Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Über den allgemeinen Theaterzwang
Der richtige Hebel
24. Mai 2022. Wenn die Häuser leer bleiben, wer anders kann daran schuld sein als die Zuschauer:innen selbst? Unser Kolumnist findet, in Sachen Publikumsschwund müsse konsequenterweise nun der Staat eingreifen – und fordert die Einführung einer Theaterpflicht für alle.
Von Wolfgang Behrens
24. Mai 2022. Es ist nicht ausgemacht, ob die Frage ratlos oder vorwurfsvoll gemeint ist. In großen Lettern jedenfalls prangen auf dem aktuellen Titel der Zeitschrift "Die Deutsche Bühne" die Worte: "Wo seid ihr?" Die richtige Antwort (die "Weg!" gelautet hätte) steht dann allerdings nicht mehr da, stattdessen erläutert der Untertitel den Inhalt des Schwerpunkts der Ausgabe: "Wie die Theater um ihr Publikum kämpfen". Auch auf nachtkritik.de ist dieses Thema längst angekommen, sogar schon in der Kolumnen-Rubrik, in der Janis El-Bira vor zwei Wochen über den Publikumsschwund nachdachte.
Mut zur Wahrheit
Seltsamerweise jedoch setzen nach meinem Dafürhalten bislang sämtliche Überlegungen am falschen Hebel an. Denn ständig wird die Schuld (oder zumindest eine erkleckliche Mitschuld) an der Misere bei den Theatern gesucht. Das ist natürlich Quatsch. Denn wenn die Häuser leer bleiben, wer anders kann daran schuld sein als das Publikum selbst? Die Theater spielen ja und produzieren wie nichts Gutes. An ihnen liegt es also nicht. Man muss einfach mal den Mut haben, es klar auszusprechen: Wenn niemand in den Theatersälen zu finden ist, dann liegt das schlicht und ergreifend an den Zuschauerinnen und Zuschauern, die ausbleiben. Schande über sie!
Spätestens die Corona-Pandemie freilich hat uns gelehrt, dass – wie ein ungenannt bleiben wollender Schriftsteller einmal trefflich bemerkte – das Rettende auch dort wächst, wo Gefahr ist. Und das Rettende ist: der Staat. So wie sich gezeigt hat, dass in Gesundheitskrisen auf die Eigenverantwortung der Menschen nicht zu bauen ist, so ist auch in einer Theaterkrise mit einem mündigen Publikum nicht zu rechnen. Daher sollte der Staat nun mit größerer Konsequenz noch als in Sachen Corona vorgehen (wo er es versäumte, eine allgemeine Impfpflicht herbeizuführen) und eine allgemeine Theaterpflicht verhängen. Gibt es nicht auch aus gutem Grund eine allgemein akzeptierte Schulpflicht? Würde man diese abschaffen, gingen kaum eine Schülerin und wohl auch kein Schüler freiwillig zur Schule. Da sich nun herausstellt, dass sich Theaterzuschauer:innen ähnlich destruktiv wie Schüler:innen verhalten, liegt es doch nahe, den Theaterzwang einzuführen.
Entlastung und Zentralisierung
Wenn jeder Mensch ins Theater muss, wird es den Theatern gleich viel besser gehen. Und damit meine ich nicht nur die Auslastung, die dadurch vollumfänglich gesichert wäre. Man könnte bei einer allgemeinen Theaterpflicht auch die Betriebe verkleinern: Marketingabteilungen beispielsweise brauchte man gar nicht mehr, und vermutlich könnte man auch die Verwaltungen entlasten und wichtige Vorgänge in zentralen Behörden organisieren. Eintrittsentgelte müssten nicht mehr erhoben werden, nach Vorbild des Rundfunkbeitrags würde automatisch ein Theaterbeitrag eingezogen. Mitarbeiter:innen aus Theaterverwaltungen, die durch eine solche Strukturveränderung arbeitslos zu werden drohen, könnten in die neu entstehende Theaterbeitrageinzugszentrale (ThBEZ) versetzt werden.
Der Zwang muss her, sonst stehen die Häuser leer!
Freilich kämen auf Bund und Länder bei Einführung der Theaterpflicht nicht zu unterschätzende logistische Aufgaben zu: Wer muss wann und wie oft in welches Theater gehen? Ist die Theaterpflicht des oder der Einzelnen schon abgegolten, wenn man ein Musical oder ein Ballett gesehen hat, oder müssen zwangsläufig auch Oper und Schauspiel dabei sein? Ist umgekehrt der Staat in die Pflicht zu nehmen, wenn ein Zwangszuschauer kein Opernhaus in seiner Nähe hat? Wenn man die letzte Frage bejaht, könnte das sogar eine neue Blüte zur Folge haben: In ländlichen, bevölkerungsarmen Gebieten würden neue Musiktheaterbühnen entstehen. Auch die konkrete Besetzung der Theater müsste durchdacht werden: Wo sitzen die Kurzsichtigen, wo die Weitsichtigen? Welche Gruppen wären vom Theaterzwang auszunehmen (Rentner:innen etwa, die womöglich freiwillig kommen würden)? Da sehr viele Probleme zu lösen wären, müsste sicher ein Allgemeines Theaterpflichtdurchführungsgesetz (AThPfDuG) erarbeitet werden.
Doch das alles sollte uns nicht abhalten. Die Parole der nächsten Monate und Jahre muss lauten: Der Theaterzwang muss her, sonst stehen uns die Häuser leer! Die Politik ist in der Pflicht. Es gilt, keine Zeit zu verlieren, denn die Lage ist ernst. Das immerhin haben ja auch schon "Die Deutsche Bühne" und nachtkritik.de erkannt.
Offenlegung: Dieser Text verdankt sich einer unverhohlenen Anlehnung (um nicht von einem Plagiat zu sprechen) an den Text "Das Theater muß sich ändern" von Karl Valentin, veröffentlicht 1938 an obskurem Orte, nämlich in der von Baldur von Schirach herausgegebenen Zeitschrift "Wille und Macht". Valentins Text lässt sich hier vollständig einsehen.
In seiner letzten Kolumne widmete sich Wolfgang Behrens dem moralischen Urteil in Zeiten des Krieges.
Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war
Wolfgang Behrens
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, war von 2017 bis 2024 am Staatstheater Wiesbaden tätig – zunächst als Dramaturg, dann als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
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