Arme Seelen in Not

12. Dezember 2023. Es ist Advent und überall werden Weihnachtsmärchen gespielt. Wunderbar! Einige von ihnen weisen queere Spuren auf, die die Norm stören – und manchmal auch stabilisieren: als Hexen, Feen, Merjungfrauen. Und die Kinder?

Von Georg Kasch

12. Dezember 2023. Draußen ist es kalt und dunkel, da tröstet auf den Theater-, Ballett- und Opernbühnen die Gewissheit, dass am Ende alles gut wird. Landauf landab werden gerade Weihnachtsmärchen gespielt. Manche von ihnen besitzen durchaus queere Motive. Und das nicht erst seit der Erfindung des Regietheaters. In Pjotr Iljitsch Tschaikowskis "Dornröschen"-Ballett wird die böse Fee Carabosse traditionell mit einem männlichen Tänzer besetzt. Auch meine erste Knusperhexe in Engelbert Humperdincks Märchenoper "Hänsel und Gretel" war – gar nicht unüblich – ein Tenor. Schon beim allerersten Krippenspiel, an das ich mich erinnere, spielte ein Mädchen Herodes, und als der König einen Wutanfall hatte, funkelten seine (ihre) Ohrringe im Licht der vielen Kerzen. Das wollte ich auch!

Wenn der Spiegel den Dienst quittiert

Aber klar, heute geht im Weihnachtsmärchen viel mehr als Drag. Es liegt im Wesen der Märchen, das alles möglich ist. An ihren Rändern lauern seit jeher Grauen, Brutalität, Uneindeutigkeit – zuweilen als Angstlust, die sich im glücklichen Ende auflöst, zuweilen als kaum fassbare Strafen, bei denen Rache über Maß und Recht siegt (man denke nur an die glühenden Schuhe bei dem Grimms und die vernagelten Tonnen bei Charles Perrault). In der Verführung durch sinistre Gestalten, in den Halb- und Fabelwesen aber steckt auch eine große queere Kraft, weil sie die Norm stören, die Ordnung, die in den meisten Märchen am Ende wieder hergestellt wird.

Das greifen heute etliche Inszenierungen auf. 2022 in Zürich etwa "Es war keinmal oder: Das Märchen von der Normalität" von Henrike Iglesias und Theater HORA, in dem der Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter den Dienst quittiert, weil die Märchenfiguren nur noch verlogene Komplimente von ihm hören wollen. Der Abend seziert mit männlichen Königinnen und weiblichen Rittern Schönheitsnormen und -druck. Am Ende kommt der Spiegel zurück – und die Figuren üben sich in Selbstannahme.

Coming-out-Märchen

Hexen und Feen sind ja überhaupt ziemlich queere Wesen. Abgründig. Geheimnisvoll. Zuweilen auch geschlechtlich uneindeutig. Das Aussehen der Meerhexe Ursula in "Arielle, die Meerjungfrau" war von Dragqueen Devine inspiriert (in John-Waters-Filmen zwischen "Pink Flamingos" und "Hairspray" im Dauereinsatz). Wundert es, dass Ursula mit ihrer Reibeisenstimme und ihrer großen, divaesken Verführungsarie "Die arme Seelen in Not" (hier in der deutschen Synchronfassung, hier in einer englischen Drag-Version) der mit Abstand interessanteste Charakter des Films ist? Bastian Kraft hatte das in ugly duckling am Deutschen Theater Berlin aufgegriffen, als er die beiden Coming-out-Märchen von Hans Christian Andersen miteinander kombinierte, "Die kleine Meerjungfrau" und "Das hässliche Entlein" – da singt Regine Zimmermann den Ursula-Song, während Dragqueen Judy LaDivina in einem herrlich absurden Tentakelfinger-Kostüm synchron die Lippen dazu bewegt.

Man muss diese Andersen-Märchen natürlich nicht als queere Selbstverständigungsgeschichten lesen. Und doch liegt es nahe, die Menschen- als die Normwelt zu verstehen, an die sich die queeren Figuren anpassen müssen – und in der Selbstverleugnung und der Ablehnung durch die Anderen scheitern. Zumal diese Lesart mit der Biografie des Autors korrespondiert, wie Jan Dvorak und Philipp Stölzl in Andersens Erzählungen zeigen. Der Abend kam in Basel heraus und läuft jetzt am Münchner Residenztheater. Andersen liebt Edvard, Sohn seiner Gönnerfamilie. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so, und das Magische an diesem durchaus mit Kitschrand versehenden Crossoverspektakel ist, wie sehr sich hier reale und Märchenwelten überschneiden: So ist die Meerjungfrau als uneindeutiges Zwitterwesen präsent, unten Fischschwanz, oben Andersen-Lookalike, dazu die Stimme eines Countertenors. Am Ende steht eine Vernunftehe aus Konvention und ein Außenseiter, der sich in die Kunst rettet, in die Fiktion.

Und die Kinder?

Übrigens gibt’s auch in "Aschenputtel" queere Spuren, und das gar nicht so sehr, weil auch hier (analog zur bösen "Dornröschen"-Fee) die Stiefmutter ein wahrer Drag-Charakter ist. Sondern wegen der "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel"-Verfilmung, die ja weit über das (von Charles Perrault und den Grimms beeinflusste) Märchen Božena Němcovás hinausgeht und es heute selbst auf die Theaterbühnen schafft, in Meiningen und Wolfsburg zum Beispiel. Denn in ihrer zweiten Begegnung trifft Aschenbrödel als "junger Jägersmann" auf den Prinzen, den sie mit ihrer Treffsicherheit, aber eben auch durch ihren rauen Charme verwirrt, und der ähnlich irritiert reagiert wie Orsino in "Was ihr wollt" auf Cesario/Viola.

Heute hat Queerness ja mitunter das Potential, Teil einer neuen Ordnung zu sein, wie bei Nicolas Stemann, der 2021 in König der Frösche die Prinzessin mit zwei Vätern aufwachsen ließ, König Karl und König Kurt, dafür aber die Märchen-Logik (eine Prinzessin braucht einen Prinzen!) auf den Kopf stellt. Auch das verkraften Märchen wunderbar, wie unzählige Adaptionen, Nach- und Weiterdichtungen beweisen: Ähnlich den Krimis sind auch sie ein Abbild der Zeit, in ihrem Schrecken, in ihren Beziehungsmustern, in ihrem Witz.

Und die Kinder?, höre ich rufen. Keine Sorge! Viel faszinierender als die Tatsache, dass die Knusperhexe ein Mann war, fand ich mit 8, dass (und wie) sie durch die Luft flog. Und dass (zu meiner großen Enttäuschung) Hänsel und Gretel nur so taten, als äßen sie vom Pfefferkuchenhaus. Wirklich verstört wäre ich gewesen, wenn es kein Happy End gegeben hätte. Gönnen wir es den Kindern. Dass die Welt so nicht funktioniert, kriegen sie noch früh genug mit.

Kolumne: Queer Royal

Georg Kasch

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

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