. "Ich würde mit meinen Enkeln nicht hingehen." Mittlerweile ist er wieder zurückgerudert.
Frage ans Orakel der Jetztzeit
Statt um die halbe Welt zu reisen, um sich Inspiration zu holen, hätten die CSU-Leute auch einfach ChatGPT fragen können. Denn das Orakel der Jetztzeit, das zusammen mit anderen KI-Anwendungen gerade unsere Art zu denken, zu arbeiten und, ja, auch zu schreiben revolutioniert, antwortet auf die Frage, ob Dragqueens einen schlechten Einfluss auf Kinder haben können, zum Beispiel bei Buchlesungen: "Es gibt keine Beweise dafür, dass die bloße Anwesenheit von Dragqueens einen negativen Einfluss auf Kinder hat. Es ist wichtig zu bedenken, dass Drag-Performances eine künstlerische Darstellung sind und in einem spezifischen Kontext stattfinden. Dragqueens verstehen in der Regel, dass sie in einer Umgebung für Kinder auftreten und passen ihre Darbietungen entsprechend an." Besser hätte ich's auch nicht sagen können.
Kolumne: Queer Royal
Georg Kasch
Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr Kolumnen
neueste kommentare >
-
Kleiner Mann, was nun?, Berlin Theatrale Wohltat
-
Therese-Giehse-Preis Glückwunsch
-
Kassler GF freigestellt Unverständnis
-
Therese-Giehse-Preis Unabhängig
-
Kassler GF freigestellt Obelix
-
Appell Fonds DaKü Dank!
-
Therese-Giehse-Preis 2024 nochmal gefragt
-
Therese-Giehse-Preis 2024 In der Nominierungs-Jury?
-
Blue Skies, Hamburg Theater und Wirklichkeit
-
Empusion, Lausitz Zweisprachige Ortsschilder
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Damit lässt man die Kinder erst Recht im Stich der Dummheit und Schwachheit.
Jeder 4. Viertklässler kann nicht lesen - da wird er sich auch als Erwachsener nicht mit den wirklich wichtigen Themen auseinandersetzen können.
Mir scheint, 4-Jährigen ein hochwertiges Kulturangebot in Form von vielfältigen Lesungen in Bibliotheken zu machen, ist das Gebot der Stunde!
ich kann Ihre spontane Reaktion in der Hitze des Weltgefechts gut nachvollziehen, muss einem Teil Ihres Gedankengangs aber fortsetzen und ihm im gleichen Atemzug widersprechen.
Ja: Sie haben Recht. Demokratien weltweit sind gefährdet. Und dies zeigt sich im Speziellen, weltweit, was die Rechte von LGBTIQ-Menschen angeht. Gehen Sie in die USA, speziell nach Florida, gehen Sie nach Ungarn, gehen Sie nach Polen, gehen Sie nach Russland, gehen Sie nach Italien, gehen Sie in die Türkei.....ich könnte diese unvollständige Liste fortsetzen. In all diesen Ländern waren die Rechte der oben genannten Gruppe noch vor Jahren wesentlich besser gestellt.
Der Paragraph 175 wurde in Deutschland erst vor 29 Jahren gänzlich abgeschafft. Erst am 22. März 2017 beschloss das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Urteile, die aufgrund des § 175 StGB gefällt wurden, und zur Entschädigung der noch lebenden Verurteilten. In Florida, wohin kürzlich einige CSU-Politiker, reisten, werden solche Lesungen von Drag-Personen verboten. Und so wandern De Santis-Gedanken nach Bayern.
Ich will nicht noch mehr Beispiele anführen, da Sie wahrscheinlich bereits verstanden haben, worauf ich hinaus möchte.
Nur am Rande möchte ich erwähnen, dass es in Polen stolz verkündete schwulenfreie Zonen gibt und das Schwule in Polen um ihr Leben bangen müssen.
D.h. in vielen Ländern zeigt sich durch die veränderte und rechteeinschränkende Haltung und Aggressivität gegenüber LGBTIQ-Personen der Abbau von demokratischen Verhältnissen.
Daher bin ich Herrn Kasch für seinen Artikel dankbar.
Er ist erwachsen und viele andere Menschen, die sich ähnliche Gedanken zu diesem Thema machen auch.
Wir müssen nicht erwachsen werden.
Wir sind es.
Mit freundlichen Grüßen und ebenfalls besorgt,
Ihr Bialik
Die Erwartung, EINE Lesung könne ALLE Probleme lösen, ist unsinnig
Aber: Autor:innenlesungen sind EIN Baustein von vielen in der Literaturvermittlung, der sowohl vor als auch nach einer "grundlegenden und sinnvollen" Reformation des Schulwesens eine wichtige Rolle spielt, um Neugier auf das Lesen zu wecken.