Kolumne Als ob: Michael Wolf bedauert das Verschwinden von Genres im Theater
Oops, ein Dialog!
von Michael Wolf
20. Oktober 2020. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Merkur beschreibt der Kunsthistoriker Jan von Brevern, wie die Gattungen verschwanden. Bis ins 19. Jahrhundert bildeten sie die alles entscheidenden Kategorien in der Bildenden Kunst, sie bestimmten Technik und Format ebenso wie den sozialen Verwendungszusammenhang und das Prestige der Werke.
Wichtiges poetologisches Mittel
Inzwischen wurde der Gattungsbegriff von dem des Genres abgelöst. Dieser ist in Film, Literatur oder Musik weiterhin äußerst virulent, spielt aber in der Kunst keine Rolle mehr. Zwar gebe es noch Sparten oder Stile, allerdings nähmen diese Begriffe eher deskriptive Funktionen ein. Sie erleichtern eine Beschreibung von Werken, die, derart losgelöst von Konventionen, immer schwieriger erscheint, was man an hilflosen Begleittexten von Kuratoren ebenso erkennt wie daran, dass man Entscheidungen über gute oder schlechte Kunst leichthin dem Markt überlässt.
Die meisten Kunsthistoriker beurteilen die Ablösung von den Konventionen dennoch als Emanzipationsgeschichte, als Heimkehr der Kunst zu sich selbst. Von Brevern sieht die Entwicklung skeptisch, gehe mit den Gattungen doch ein wichtiges poetologisches Mittel verloren, das anderweitig sehr produktiv wirke. Und tatsächlich ziehen Werke in anderen Medien ihre Attraktion gerade aus der Verhandlung mit Genres. Regisseure wie Lars von Trier oder Jim Jarmusch drehen Horrorfilme, Umberto Eco oder Thomas Pynchon schrieben Kriminalromane, der Rapper Jay Z beginnt sein Konzert mit einem Cover des Songs Wonderwall von Oasis – um nur wenige Beispiel zu nennen.
Ob nun Ibsen, Molière oder Büchner
Ist ein Genre erst einmal etabliert, bieten sich mannigfaltige Möglichkeiten, das Publikum zu überraschen, indem man die Konventionen bricht oder unversehens in ein anderes Fach wechselt. Wer heute hingegen eine Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst besuche, dürfte überhaupt keine konkreten Erwartungen haben, schreibt von Brevern bedauernd.
Ich glaube, die Analyse lässt sich auch auf das Theater anwenden. Auch hier sind die Gattungen im Schwinden begriffen. Lediglich der Boulevard hält noch streng an Genre-Konventionen fest. Je – vermeintlich – anspruchsvoller oder prestigeträchtiger die Bühnen sich geben, umso freier verfährt man mit den Stücken und den ihnen inhärenten Ansprüchen. Es geht mir nicht um so etwas wie Werktreue, also um ein – ohnehin vergebliches – Bemühen, einem Schiller oder Aischylos zu seinem Recht zu verhelfen. Sondern um das bedauerliche Desinteresse an spezifischen Anforderungen theatraler Genres und den Erwartungen, die ein Publikum an sie stellt. Ganz banal ausgedrückt: Ob die Aufführung einer Komödie lustig sein wird, kann der heutige Theaterzuschauer keineswegs voraussetzen.
Denn in der Regie haben sie wenig Interesse an Genres. Vor allem unter den etablierten Regisseuren gibt es viele, die ihre Inszenierungen immer gleich aussehen und klingen lassen, unabhängig davon, ob nun Ibsen, Molière oder Büchner auf dem Programmzettel steht. Ein anderer Regie-Typ missversteht eine dramatische Form als Behältnis und findet seine Aufgabe darin, diese mit Inhalten aus Tagesschau oder Twitter zu füllen.
Lob der Überraschung
Nicht wesentlich besser sieht es bei der Dramatik aus, die ohnehin viel lieber "Szenisches Schreiben" betreibt. Womöglich hat die Machtfülle der Regie sie in den Elfenbeinturm verdrängt, jedenfalls scheint es, als dächten viele Autoren das Theaterstück ganz neu erfinden zu müssen. Eine Szene, in der zwei Figuren einen Dialog führen, gilt in manchen Kreisen schon als Zugeständnis an den Mainstream.
