Kolumne: Straßentheater - Janis El-Bira folgt den Spuren des (Aus-)Verkaufs
Geschichte als Beute
von Janis El-Bira
22. September 2020. Man soll ja nicht gleich mit Shakespeare kommen, aber dieser Satz ist natürlich zu schön: Dass die ganze Welt eine Bühne sei und alle Menschen bloße Spieler. Also fängt man doch mit Shakespeare an. Lieber jedenfalls als mit einem Wortungetüm wie "Inszenierungsgesellschaft", obwohl diese Kolumne der Theoriebildung rund um Theatralität und Performativität immer mal wieder die Stichworte verdanken wird. Aber eigentlich will ich mich bloß umschauen, tatsächlich oder virtuell, und mich mit Ihnen, liebe Leser*innen, einigen Orten und Situationen aussetzen, die starke Behauptungen vor sich hertragen. Denn aus Behauptungen ist das Theater schließlich gezimmert. Aus der Behauptung zum Beispiel, ein*e Andere*r zu sein oder ganz man selbst, weit weg oder im Hier und Jetzt, alles neu zu machen oder einer Tradition dienen zu wollen. Die Lagerkämpfe, die entlang dieser Behauptungen regelmäßig aufwallen (etwa rund um den Begriff der Authentizität), interessieren mich weniger.
Ein Meisterwerk durchinszenierter Orts- und Geschichtsaneignung
Spannend finde ich Behauptungen hingegen überall dort, wo sie mit einigem Inszenierungswillen daherkommen, ihre äußere Gestaltung also eine stabilisierende Funktion für das hat, was sie uns weismachen wollen. Und ich finde es spannend, wenn all das gerade nicht dort stattfindet, wo wir Inszeniertes erwarten, also im Theater oder überhaupt in den darstellenden Künsten, sondern wenn die alten Tricks des Theaters ihr Zuhause verlassen und andernorts siedeln: In der Architektur, an öffentlichen Orten, Denkmälern, Verkaufsflächen oder Restaurants, sogar im Internet. Überall dort also, wo wir nicht allein einer bestimmten, man könnte sagen: punktuellen Wirkung ausgesetzt sind (das wäre bloße Bildbetrachtung), sondern wo Zeit und Timing, Bewegungen oder etwa „inszenierten“ Wechseln von Stimmungen eine gewisse Rolle zuzukommen scheint. Kurz: Es geht um Orte, die spielen und solche, an denen gespielt wird. Nur Theater sollen sie nicht sein.
Ein solcher Ort liegt zum Beispiel in Berlins Mitte. Er beschäftigt mich, weil ich täglich daran vorbeilaufe. Es ist ein spezieller Ort, weil er noch gar nicht fertig, sondern "Projekt" ist und zugleich schon ewig an dieser Stelle existiert. In seiner aktuellen Zwischengestalt als Riesenbaustelle ist er seltsam unbesungen. Seltsam deshalb, weil die Aufregung um seine Zukunft und Nutzung einst gewaltig war. Seltsam aber auch, weil sich an ihm ein Meisterwerk durchinszenierter Orts- und Geschichtsaneignung nachvollziehen lässt, das unter den gegenwärtigen privaten Berliner Architekturprojekten meines Erachtens seinesgleichen sucht.
Mit Bühnenportal und Schnürboden
Die Rede ist von jenem Gebäude an der Oranienburger Straße, das bis vor einigen Jahren als "Kunsthaus Tacheles" überregional bekannt war. Hier, auf den Ruinen eines historisch sehr unterschiedlich genutzten Gebäudekomplexes (das Haus war einst ein prächtiger Kauftempel, später Showroom der AEG, NSDAP-Dienststelle und zuletzt Sitz des DDR-Gewerkschaftsbunds), hatte sich kurz nach der Wende eine Künstlerinitiative angesiedelt. Noch bis Ende des ersten 2000er-Jahrzehnts konnte man hier im legendären Café Zapata schwitzig feiern und in den Ateliers in den oberen Etagen aus hässlichem Draht gewickelte Kunst erstehen. Im Sommer habe ich im Innenhof des weitläufigen Komplexes manchmal schlechte Mojitos getrunken und Ratten so groß wie kleine Hunde tummelten sich um die Füße. Auch ein Theater gab es und noch lange nach der Zwangsräumung im September 2012 grüßte dessen letzte Werbetafel neben dem wie aus dem Stummfilm "Metropolis" aufragenden Hauptportal der Ruine: Heiner Müller, "Anatomie Titus Fall of Rome".