Ein verkümmertes Verständnis künstlerischer Freiheit zeigt sich hier. Fortschrittlicher wäre es, diese Freiheit nicht als Wahl unter allen Möglichkeiten zu verstehen, sondern eben als Möglichkeit frei aus einer Reihe von Regelwerken zu wählen. Also her mit der Klipp-Klapp-Komödie, dem Schwank, dem Lehrstück, der Tragödie oder auch dem Kitchen Sink Drama! Und zwar ausdrücklich nicht, um britische Verhältnisse einzuführen, also jeden Abend eine brav vorhersehbare Aufführung auf den Spielplan zu setzen. Im Gegenteil ginge es darum, der Überraschung, dem Unerwarteten einen Grund zu bereiten. Es ginge darum, Regeln erst mal ernst zu nehmen, auf dass man sie endlich wieder brechen kann.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Zuletzt schrieb Michael Wolf über die Möglichkeiten des Politischen in der Kunst.
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Zur aktuellen Kolumne:
Goethe:
"In der Begrenzung zeigt sich erst der Meister,
und das Gesetz nur macht uns frei."
Mir scheint das noch immer zu stimmen. Und die Freiheit besteht dann eben doch darin, dass ich als Regisseur oder Theaterleitung oder im besten Falle als Ensemble den Theatertext (Drama) auswähle, mit dem ich meine, ein mir dringendes Anliegen zum Vergnügen der Zuschauer auf die Bühne bringen zu können. Und man kann einem Schiller oder Aischylos "zu seinem Recht verhelfen", wenn man die vom Autor vorgesehene Geschichte mit den Mitteln des Theaters (ich lasse das Adjektiv "heutigen" beiseite, denn das versteht sich) zu erzählen versuche und dabei möglichst den Schreibanlaß nicht beiseite lasse.
Ich weiß nicht, warum eine durch Genre-Bezeichnung mobilisierte Erwartungshaltung des Zuschauers bestätigt werden muss. Die Erwartung kann doch sein, überrascht zu werden, denn manche Tragödie (bei älteren Stücken ist die Gattungsbezeichnung durch andere Lebenserfahrungen geprägt) erweist sich beim "Machen" (also inszenieren oder zuschauen) als "Komödie", wobei Komödie doch durchaus nicht "lustig" sein muss; das Boulevardstück hingegen sollte komische Wirkungen haben.
Ich bin sehr dafür, "Regeln erst mal ernst zu nehmen". Und um Theater zur Wirkung zu bringen, gibt es viele erprobte Regeln. Manchmal weiß ich nicht, wenn ich im Theater sitze, ob diese Regeln noch bekannt sind.
Wir leben freilich in einer Welt, wo die eigenen Gedanken und die anderer schnell in Schubladen abgelegt werden, und wehe dem, der in keine Schublade passen will, er landet schnell auf dem Schafott. Aber eine Gattungs- oder Genre-Bezeichnung ist keine Schublade sondern die Benennung einer Struktur. Und der Verlust von Form ist ein Verlust an Lebensqualität. Und wenn ein Regisseur die Form eines Dramas "benutzt" (besser: den Titel nur missbraucht), so hat er auch den Inhalt UND die
Form zerstört, meist entsteht dann anspruchsvolles Gemache, wo man besser
wegbleibt.
(Übrigens verstehe ich nicht, warum in der Kolumne einleitend ein Unterschied zwischen "Film, Literatur oder Musik" einerseits und "Kunst" andererseits gemacht wird.)
Bösartige Vermutung: Das alles entsteht nur, weil die Leitenden meinen, sie müssten etwas machen, was dem Publikum (wer ist das und woher hat es seine Erwartungen?) gefällt, damit es kommt und zahlt und die Sache sich rechnet.
Sehr geehrter Herr Michael Wolf!
Dank für Ihre Kolumne. Ich lese Ihre Kolumnen immer gern, denn sie sind anregend.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Danke also, dass hier mal wer Dramatik-Regelwerk zum Aufbrechen einfordert statt Textflächen zum beliebigen Auffächern.
Zeit der Unschuld(Historien Film), King of Comedy(Komödie), New York New York(Musical), Aviator(Biopic), Hugo Cabaret(Kinderfilm), Wie ein wilder Stier(Sportfilm), Die letzte Versuchung Christi(Bibelepos) usw..