Seit einigen Jahren wird hier nun, nach dem Verkauf des gesamten Geländes, wieder gebaut. Ein hoher dreistelliger Millionenbetrag werde investiert, liest man, um die ursprünglich Friedrichstraße und Oranienburger Straße verbindende Passage als luxuriöse Einkaufs-, Wohn- und Bürowelt unter dem Namen "Am Tacheles" neu zu entwerfen. Die Renderings auf der in hipstem Marketing-Vokabular jubilierenden Website versprechen auf Seiten der Friedrichstraße ein gewaltiges neues Bühnenportal (samt angedeutetem Schnürboden!), das künftig Einlass zu dieser Welt gewähren soll. Dahinter richtet sich der Blick zwar momentan noch auf einen Wald aus Gerüsten, der seichte Schwung, mit dem die Passage nach der Eröffnung in Richtung Oranienburger Straße abbiegen soll, zeigt aber bereits Ansätze ihrer dramatisch bewegten Wirkung. Man kann kaum sagen, dass das nicht beeindruckend wäre.
Shoppen und Ficken
Staunen macht zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht die schiere Monumentalität der Baustelle, sondern die atemberaubende Zielstrebigkeit, mit der dieses Projekt seine eigene Daseinsberechtigung inszeniert. Das zeigt sich schon am Namen, der das „a“ in "Tacheles" nunmehr auf den Kopf stellt: Vergangenheitskult with a twist. Und von Vergangenheit ist "Am Tacheles" geradezu besessen: Quelle "ungezügelter, kreativer Kraft" sei das ehemalige Künstlerhaus 20 Jahre lang gewesen, liest man. Nun solle hier wieder ein "Ort für die Kultur entstehen", indem zum Beispiel die Dependance eines schwedischen Fotomuseums einziehe. Der Rekurs auf das "ungezügelte, kreative" Berlin von einst ist wahrscheinlich das größte Pfund, mit dem Investoren in der Hauptstadt heute wuchern können, denn in der neoliberalen Logik ist kaum etwas reizvoller als die Verheißung, zwar reich, aber nicht langweilig zu sein.
"Am Tacheles" beherrscht diese Rhetorik in Perfektion. Einsamer Höhepunkt ist dabei ein irremachender, 14-minütiger Image-Film. Schon sein Trailer auf der Website ist ein sagenhaftes Machwerk, in dem man den Schauspieler Thomas Kretschmann sieht, wie er an den Mauern des alten "Tacheles" kratzt, DDR-Denken gegen Individualismus setzt, sich von Tauben anfliegen lässt und durch blinde Fenster ins Sonnenlicht blinzelt. Man sieht Tänzer*innen einer gewiss "ungezügelten" Party, irgendwann auch zwei nackte Leiber im Bett. "Shoppen & Ficken" wäre, gäbe es ihn nicht schon, ein treffenderer Titel. "How long is now?", fragt der Schauspieler am Ende – ein Verweis auf das berühmte Graffiti, das lange die Brandmauer im Osten des Areals schmückte, und nun nicht mehr zu sehen ist. Wüsste man es nicht besser, man könnte fast schlechtes Gewissen vermuten. Und "Schuld", schreibt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann einmal, ist schließlich "die dramatische Zeitdimension schlechthin". Weil uns das Vergangene keine Ruhe lässt, "eine Rechnung offengeblieben ist, die Ansprüche an Gegenwart und Zukunft stellt". Im Theater ist das die Stunde der Geister.
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Straßentheater" schreibt er über Inszeniertes jenseits der darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
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(Voilà: https://vimeo.com/460069605, jetzt auch verlinkt, danke für den HInweis - sd/Redaktion)